Dürfen Obdachlose im Freien schlafen? In den USA ist das Verbot umstritten, in Deutschland an der Tagesordnung

Existieren verboten

Einmal im Leben das ganz große Rad drehen; für deutsche Kommunalpolitiker eine oft gehegte und nur selten erfüllte Wunschvorstellung. Aber versuchen kann man es ja mal, dachten sich vielleicht die Stadtoberhäupter, die in der vergangenen Woche an einer Delegationsreise des Deutschen Städtetags in die USA teilnahmen. Ziel des Ausflugs war es laut Pressemitteilung, „die transatlantischen Beziehungen auf kommunaler Ebene“ zu stärken. Für gute Stimmung bei den Gastgebern sorgte Städtetagspräsident Markus Lewe. Die Zusammenarbeit sei „eine stabile Säule dafür, entscheidende Zukunftsthemen gemeinsam anzugehen“. Dazu gehörten laut Städtetag die Themen „Transformation, Klimawandel und Wohnungsbau“.

Warum Lösungen für diese Fragen ausgerechnet in den USA gesucht wurden, blieb ein Geheimnis der Veranstalter. Drängt sich doch in Anbetracht von Rekord-Wohnungslosenzahlen in beiden Ländern der Verdacht auf, dass beim deutsch-US-amerikanischen Zusammentreffen der Blinde den Lahmen führen musste. Ob nur über Wohnungsbau oder auch über den Umgang mit Obdachlosen gesprochen wurde, wurde nicht mitgeteilt. Dabei hätte es gerade hier eine Menge zu besprechen gegeben.

Denn während die deutschen Stadt­oberhäupter durch Washington und New York pilgerten, warteten US-Wohnungslosenverbände auf eine wegweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Bis zum 30. Juni soll der Supreme Court im Fall „Johnson V. Grants Pass“ urteilen. Grants Pass, eine Stadt im Bundesstaat Oregon, hatte Obdachlosen die Nutzung von Kissen, Decken oder Pappkartons zur Übernachtung im Freien verboten. Bei Verstößen sollten horrende Geldbußen, Platzverweise oder Gefängnisstrafen verhängt werden – und das, obwohl es in Grants Pass weder ausreichend Wohnraum noch eine Obdachlosenunterkunft gibt.

Interessenvertreter von Obdachlosen zogen dagegen vor Gericht, bezeichneten das Übernachtungsverbot im Freien als „grausame und ungewöhnliche Bestrafung“ und damit als Verstoß gegen den achten Zusatzartikel der US-Verfassung. Das Verfahren zog sich durch die Instanzen. Ein Berufungsgericht schloss sich den Klägern an und kippte die Regelungen. Schließlich landete der Fall vor dem Supreme Court, wo Theane Evangelis, die Anwältin von Grants Pass, das Gericht dazu aufrief, das „gescheiterte Experiment“ des Berufungsgerichts zu stoppen. Das Urteil habe die Ausbreitung von Obdachlosenlagern „befeuert“. Sollte der Supreme Court dem folgen, hätte das Auswirkungen für Wohnungslose in den gesamten USA. Das Gericht würde damit den „Städten und Staaten die Erlaubnis geben, Menschen, die im Freien schlafen, zu bestrafen, selbst wenn sie keine andere Möglichkeit haben“, schreibt das „National Homelessness Law Center“ auf seiner Website. Das Urteil würde nichts gegen Obdachlosigkeit ausrichten und folglich „Menschen bestrafen, weil sie in der Öffentlichkeit existieren“.

Wenn die Delegierten des Deutschen Städtetages über dieses Thema gesprochen haben, dann hätten sie spätestens an dieser Stelle müde lächeln können. Denn das Verbot, in der Öffentlichkeit zu „lagern“ oder zu „kampieren“, ist in der Bundesrepublik längst ein fester Bestandteil unzähliger Grünflächen- oder Straßenordnungen. Auch der zumeist willkürlich auslegbare Tatbestand des „aggressiven Bettelns“ ist in Deutschland bestens bekannt. Darüber, ob die Vertreibung aus dem öffentlichen Raum eine „grausame und ungewöhnliche Bestrafung“ darstellt, wird hierzulande eher selten diskutiert. Ganz besonders dann nicht, wenn das Straßenbild für Stadtfeste oder beliebte Shoppingtage hergerichtet werden soll.

In diesem Jahr kommt in manchen Städten noch ein weiteres Event hinzu. „Dortmund will sich zur EM gut präsentieren. Dazu passen keine Bilder von Obdachlosen“, befürchtete Alexandra Gerhardt vom Obdachlosen-Magazin „Bodo“ gegenüber dem WDR. Das wollte Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) im gleichen Bericht nicht bestätigen. Auf öffentlichen Flächen sei das Lagern und Kampieren schon lange verboten: „Deshalb machen wir mit unseren Ordnungskräften genau das, was wir seit zwei Jahren intensiv tun: Die Menschen darauf hinzuweisen, sie zu bitten, den Ort zu verlassen.“ Harald, den der WDR vor dem Dortmunder Hauptbahnhof antrifft, wird mit dieser Auskunft wenig anfangen können. „Wir wollen ja auch gar nichts Böses! Wir wollen einfach nur einen trockenen Platz zum Schlafen haben und mehr wollen wir gar nicht“, sagt er. Die einzige Übernachtungsstelle der Stadt sei ständig überfüllt.

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"Existieren verboten", UZ vom 21. Juni 2024



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