Die abstrusen Erklärungsversuche zur „Nachrichtenmüdigkeit“ der Deutschen

Evolutionsbedingt?

Der Vorteil des Krieges ist, dass man häufig nichts Genaues weiß. Der Fantasie in den bürgerlichen Redaktionsstuben sind also keine Grenzen gesetzt, schon gar nicht, wenn es gegen „den Russen“ geht, dem bekanntlich alles zuzutrauen ist. Erst soll er seine Pipelines gesprengt haben, dann seinen Staudamm, und vergangene Woche wollte er – wieder einmal – sein Atomkraftwerk sprengen. Das „Kühlbecken für die Reaktoren des Kernkraftwerks Saporischschja“ sei vermint worden, zitierte unter anderem der „Spiegel“ den ukrainischen Militärgeheimdienst (GUR). Moskau dementierte umgehend, aber es half nichts. Die Nachricht lief rauf und runter, ohne dass neue Quellen oder Belege vorgebracht worden wären.

Oberflächlich läuft die deutsche Medienwelt also im gewohnten Takt. Emsige Redakteure, die sich ergriffen von der eigenen Rechtschaffenheit durch den Informationskrieg quälen, schaffen kleine Wunderwerke der Schreibkunst. Doch im Untergrund brodelt eine subversive Kraft, die sich dem medialen Trommelfeuer entzieht. Ihr Wesen: gesunder Menschenverstand. Ihre Erscheinungsform: „Nachrichtenmüdigkeit“. So zumindest nennt „tagesschau.de“ das Phänomen, dass rund 65 Prozent der Deutschen zumindest gelegentlich Nachrichten vermeiden. Wie der „Reuters Digital Report 2023“ ermittelte, werden Meldungen über den Krieg in der Ukraine am häufigsten vermieden. In der gleichen Studie stimmten außerdem nur 43 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass man dem „Großteil der Nachrichten meist vertrauen“ könne. Die Mehrheit konnte sich damit nicht anfreunden, obwohl die Fragestellungen mit den Einschränkungen „meist“ und „Großteil“ schon so zurückhaltend wie möglich formuliert war. Besonders groß ist die Skepsis bei jungen Menschen. Von den Befragten unter 34 Jahren stimmte nur ein knappes Drittel der Aussage zu.

Nun lassen sich diese Ergebnisse unterschiedlich interpretieren. Vielleicht sind die Leute einfach genervt von den alltäglichen Jubelmeldungen über ukrainische Großtaten auf dem Schlachtfeld, von Regierungserklärungen, die wie Tatsachen in die Welt geblasen werden, und von unbelegten Geheimdienstberichten, die aus den ewig gleichen Satzbausteinen gezimmert sind. Doch das kommt den Redaktionen der Kriegsmedien nicht in den Sinn. Stattdessen wird „Nachrichtenmüdigkeit“ als psychologisches Problem der Empfänger dargestellt. Das sei „evolutionsbedingt“, weiß zum Beispiel der „Deutschlandfunk“, weil schlechte Nachrichten Stress verursachen. Ein mögliches Gegenprogramm sei „konstruktiver und lösungsorientierter Journalismus“.

Doch woher soll der kommen? Es gehört ja gerade zum Wesen der sogenannten „Leitmedien“, Zusammenhänge zu verwischen und Lösungen zu zerreden. Ganz besonders gilt das für den propagandistischen Auftrag im Ukraine-Krieg: Waffenlieferungen bewerben, Friedensinitiativen verdammen, die Heimatfront geschlossen halten. Das setzt sich auf anderen Ebenen fort. Die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen, die selbst hartgesottene Kommunistenfresser als einen Versuch der Entspannung und Völkerverständigung in extrem gefährlichen Zeiten hätten akzeptieren können, wurden auf „tagesschau.de“ unter der Überschrift „Eine Ehre, die China nicht gebührt“ kommentiert. Da stellt sich nun zu Recht die Frage, wer das lesen soll.

Weil echte Lösungsvorschläge nicht zu erwarten sind, weichen die bürgerlichen Medien in eine bizarre Scheinwelt aus. Als ein Vorreiter gilt der „Happy Podcast“ der BBC, in dem nur leicht verdauliche Themen berichtet werden, gemischt mit Eindrücken, die die Hörerinnen und Hörer glücklich machen sollen. So kann man sich dort den Herzschlag eines Embryos anhören. Auch deutsche Medienhäuser springen auf den Zug des sogenannten „positiven Journalismus“ auf. Der „Spiegel“ bietet beispielsweise einen Newsletter mit dem Titel „Alles Gute“ an. Dort kann man in der Ausgabe vom 10. Juni erfahren, „Was gut ist – für Sie“: Wandern auf Zypern ist schön, Milch ist billig und bei der Bahn gelten neue Fahrgastrechte. Moment mal, Fahrgastrechte? Wurden die nicht durch eine EU-Verordnung jüngst eingeschränkt? Tatsächlich verweist der Gute-Laune-Newsletter auf einen Artikel aus dem eigenen Magazin, in dem es heißt, dass in bestimmten Szenarien der Entschädigungsanspruch für Zugausfälle entfällt. Was daran nun gut ist, bleibt Geheimnis der „positiven Journalisten“. Möglicherweise haben sie den „Spiegel“ einfach nicht gelesen – nachrichtenmüde oder so.

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"Evolutionsbedingt?", UZ vom 30. Juni 2023



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