Kann man einfach mal so versuchen, die Demokratie auszuhebeln, und dann weitermachen wie zuvor? Die Antwort auf diese Frage wird derzeit exemplarisch in Südkorea ausgekämpft. Dort hatte Präsident Yoon Suk-yeol am Dienstagabend vergangener Woche das Kriegsrecht ausgerufen, es aber schon nach wenigen Stunden wieder zurücknehmen müssen, gescheitert an entschlossenem Widerstand demokratischer Parlamentarier, an energischem Protest aus der Bevölkerung und wohl auch an mangelhafter Vorbereitung des juristisch verkleideten Putschs – zu der geplanten Verhaftung führender Politiker etwa kam es nicht. Amtsenthebung!, so lautete die klare Forderung der Opposition und der Demonstranten, die sich sofort in Scharen auf den Straßen der Hauptstadt Seoul drängten. Das Verfahren dazu, das die oppositionelle Demokratische Partei einleiten wollte, scheiterte am Samstag allerdings im Parlament: Yoons rechte Volksmachtpartei boykottierte die Abstimmung; die nötige Zweidrittelmehrheit kam nicht zustande. Bleibt Yoon also im Amt?
Die Antwort auf diese Frage lässt sich nicht von der Sache lösen, um die es Yoon bei der Ausrufung des Kriegsrechts ging. Der äußere Anlass: Die Opposition hat eine klare Mehrheit im Parlament. Sie nervte den Präsidenten in den vergangenen Monaten hartnäckig, indem sie Amtsenthebungsverfahren unter anderem gegen den Generalstaatsanwalt anstrengte und zuletzt die Verabschiedung des Staatshaushalts blockierte. Nun kam das nicht von ungefähr. Yoon fährt seit seinem Amtsantritt einen harten rechten Kurs, den er mit einer erheblich gesteigerten Repression begleitet. Die Justiz geht, sich eng mit Politikern von Yoons rechter Volksmachtpartei abstimmend, gegen oppositionelle Politiker vor. Auch die Medien werden zunehmend unter Druck gesetzt; exzessive Verleumdungsklagen, auch Hausdurchsuchungen bei kritischen Journalisten führen langsam, aber sicher in Richtung informelle Zensur. Die Öffentlichkeit ist tief gespalten, das politische Klima wild aufgeheizt. Zu Jahresbeginn überlebte Oppositionschef Lee Jae-myung eine Messerattacke nur knapp.
Eine wichtige Rolle spielt bei alledem ein außenpolitischer Konflikt. Yoon hat Südkorea seit seinem Amtsantritt in eine überaus enge Kooperation nicht bloß mit den USA, sondern auch mit Japan geführt. Das ist verbunden mit anschwellenden Spannungen mit China sowie mit einer drohenden Eskalation des Konflikts mit der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik. Zudem hat Yoon, um eine intensive Kooperation mit Japan zu begünstigen, diverse Schritte unternommen, den Druck auf Japan, Kriegsverbrechen an der koreanischen Bevölkerung zu entschädigen oder doch wenigstens um Entschuldigung zu bitten, zu lindern. So hat er etwa die Möglichkeit geschaffen, Koreaner, die einst bei japanischen Konzernen Zwangsarbeit leisten mussten, zu entschädigen – allerdings durch Zahlungen südkoreanischer Konzerne, um das Verhältnis zu Japan nicht zu belasten. Er treibt die Aufrüstung sowie die gemeinsamen Manöver mit den USA und Japan voran und hat zuletzt sogar darüber nachgedacht, eine Verfassungsänderung anzustreben, um die Ukraine mit Waffen beliefern zu dürfen. Mit dem aktuellen Etatentwurf wollte er seine präsidialen Vollmachten ausbauen und die Zahlungen an Kiew erhöhen.
Die Demokratische Partei lehnt Yoons fast bedingungslose Unterordnung unter die USA und vor allem die intensive Kooperation mit Japan ab – Letzteres auch aus historischen Gründen, beides aber vor allem, weil sie die ungebremste Verschärfung des Konflikts mit Nordkorea und vor allem auch der Spannungen in den Beziehungen zu China, Südkoreas mit Abstand wichtigstem Wirtschaftspartner, verhindern will. Das ist ein bedeutender Grund für ihre harte Oppositionspolitik. Umgekehrt ist es ein Grund für Yoons Versuche, den lästigen Widerstand auszuschalten. Das Experiment mit dem Kriegsrecht ist schiefgegangen. Enthöbe man nun aber Yoon seines Amtes, dann wäre – na klar, neben allerlei anderem – auch seine aggressive Außenpolitik womöglich futsch. Und die Demokratie? Nun, die Volksmachtpartei erklärt, sie wolle Yoon langsam aus dem Amt drängen, entmachten. Das soll den Wind aus den Segeln nehmen. Einem klaren Schnitt mit Antidemokraten jedoch steht – nicht nur, aber auch – das transpazifische Bündnis gegen China entgegen. Immerhin: Die breiten Proteste gegen das Vorgehen von Yoons Volksmachtpartei dauern an.