2020 wurde der 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges begangen. Die Fortschrittspartei des werktätigen Volkes Zyperns (AKEL) hat sich zu diesem Anlass an befreundete Parteien gewandt mit der Bitte, ihr Artikel zukommen zu lassen, die den Verlauf und die heutige Bewertung dieses Krieges aus marxistischer Sicht beleuchten. Die DKP ist diesem Ersuchen nachgekommen. Der nachfolgende Text wird im theoretischen Organ der AKEL veröffentlicht.
„Den russischen Kommunismus auf die gleiche moralische Ebene mit dem Nazifaschismus zu stellen, weil beide totalitär sind, ist bestenfalls oberflächlich, im schlimmsten Fall ist es Faschismus. Wer auf dieser Gleichheit besteht, kann kein Demokrat sein; in Wahrheit und in seinem Herzen ist er bereits Faschist und wird den Faschismus sicherlich mit Unaufrichtigkeit und zum Schein bekämpfen, aber mit völligem Hass nur den Kommunismus.“
Thomas Mann (Literaturnobelpreisträger, bürgerlicher Demokrat und Antifaschist)
Der Historiker Leo Schwarz merkte kürzlich an, Geschichte sei „eben vor allem eine Wissenschaft, die eine politische Nachfrage bedient.“Diese These erfährt die denkbar deutlichste Bestätigung durch die vom Europäischen Parlament verabschiedete Entschließung „Zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“. Dem hochtrabenden Titel zum Trotz demonstriert das besagte Dokument jedoch vielmehr geschichtliche Bewusstlosigkeit, die einen im Hinblick auf die Zukunft Europas nur mit großer Sorge erfüllen kann. Inhaltlicher Ausgangspunkt ist der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939. Nachdem in Erinnerung gerufen wurde, dass man bereits am 23. September 2008 den Jahrestag der Vertragsunterzeichnung als „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ proklamierte, wird die drastische Verurteilung des deutsch-sowjetischen Vertrages erneuert und mit der Behauptung unterlegt, auf diese Weise hätten die beiden Staaten „die Weichen für den Zweiten Weltkrieg“ gestellt. Man versteigt sich sogar zu der These, der Zweite Weltkrieg sei als „unmittelbare Folge“ des „Hitler-Stalin-Paktes“ ausgebrochen. Die Mitgliedsstaaten der EU werden aufgefordert, „eine eindeutige und auf Grundsätzen beruhende Beurteilung der Verbrechen und Akte von Aggression vorzunehmen, die von den totalitären kommunistischen Regimen und dem nationalsozialistischen Regime begangen wurden.“ Besonders wird eine entsprechende Gestaltung der Schulbücher in den Mitgliedsstaaten verlangt. Auch der Aufruf zum Bildersturm fehlt nicht, denn es gibt „noch immer Denkmäler und Gedenkstätten, die totalitäre Regime verherrlichen“. Dann folgt der Brückenschlag in die Gegenwart: Russland ist so lange kein demokratischer Staat, „wie die Regierung, die politische Elite und die politische Propaganda nicht nachlassen, die kommunistischen Verbrechen zu verharmlosen und das totalitäre Sowjetregime zu verherrlichen“. Es ergeht die Aufforderung an die russische Gesellschaft, „ihre tragische Vergangenheit aufzuarbeiten“. Die der russischen Führung unterstellten Geschichtsfälschungen werden bewertet als „gefährliche Komponente des Informationskriegs gegen das demokratische Europa, der auf die Spaltung des Kontinents abzielt“. Die Entschließung mahnt hier entschlossene Gegenwehr an. Es geht um nichts weniger als um „die Stärkung der Widerstandskraft Europas gegen die aktuellen Bedrohungen von außen.“
Womit haben wir es zu tun? Zunächst fällt der imperial-unverschämte Tonfall auf, in dem man glaubt, der Staatsführung der Russischen Föderation Anweisungen erteilen zu können hinsichtlich des Umgangs mit der eigenen Landesgeschichte. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag erfährt hier eine Behandlung, wie sie für bürgerliche Geschichtsschreibung, soweit sie den Realsozialismus Osteuropas berührt, typisch geworden ist. Das betreffende Ereignis wird aus dem Kontext herausgerissen und unter Ausblendung der Vorgeschichte und konkreten Umständen zu einer gegenwartspolitischen Waffe umgemünzt. Im hier behandelten Fall läuft dies darauf hinaus, den Faschismus im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts mit der sozialistischen Sowjetunion auf eine Stufe zu stellen. Beide Seiten werden als gleichermaßen aggressiv und verbrecherisch, in letzter Konsequenz als faktisch wesensverwandt beschrieben.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob diese Verwandtschaft im geschichtlichen Verlauf zu finden ist – oder ob nicht Nähen und Sympathien ganz anderer Art auf dem Weg zum Zweiten Weltkrieg sowie in seinem Verlauf eine Rolle gespielt haben.
Wer meint, im Jahre 1939 hätten Stalin und Hitler plötzlich ihre Liebe zueinander entdeckt und daraufhin ein Komplott zur Entfesselung eines Weltkrieges geschmiedet, dem ist zu empfehlen, sich die Entwicklung zwischenstaatlicher Beziehungen in Europa ab 1933 anzusehen. Die außenpolitische Perspektive der NSDAP war von Beginn an auf die Revision des Versailler Vertrages und damit auf Wiederherstellung und sogar Erweiterung der 1918 verloren gegangenen Weltmachtstellung ausgerichtet. Besonders stach die scharfe Betonung der vermeintlichen Notwendigkeit der Eroberung von „Lebensraum“ im Osten hervor.
Es ist die Frage zu stellen, ob der UdSSR eine vergleichbare außenpolitische Aggressivität attestiert werden kann. Zu Beginn der Dreißigerjahre schickte die UdSSR sich an, vermittels einer unter großen Opfern durchgeführten Industrialisierung ihre aus der langen Zeit des Zarenreiches geerbte Rückständigkeit hinter sich zu lassen. Die im Zeichen der Kollektivierung durchgeführte Umwälzung auf dem Lande führte in Teilen des Landes zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Der marxistische Philosoph Domenico Losurdo sprach in diesem Zusammenhang von einer „zweiten Revolution“. Dieser Gewaltmarsch aus der Unterentwicklung heraus fand ohne die Hilfe befreundeter Staaten statt, vielmehr in einem internationalen Umfeld, das der Sowjetmacht fast durchgängig feindlich gesonnen war. Kurz nach der Oktoberrevolution waren Truppen der westlichen „Demokratien“ in das bereits durch den Ersten Weltkrieg ausgeblutete Land eingefallen, um den konterrevolutionäre Terror der Weißen Garden gegen die Sowjetmacht zu unterstützen. Zu Beginn der Zwanzigerjahre war die Konterrevolution besiegt, aber zu einem entsetzlichen Preis. Inmitten von Tod und Zerstörung musste der Aufbau begonnen werden. Konnte ein Land nach den Erfahrungen von Weltkrieg, Bürgerkrieg und Interventionskrieg ein Interesse an neuen Waffengängen haben? Was wäre anderes zu erwarten gewesen als die Zerstörung des gerade unter größten Mühen Geschaffenen? Der bürgerliche deutsche Historiker Manfred Hildermeier, der eine umfangreiche Geschichte der UdSSR vorlegte, führt in dieser zur außenpolitischen Orientierung der Sowjetmacht aus: „(…) die Außenpolitik Stalins ging wie die Lenins davon aus, dass das Mutterland des Sozialismus von kapitalistischen Feinden umzingelt sei. (…) Die UdSSR tue am besten daran, sich aus den vermeintlich unausweichlichen kriegerischen Auseinandersetzungen im gegnerischen Lager herauszuhalten. (…), eines wollte er (Anm.: Stalin) nach ganz überwiegender Meinung nicht: einen Krieg anzetteln. So wird man davon ausgehen müssen, dass Stalin sein Land wirtschaftlich durch die forcierte Industrialisierung auch in die Lage zu versetzen suchte, den für unvermeidlich gehaltenen Endkampf gegen den Kapitalismus siegreich zu bestehen, und im Umfeld wachsender internationaler Spannung seit 1937 mehr und mehr Ressourcen in die Rüstung und den personellen Ausbau der Armee lenkte. Zugleich war er aber nach Kräften darum bemüht, diesen Ernstfall so lange wie möglich hinauszuschieben.“
Hildermeier als Historiker ohne prokommunistische Sympathien stellt also eine defensive Generallinie sowjetischer Außenpolitik fest – ein diametraler Gegensatz zur revanchistischen Ausrichtung deutscher Außenpolitik ab 1933.
Stalins bekannter Biograf Isaac Deutscher, der 1932 als Opponent der damaligen sowjetischen Führung aus der Kommunistischen Partei Polens ausgeschlossen wurde, attestiert dem von ihm sonst scharf angegriffenen Generalsekretär: „Aber, wie dem auch immer gewesen sein mag, man hat doch den gerechtfertigten Eindruck, dass Stalin in den Jahren 1935 bis 1937 und auch noch später ernsthaft und ehrlich eine Koalition gegen Hitler auf die Beine bringen wollte. (…) Sein ganzes Bemühen richtete sich jetzt darauf, die Westmächte zu überzeugen, dass sie feste Verpflichtungen eingehen müssen, oder sie zumindest in eine Lage hineinzumanövrieren, in der sie solchen Verpflichtungen nicht mehr aus dem Wege gehen konnten. Aber hier erwartete ihn eine Enttäuschung nach der anderen.“
Großbritannien und Frankreich hatten schon unmittelbar nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution im Zuge des Interventionskrieges ihre Feindschaft gegenüber der Sowjetmacht mehr als deutlich bewiesen, und so bekommt auch ihr Verhalten Deutschland gegenüber im Verlauf der Dreißigerjahre einen Sinn. Hitler konnte die Wiederaufrüstung forcieren, die allgemeine Wehrpflicht wieder einführen und in das entmilitarisierte Rheinland einmarschieren, ganz zu schweigen von der Zerschlagung des parlamentarischen Systems in Deutschland sowie von dem blutigen Terror gegen politische Gegner und die jüdische Bevölkerung. Nichts von dem veranlasste Frankreich oder Großbritannien zu einer klaren Frontstellung gegen Nazideutschland. Hitler schien als antikommunistischer Kettenhund einfach zu brauchbar, als dass man ihn hätte bremsen wollen. Vielleicht würde ihm das gelingen, woran Weiße Garden und Interventionstruppen nach dem Roten Oktober gescheitert waren. Der Realitätssinn gebot der Führung in Moskau, sich allmählich von der Idee eines östlich-westlichen Blocks gegen Hitler zu verabschieden – oder zumindest auch andere Optionen zu prüfen.
Am 17. Juli 1936 putschten faschistische Generäle in Spanien unter der Führung von Francisco Franco gegen die Regierung der Republik. Der darauf folgende Krieg, der entgegen seiner landläufigen Bezeichnung kaum „Bürgerkrieg“ genannt werden kann, warf ein bezeichnendes Licht auf die außenpolitischen Präferenzen Frankreichs und Großbritanniens. An der Spitze der Republik stand eine Volksfront, die von liberalen Demokraten bis hin zur Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) reichte. Das Programm der Volksfront war fortschrittlich-demokratisch. Allein schon im Hinblick auf die anderen beteiligten Partner konnte die PCE nicht daran denken, in dieser Situation den Übergang zum Sozialismus auf die Tagesordnung zu setzen. Auch die UdSSR hielt sich zunächst zurück und hegte keinerlei Ambitionen einer „Sowjetisierung“ Spaniens. Die britische und französische Regierung hielten den Grundsatz der „Nichteinmischung“ hoch. Die Situation in Spanien änderte sich jedoch grundlegend mit dem militärischen Eingreifen Deutschlands und Italiens zugunsten der Franco-Faschisten. Aus dem Konflikt war schon nach kurzer Zeit eine internationale Angelegenheit geworden. Die Verantwortlichen in Paris und London kümmerte dies allerdings wenig. Ihre Losung der „Nichteinmischung“ hatte sich in eine Ausflucht verwandelt, um Spanien dem Faschismus auszuliefern. Es sei daran erinnert, dass es nicht darum ging, einer Sowjetrepublik zu Hilfe zu kommen, sondern einer grundsätzlich immer noch bürgerlichen Demokratie mit einer Regierung, deren Legitimation außer Frage stand. Es blieb der UdSSR überlassen, helfend an die Seite der Spanischen Republik zu treten, was den Kriegsverlauf freilich nicht mehr zu wenden vermochte. Am 1. April 1939 konnte General Franco seinen Sieg und das Ende des Krieges verkünden. Frankreich und Großbritannien hatten ihren Beitrag geleistet, dass Spanien für die nächsten 37 Jahre unter der Terrorherrschaft der Faschisten leiden musste. Für Hitler hatten die Kriegsverbrechen des von ihm nach Spanien entsandten Luftwaffenverbandes „Legion Condor“ ebenso wenig Konsequenzen, wie der schon am 13. März 1938 erfolgte Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich.
Der Opferung der Spanischen Republik folgte der Verrat an der Tschechoslowakei. Der russische Historiker Oleg Chlewnjuk führt dazu aus: „In der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre bevorzugten es die Westmächte, Hitler zu besänftigen, anstatt sich mit Stalin zu verbünden, ein Trend, der mit dem Münchner Abkommen seinen Höhepunkt erreichte: Am 30. September 1938 schlossen die Regierungschefs von Großbritannien und Frankreich, Neville Chamberlain und Edouard Daladier, ein Abkommen mit Hitler und Mussolini, das das überwiegend von einer deutschsprachigen Bevölkerung bewohnte tschechoslowakische Sudetenland an Deutschland auslieferte. Die Tschechoslowakei wurde gezwungen, dem Vertrag zuzustimmen, und die Interessen der Sowjetunion wurden einfach ignoriert, obwohl sie und Frankreich zuvor einen Beistandspakt mit der Tschechoslowakei unterzeichnet hatten. Damit war Stalin von der europäischen Großmachtpolitik praktisch ausgeschlossen.“ Chlewnjuks Arbeit lässt eine strikte Orientierung an der antikommunistischen Totalitarismusdoktrin erkennen. Umso bemerkenswerter erscheint seine Bewertung des Verhaltens der Westmächte in München. Den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs bescheinigt er, dass sie auf ihre Politik „kaum stolz“ sein konnten. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass sowohl Polen als auch Ungarn die sich mit dem Münchener Abkommen bietende Gelegenheit ergriffen und ihrerseits tschechoslowakisches Gebiet annektierten. Hitler hatte die von London und Paris ausgehenden Signale der versteckten Kumpanei gut verstanden und konnte am 15. März 1939 ungefährdet in Tschechien einmarschieren. Die Slowakei wurde zu einem „unabhängigen“ klerikal-faschistischen Staatswesen umgebaut.
Doch dieser ganze Vorlauf findet in der Entschließung des Europäischen Parlaments keinerlei Platz. Über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag wird dort gesprochen, damit über die Schande von München geschwiegen werden kann.
Auf sich allein gestellt, war die sowjetische Führung nun gezwungen, Zeit zu gewinnen, um sich auf den zu erwartenden Krieg mit Deutschland vorzubereiten. Spekulationen, man hätte dabei an eine dauerhafte „Achse Moskau-Berlin“ gedacht, können wohl ins Reich der Legende verwiesen werden. Der Vertrag mit dem Deutschen Reich war aus sowjetischer Sicht keineswegs die erste Wahl. Der Generalsekretär der Kommunistischen Internationale Georgi Dimitroff erklärte, man hätte lieber einen Vertrag mit den „sogenannten demokratischen Staaten“ geschlossen. Es fanden auch parallele Verhandlungen mit Großbritannien und Frankreich statt, die allerdings von dort verschleppt und hintertrieben wurden.
Zur Belegung der Verwerflichkeit des deutsch-sowjetischen Vertrages wird gern auf seine Bestimmungen in Bezug auf Polen verwiesen. In der Tat gibt es einen Passus, der die weitere Existenz des polnischen Staates als eine offene Frage behandelt. Der marxistische Historiker Kurt Gossweiler stellte hierzu fest: „Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Anspruch, über das Schicksal eines anderen Staates zu bestimmen, in diesem Fall wie auch in dem des Münchener Abkommens, vom völkerrechtlichen Standpunkt aus unhaltbar ist und daher zu Recht als Verletzung des Völkerrechts beurteilt wird. Für eine politische Beurteilung dieser Passage des Zusatzabkommens reicht eine solche Feststellung indessen nicht aus. Es darf nicht vergessen werden, dass Polen 1921 westliche Teile der Ukraine und Weißrusslands annektiert hatte. Der Sowjetmacht blieb in ihrem kriegsgeschwächten Zustand nicht anderes übrig, als dies im Vertrag von Riga zu akzeptieren. Als die Rote Armee am 17. September 1939 in eben diese Gebiete einrückte, war der polnische Staat unter den deutschen Militärschlägen bereits zusammengebrochen. Auch außerhalb der UdSSR wurde dies teilweise als Korrektur eines historischen Unrechts akzeptiert. Bemerkenswerterweise war es gerade Churchill, der am 1. Oktober 1939 das Vorrücken der Roten Armee als „für die Sicherheit Russlands gegen die deutsche Gefahr absolut notwendig“ bezeichnete.
Auch in Bezug auf die Landung der westalliierten Streitkräfte in der Normandie am 6. Juni 1944 sind schon seit längerem Bemühungen erkennbar, „Neuinterpretationen“ in antisowjetischem Geist vorzunehmen. Über Jahrzehnte galt es als unbestreitbare Tatsache, dass die Rote Armee in Stalingrad 1942/ 1943 die entscheidende Wende des Krieges erzwang. In der anschließenden Panzerschlacht bei Kursk im Juli/ August 1943 erlitt die Wehrmacht eine weitere verheerende Niederlage, mit der die militärische Initiative an der Ostfront definitiv auf die sowjetischen Streitkräfte überging. Hierzu gibt es bestätigende Einschätzungen aus der deutschen Generalität. Da aber nicht sein kann, was nicht sein darf, wird seit einigen Jahren mit wachsender Intensität versucht, den Wendepunkt des Krieges auf den 6. Juni 1944 zu verlegen. Bereits am 1. Juni 2004 erläuterte der für das Militärgeschichtliche Forschungsamt Potsdam tätige Historiker Rolf-Dieter Müller, dass der „D-Day“ – und nicht Stalingrad – als Wendepunkt des Krieges zu gelten habe. Die Begründung fällt mit dem Hinweis, die Wehrmacht habe in der Normandie schwerere Verluste als in der Stadt an der Wolga erlitten, dürftig aus. Verlustzahlen sind ein wichtiges Kriterium zur Bewertung einer militärischen Operation, aber ganz sicher nicht das einzige. Beachtet werden muss die strategische Gesamtsituation an den verschiedenen Fronten. Der Erfolg der Westalliierten in der Normandie kann schlecht losgelöst von der Tatsache betrachtet werden, welche enormen Kapazitäten der Wehrmacht an der Ostfront bereits vernichtet oder noch gebunden waren. Zu Sinn und Zweck seiner Konstruktion gibt Müller allerdings einen interessanten Hinweis: „Die Landung war der Erfolg einer internationalen Koalition demokratischer Staaten und der Beginn des amerikanischen Engagements in Europa, das bis heute andauert.“ Es geht also um die Notwendigkeit eines Gründungsmythos für die „westliche Wertegemeinschaft“, oder, um es mit Dimitroff zu sagen, der „sogenannten demokratischen Staaten“. Die heutige aggressive Frontstellung gegen die Russische Föderation soll durch ein entsprechend zurecht frisiertes Geschichtsbild untermauert werden. Müller zufolge hatte die Rote Armee mit dem 6. Juni 1944 offenbar gar nichts zu tun. Der Kriegsverlauf wird hier in Einzelteile zerhackt, denen jede Beziehung zueinander zu fehlen scheint. So triumphiert der politische Wunsch über die historischen Tatsachen. Es sei klar gestellt, dass sich jede Herabwürdigung des Heldentums der Soldaten, die an den Stränden der Normandie zum Kampf gegen den Nazifaschismus antraten, verbietet. Die Leistung dieser militärischen Operation wird dadurch nicht geringer, wenn man sie korrekt in den gesamten Kriegsverlauf einordnet.
In Zusammenhang mit der Neubewertung des „D-Day“ steht auch das Gedenken zum 75. Jahrestag des Warschauer Aufstandes in diesem Jahr. Am 1. August 1944 hatten sich in Warschau 40 000 Kämpfer der polnischen Heimatarmee (AK) gegen die deutsche Besatzung erhoben. Über zwei Monate wurde in der polnischen Hauptstadt gekämpft. Am 2. Oktober erlagen die Aufständischen der deutschen Übermacht. Zur Begründung dieses Scheiterns hält sich hartnäckig eine These, die auch bei den diesjährigen Gedenkfeiern wieder verbreitet wurde. Die wenig erstaunliche Behauptung lautet: Stalin ist schuld! Angeblich habe die vorrückende Rote Armee vor Warschau aus niederträchtigen Beweggründen haltgemacht und seelenruhig zugeschaut, wie die Wehrmacht die der sowjetischen Führung ohnehin suspekten Kämpfer der nationalistisch ausgerichteten Heimatarmee abschlachtete. Damit wird unterstellt, dass die sowjetischen Truppen auch wirklich die Option gehabt hätten, umstandslos in das Warschauer Geschehen einzugreifen. Aber wie war die militärische Lage wirklich? Der Befehlshaber der im Raum Warschau kämpfenden sowjetischen Truppen Marschall K. K. Rokossowski berichtete, dass die Kontaktaufnahme zur polnischen Heimatarmee mit einem völligen Misserfolg endete. Angebote zum koordinierten militärischen Zusammenwirken seien von den AK-Offizieren scharf zurückgewiesen worden. Zwar hatten sich bereits polnische Verbände den sowjetischen Truppen angeschlossen, aber dies erschien der nationalistischen AK als unvereinbar mit ihrer antikommunistischen Grundhaltung. Rokossowski bekam zu hören: „Wir werden gegen die Rote Armee keine Waffengewalt anwenden, wünschen aber auch keinen Kontakt mit ihr.“ Es stellt sich die Frage, wie unter solchen Umständen das sowjetische Oberkommando die heute nachträglich angemahnte Unterstützung der AK-Kräfte hätte realisieren sollen. Aber diese Zurückweisung war nicht das einzige Problem. Auch auf deutscher Seite war man sich der strategischen Bedeutung Warschaus bewusst und keineswegs gewillt, dem Gegner einen militärischen Spaziergang zu gestatten. Daher wurde die Front in Raum Warschau massiv verstärkt, unter anderem durch die dritte und fünfte SS-Panzerdivision. Stalin erkundigte sich, ob die Möglichkeit einer Angriffsoperation zur Einnahme Warschaus bestünde. Marschall Rokossowski blieb nichts anders übrig, als die Frage zu verneinen, worauf Stalin eine Unterstützung der Aufständischen im Rahmen des Möglichen anordnete. Diese musste sich in der Folge aber auf Versorgungsflüge zum Abwurf von Waffen und Hilfsgütern sowie auf unterstützendes Artilleriefeuer beschränken. Nun könnte man meinen, dass ein sowjetischer Kommandeur gute Gründe gehabt haben dürfte, die eigene Rolle im Nachhinein zu beschönigen. Gestützt wird Rokossowskis Schilderung aber von unverdächtiger Seite. Der Militärhistoriker und langjährige Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr Oberst a. D. Karl-Heinz Frieser macht geltend, dass Generalfeldmarschall Walter Model vermittels eines taktischen Rückzugs eine Stabilisierung der deutschen Linien vor Warschau gelang. Bei einem anschließenden Gegenvorstoß vom 1. bis zum 4. August schlugen die neu herangeführten deutschen Kräfte die zweite sowjetische Panzerarmee vernichtend. Diese heftigen Kämpfe bieten ein Bild, das in krassem Gegensatz zum immer noch behaupteten „seelenruhigen Abwarten“ der Roten Armee steht, weshalb Frieser zu dieser These auf Distanz geht.
Es gibt durchaus Gründe zu der Annahme, dass den Westalliierten an einem allzu schnellen Vorrücken der sowjetischen Streitkräfte nicht gelegen war. Am 20. August 1944 eröffneten diese eine große Offensive im südlichen Abschnitt der deutsch-sowjetischen Front. Die Wehrmacht erlitt verheerende Verluste, an der Donau tat sich über 200 km eine Lücke im Frontverlauf auf, für deren Schließung keine Kräfte zur Verfügung standen. Rund 40 deutsche Divisionen auf dem Balkan waren von der Einkesselung bedroht. In dieser Situation entschied sich das Oberkommando der Wehrmacht zur Räumung Griechenlands, um die damit frei werdenden Verbände der Roten Armee entgegenstellen zu können. Es ist erstaunlich, wie ungestört die deutschen Truppen aus Griechenland abziehen konnten. Die britische Luftwaffe machte von ihrer inzwischen drückenden Überlegenheit keinen Gebrauch. Am 3. November 1944 war der Abzug der Deutschen abgeschlossen. Erst danach landeten britische Truppen in Griechenland. Der Historiker Martin Seckendorf verweist auf Absprachen zwischen deutschen und britischen Kommandostellen, wonach die Wehrmacht ihre Stellungen möglichst lange gegen die kommunistisch dominierten Verbände der Griechischen Volksbefreiungsarmee ELAS halten sollte. Im Gegenzug gewährten die Briten den erwähnten ungestörten Abzug – zu Lasten ihrer sowjetischen Verbündeten.
Das doppelte Spiel setzte sich fort. Seit Beginn des Jahres 1943 bis April 1945 gab es geheime Verhandlungen hochrangiger SS-Dienststellen mit dem in der Schweiz ansässigen Europa-Chef des US-Geheimdienstes Office of Strategic Services (OSS) Allen W. Dulles über einen Separatfrieden und die gemeinsame Fortsetzung des Krieges gegen die UdSSR. Die Führung des Dritten Reiches setzte nicht unerhebliche Hoffnungen in diese Sondierungsgespräche und wollte auf jeden Fall verhindern, dass diese durch einen vorzeitigen militärischen Zusammenbruch und eine etwaige sowjetische Besetzung Deutschlands gegenstandslos würden. Es ist oft die Frage gestellt worden, warum die Wehrmacht gerade an der Ostfront auch angesichts einer inzwischen aussichtslosen militärischen Lage weiterhin fanatischen Widerstand leistete. Zumindest ein der Teil der Erklärung dürfte in den Spekulationen auf einen doch noch eintretenden Bruch der Anti-Hitler-Koalition zu finden sein. Allerdings bestand Dulles darauf, dass einer eventuell zu bildenden neue Reichsregierung Hitler nicht mehr angehören dürfe. Der 8. Mai 1945 machte diesen Überlegungen ein Ende.
In dieser Kontinuität stehen auch Churchills 1998 der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Pläne („Operation Unthinkable“) für einen Angriff zum 1. Juli 1945 gegen die UdSSR – mit Hilfe einer wiederbewaffneten Wehrmacht. Wegen der zu erwartenden Ablehnung seitens der US-Regierung und auch der eigenen Bevölkerung wurde von dem Vorhaben Anstand genommen.
Es ist also deutlich, dass die vom EU-Parlament vorgenommene Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus dazu dient, die Geschichte der „westlichen Demokratien“ von manchen hässlichen Flecken zu reinigen, welche das begünstigende Paktieren mit dem Nazifaschismus hinterlassen hat. Vom Mittel der Geschichtsfälschung wird dabei bedenkenlos Gebrauch gemacht. Es geht um nichts anderes als um die geschichtliche Unterfütterung einer feindseligen Grundhaltung Russland gegenüber, die ihren Ausdruck bereits in der wortbrüchigen NATO-Aufnahme sämtlicher ehemaliger Verbündeter der UdSSR in Osteuropa fand. Diese Entwicklung setzte sich fort mit der offensiven Unterstützung faschistischer durchsetzter Kräfte beim Regierungsumsturz 2014 in der Ukraine und gipfelt momentan in der Verlegung von NATO-Truppen ins Baltikum – mit deutscher Beteiligung. Wieder stehen deutsche Panzer an der Grenze zu Russland. Wir haben es hier mit einem Skandal von Geschichtsvergessenheit und einer Friedensgefährdung erster Ordnung zu tun. Eine Prämisse der NATO hat den Kalten Krieg überlebt und setzt ihr unheilvolles Wirken fort: Nur ein schwaches Russland ist ein gutes Russland.
Der Autor ist Leiter der Geschichtskommission des Parteivorstands der DKP