Der Mord an Benno Ohnesorg offenbarte den Charakter der Bonner Demokratie

Fahrlässige Hinrichtung

Von Klaus Stein

Am 2. Juni 1967, vor 50 Jahren, wurde der Student Benno Ohnesorg vom Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras erschossen, regelrecht hingerichtet. Das ereignete sich im Zuge der polizeilichen Auflösung einer Demonstration gegen das mörderische Regime des Schah Reza Pahlavi.

Im Frühjahr 1967 beehrte der Schah von Persien im Zuge einer Rundreise durch Europa die Bundesrepublik Deutschland mit einem neuntägigen Staatsbesuch. Er landet am Samstag, 27. Mai, in Köln/Bonn, begleitet von Farah Diba, Liebling der Regenbogenpresse. Neun Tage reiht sich Empfang an Empfang. Schloss Augustusburg in Brühl auf der repräsentativen Balthasar-Neumann-Treppe: Fototermin mit Bundespräsident Lübke. 30 000 Polizisten sind zum Schutz des Autokraten aufgeboten. Ganze Straßenzüge, Stadtviertel und Autobahnen werden gesperrt, damit seine Hoheit hochrangige Politiker, Konzernherren und den Bundeskanzler Kiesinger ungefährdet zu Gesprächen treffen kann. In Bayern müssen die hier lebenden iranischen Studenten den Freistaat verlassen und sich täglich bei der Polizei melden.

„Ordnung durch Folter“

1953 hatte der Schah mit Hilfe der CIA die Macht im Iran übernommen und die Ölindustrie privatisiert. Sein Geheimdienst SAVAK verbreitet Angst und Schrecken, Widerstand wird brutal unterdrückt, die Opposition in die Emigration gezwungen. In der BRD informiert Bahran Nirumand über die Verhältnisse und füllt Säle, vorwiegend Hörsäle. Sein rororo-Bändchen: „Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der Freien Welt“, im März erschienen, erreicht schon im Juni eine Auflage von 30 000. „Unter dem Vorwand der Förderung eines zurückgebliebenen Landes wird dieses Land ausgebeutet“ (S. 135). „Ordnung durch Folter“ (S. 127).

Die demokratische Öffentlichkeit der alten Bundesrepublik merkt auf. Es mehrt sich die Unruhe im Lande. Die Nachkriegskonjunktur ist erlahmt, die Bundesrepublik erlebt ihre erste ökonomische Krise. Gegenüber dem Vorjahr rutscht die Industrieproduktion um 6 Prozent ab; ein Viertel der Produktionskapazitäten ist nicht mehr ausgelastet. Hart trifft es den Ruhrbergbau. 10 000 Menschen demonstrieren am 20. Mai in Oberhausen gegen die Stilllegung der Zeche Concordia. Im Januar 1967 sind eine Million Menschen arbeitslos (offiziell 578 400). Im Herbst zuvor waren es noch 100 000. Die große Koalition beherzigt die Lehren Keynes‘ und legt Konjunkturprogramme auf. Es wird die „Konzertierte Aktion“ erfunden: Staat, Wissenschaft, Unternehmer und Gewerkschaften stimmen konjunkturpolitische Maßnahmen ab – einerseits. Andererseits wird an einer Notstandsgesetzgebung gebastelt. Sie ruft Proteste hervor.

Ebenso wie der Putsch in Griechenland. Mit Unterstützung der NATO hatten am 21. April die Militärs in Griechenland die Macht übernommen, Demokraten inhaftiert, die Demokratie abgeschafft.

Abends Zauberflöte

Die Protestwelle gegen die US-amerikanischen Bomben auf Nordvietnam wächst. Zunächst brav und mit Schlips, demonstrieren am 5. Februar 1966 in Berlin 2 500 Studenten. Fünf Eier landen auf dem Amerika-Haus und führen zu hysterischen Reaktionen bei Presse und Politik. Noch höhere Wellen schlagen der Vietnamkongress am 22. Mai 1966 mit 5 000 Teilnehmern und die Vietnamdemonstrationen am 11. Februar und am 7. Mai 1967 in Frankfurt. Die Aktionen der außerparlamentarischen Opposition, abgekürzt APO, beginnen Zeitungsseiten und Bildschirme zu füllen, vorneweg der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der SDS, Stiefkind der SPD, seit 1961 verstoßen. Das ist verbunden mit antikommunistischer Hetze, besonders laut in der Springer-Presse. An den Schahbesuch aber knüpfen deutsche Konzerne und Banken die Hoffnung auf neue Märkte.

Freitag, 2. Juni 1967, Berlin. Mittags Besuch im Schöneberger Rathaus, Sitz des Senats. Die Polizei sieht zu, als protestierende Studentinnen und Studenten von iranischen Geheimagenten, „Jubelperser“ genannt, zusammengeknüppelt werden. Abends großer Bahnhof in der Oper. Zauberflöte. Gegen die Demonstration sind schon monatelang Gegenmaßnahmen geplant. Polizeipräsident Duen­sing, vormals Generalstabsoffizier der Wehrmacht, ist stolz auf seine „Leberwursttaktik“. Die sieht eine Einkesselung vor. Sodann stößt die Polizei mit Schlagstöcken und berittenen Kräften in die Menge, um sie auseinander und vor die Wasserwerfer zu treiben. Zwischendrin tummeln sich Zivilbeamte, darunter Karl-Heinz Kurras. Ohne Warnung beginnt die Räumung. Die Polizei prügelt zunächst mit Schlagstöcken auf Einzelne ein, dann auf ganze Gruppen – auch am Boden Sitzende –, löst Panik aus, viele werden verletzt. Polizeitrupps in Uniform und Zivil verfolgen flüchtende Demonstranten bis in Nebenstraßen und Hauseingänge hinein. Sie schlagen rücksichtslos und verhaften. Einige Studenten sind in den Innenhof des Hauses Krumme Straße 66/67 geflüchtet. Kurras und etwa zehn uniformierte Beamte folgen ihnen. Benno Ohnesorg kommt dazu. Er beobachtet die Prügelei. Als er den Hof verlassen will, ist er selbst dran. Drei Beamte halten ihn im Polizeigriff und schlagen. Kurras tritt schnellen Schritts dazu und schießt Ohnesorg in den Hinterkopf.

Verlässliche Kumpanei

Es gibt mehrere Augenzeugen. Sie sehen aus kurzer Distanz das Mündungsfeuer in etwa 150 cm Höhe. Sie hören den Schuss. Sehen Ohnesorg zu Boden fallen.

„Er starb auf breiten Straßen mit Dreck

Sein Blut, sein Blut wusch den Dreck nicht weg

Er wollt‘ ihn auch gar nicht wegwaschen

Er hatte die Hände in den Taschen

Solang bis die Polizei kam

Und als er die Hand aus der Tasche nahm

Da tat es so mancher andre Student

Der seitdem so vieles besser kennt!“

Aus „Wie starb Benno Ohnesorg?“, Oktoberklub

Notwehr war das nicht. Fotos zeigen: Sekunden vor und nach seiner Aktion ist Kurras völlig unbedrängt. Auf einer Tonbandaufnahme der Szene ist deutlich der Schuss und danach der Befehl zu hören: „Kurras, gleich nach hinten! Los! Schnell weg!“

Benno Ohnesorg stirbt. Der Student der Romanistik und Germanistik ist 26 Jahre alt geworden. 1940 in Hannover geboren, machte er zunächst eine Lehre als Schaufensterdekorateur, holte 1963 das Abitur nach, bewarb sich an der Kunstakademie in West-Berlin. Er wollte Kunsterzieher werden, wurde aber abgelehnt. Er war Teilnehmer beim Deutschlandtreffen der Jugend in Berlin/DDR, an Friedenspolitik interessiert, Mitglied der evangelischen Studentengemeinde, des Diskussonsclubs Argument und Leser des linken „Extra-Dienst“. Seit einigen Wochen verheiratet. Das Paar erwartete ein Kind.

Karl-Heinz Kurras, Jahrgang 1927, kam 1944 als Freiwilliger an die Front, wurde bald verwundet. 1947 verurteilte ihn die sowjetische Besatzungsmacht wegen Waffenbesitzes zu 10 Jahren Straflager und hielt ihn bis 1950 fest. Danach trat er in den Westberliner Polizeidienst ein. 1959 Kriminalobermeister. 1967 beim Staatsschutz.

Der Beamte kann entgegen der damaligen Strafprozessordnung in der Nacht Ohnesorgs Leiche besichtigen. Bei der Obduktion am folgenden Vormittag stellt der Arzt fest: Die tödliche Kugel befindet sich noch im Hirn, aber das Schädelstück mit dem Einschussloch ist herausgesägt und die Haut darüber zugenäht. Das Schädelstück bleibt verschwunden.

Kurras wird angeklagt („Fahrlässige Tötung“), aber am 21. November 1967 freigesprochen, auch im nächsten Verfahren. Tatsächlich kann er sich auf seine Kollegen und die Justiz verlassen. Im Vorfeld verschwinden belastende Aussagen; aus angeblichem Zeitmangel wird das Tonband eines Reporters vor Gericht nicht angehört. Er wird nie verurteilt.

Unter den Festgenommenen des 2. Juni ist Fritz Teufel. Anklage: Steinwurf auf einen Polizisten. Die Untersuchungshaft dauert 148 Tage. Erst am 1. Dezember wird er aus der Haft entlassen. Das Gericht muss ihn am 22. Dezember freisprechen. Die FU-Verwaltung hatte ihn mittlerweile exmatrikuliert, seinen Widerspruch – er habe in den Tagen der Untersuchungshaft weder studieren noch sich zurückmelden können – bescheidet sie ablehnend, weil die Inhaftierung kein hinreichender Grund für die Nichterfüllung seiner studentischen Pflichten sei.

Am 8. Juni geben 12 000 Studenten Benno Ohnesorg das letzte Geleit. Am gleichen Tag debattiert das Berliner Abgeordnetenhaus gegen die „radikale Minderheit“. Das Studium sei zum Studieren, nicht zum Randalieren da.

„Wer mich angreift wird vernichtet“

Dennoch lösen die Vorgänge einige politische Erschütterungen aus. Dem Berliner Innensenator Wolfgang Bösch werden im Bericht des Untersuchungsausschusses des Abgeordnetenhauses schwere Verfehlungen attestiert. Er tritt am 19. September zurück. Kurz danach wird Polizeipräsident Duensing, der Leberwursttaktiker, vorzeitig in Pension geschickt. Und am 26. September tritt Heinrich Albertz als Regierender Bürgermeister zurück.

40 Jahre später, am 8. Dezember 2007, wird Kurras 80 Jahre alt. Der Tod Ohnesorgs belastet ihn nicht. Im Gegenteil: Heutige Polizisten würden viel zu selten von der Schusswaffe Gebrauch machen. Er könne vielleicht einen Schlag abbekommen, aber keinen zweiten. „Dann ist der Junge aber vom Fenster. Fehler? Ich hätte hinhalten sollen, dass die Fetzen geflogen wären, nicht nur ein Mal; fünf, sechs Mal hätte ich hinhalten sollen. Wer mich angreift wird vernichtet. Aus. Feierabend. So iss das zu sehen.“

Aber war der Mann nicht bei der Stasi? Haben wir nicht Abbildungen seines SED-Parteibuchs gesehen?

Am 29. Mai 2009 geht es im Bundestag um einen Antrag der FDP. Sie drängt auf Enttarnung Inoffizieller Mitarbeiter des MfS in Bundesministerien, Bundesbehörden und im Bundestag (Bundestagsdrucksache 16/9803). Aber es zeichnet sich Ablehnung ab. Wolfgang Thierse spricht sich vehement gegen Untersuchungen ohne Anlass aus. Die „Unkultur der Verdächtigung“ solle „nicht weiter angeheizt“ werden. Tatsächlich kommt der Antrag nicht durch, obwohl er von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) unterstützt wird, mit dem Hinweis auf die neuen Erkenntnisse über die Stasi-Tätigkeit von Karl-Heinz Kurras.

Helmut Müller-Enbergs und Cornelia Jabs waren während ihrer Recherchen für die „Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen“ (BStU) unverhofft, aber pünktlich auf Akten gestoßen, die angeblich die Tätigkeit des Ohnesorg-Mörders für das MfS beweisen. Und hatten darüber wenige Tage vor der Bundestagsdebatte berichten können.

Aber im Zusammenhang mit der Veröffentlichung fing sich Müller-Enbergs eine Abmahnung ein. In der wird ihm vorgeworfen, er habe vor der Publikation des genannten Textes mit Vorsatz und in Täuschungsabsicht gegen die Veröffentlichungsrichtlinien der Behörde verstoßen. Der Vergleich des Arbeitsgerichts sah nun vor, dass Müller-Enbergs der Leitung der BStU künftig nicht nur seine Veröffentlichungen anzuzeigen, sondern auch über deren Brisanz ausdrücklich hinzuweisen habe (FAZ 11. November 2010). Es überrascht nicht, dass in der Behörde der BStU noch andere Gesichtspunkte für eine Veröffentlichung entscheiden als Wissenschaftlichkeit und Wahrheit. Aber es drängt sich die Frage auf, welche Geltung diese alternativen Gesichtspunkte bei der Veröffentlichung über Kurras‘ Engagement für Stasi und SED beanspruchten.

Es geht, wie Kinkel einst anwies, nicht nur um die Delegitimierung der DDR. Ebenso gerne hätte unsere herrschende Klasse das moralische Gewicht der 68er Proteste entsorgt. Stefan Aust in der FAZ („Der Schuss, der die Republik veränderte“): „Die Militanz der studentischen Protestbewegung, die später in Gewalt und Terror umschlug, nahm an diesem Tag ihren Ausgang. Der 2. Juni war ein Meilenstein auf dem Weg in den Terror.“ Aust sieht in der BStU-Enthüllung einen Wendepunkt historischer Betrachtung, „auch wenn bisher kein Hinweis darauf gefunden wurde, dass Kurras quasi im dienstlichen Auftrag der Stasi handelte“.

Jetzt fehlen nur noch die Anweisungen an die Springer-Presse, die prügelnden Polizeikollegen, die Richter, die Gesetzgeber, die griechischen Obristen, die NATO, den US-Präsidenten …

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"Fahrlässige Hinrichtung", UZ vom 2. Juni 2017



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