Über die sozialen Verhältnisse in der Ukraine

Europäische Werte: 1,21 Euro Mindestlohn

Werner Rügemer

Die ärmste und kränkste Bevölkerung Europas, Drehscheibe für Niedriglohnarbeiter, Weltspitze beim Handel mit dem weiblichen Körper und mehr Soldaten als jeder europäische NATO-Staat: Willkommen in der Ukraine. Der Beitrag erschien am 21. Juli auf den „NachDenkSeiten“. Für den Nachdruck in der UZ wurde er gekürzt und redaktionell überarbeitet.

96 Euro für Vollzeitarbeit – 2017 war das der monatliche Mindestlohn in der Ukraine. Selbst den bekam ein Drittel der meist weiblichen Beschäftigten in der Textil- und Lederindustrie nur durch erzwungene, unbezahlte Überstunden. Das offizielle Existenzminimum in der Ukraine 2017: 166 Euro pro Monat.

Textilindustrie

Etwa 2.800 Textilunternehmen sind in der Ukraine registriert. Die Zahl nicht registrierter Kleinbetriebe dieser Branche dürfte ebenso hoch liegen. 220.000 Menschen arbeiten in der Textilbranche, überwiegend ältere Frauen. Sie halten sich durch Subsistenzwirtschaft über Wasser, zum Beispiel durch einen eigenen Garten mit Hühnerstall.

Die Ukraine führte 2015 einen Mindestlohn ein. Der lag zunächst bei 34 Cent pro Stunde, stieg über die Jahre an und liegt seit 2021 bei 1,21 Euro pro Stunde. Bezahlt wird er bei Weitem nicht immer. Verbreitet sind Stücklöhne – eine bestimmte Zahl an Kleidungsstücken muss innerhalb einer Stunde fertig genäht werden, klappt das nicht, muss unbezahlt nachgearbeitet werden – und unbezahlter Urlaub, der angeordnet wird, wenn keine Aufträge vorliegen. Westliche Gewerkschaften und „Menschenrechtler“ blicken nach Südostasien, wenn es um Niedriglöhne in der Textilindustrie geht. Dabei sind die Löhne in der Ukraine noch niedriger als in Bangladesch.

Die ukrainischen Textilunternehmen dienen meist als Zulieferer für international vernetzte Billigproduzenten in benachbarten EU-Staaten. So gehen beispielsweise 41 Prozent der in der Ukraine gefertigten Schuhe als Halbfertigware an die Niedriglohnfabriken Rumäniens, Ungarns und Italiens, wo sie das unschuldige Etikett „Made in EU“ bekommen.

Die Hungerlöhne führen dazu, dass Textilarbeiterinnen sich selbst nur in Second-Hand-Klamotten aus dem Westen kleiden können. Die Ukraine importiert mehr Textilien als sie exportiert.

Autozulieferer, Pharma, Maschinenbau

Ähnlich läuft es auch in anderen Branchen. Die Ukraine war ein Schwerpunkt industrieller Produktion der Sowjetunion. Nach der Selbstständigkeit 1991 übernahmen Oligarchen die Firmen, machten Gewinne, steckten aber nichts in Innovationen. Für westliche Firmen standen Millionen gut qualifizierter Beschäftigter zu Niedrigstlöhnen bereit.

Tausende Unternehmen, vor allem aus den USA und der EU, vergeben Zulieferaufträge für eher einfache Teile. Vor allem deutsche Firmen: Porsche, VW, BMW, Schaeffler, Bosch und Leoni etwa für Autokabel. Pharmakonzerne wie Bayer, BASF, Henkel, Ratiopharm und Wella lassen ihre Produkte abfüllen und verpacken. Arcelor Mittal, Siemens, Demag, Vaillant und Viessmann unterhalten Montage- und Verkaufsfilialen. Hier werden durchaus Löhne von zwei bis drei Euro gezahlt. Mehr als der Mindestlohn, aber immer noch deutlich weniger als in Ungarn, Polen oder Rumänien.

Arbeitsmigration

3412 01 - Europäische Werte: 1,21 Euro Mindestlohn - Europäische Union, NATO, Ukraine - Hintergrund
Vier Hektar Land bekamen ehemalige Kolchosbauern nach der Selbstständigkeit der Ukraine im Schnitt zugeteilt – zu wenig für eigenständige Landwirtschaft. Bauern verpachten ihr Fleckchen Land meist an Oligarchen. Manche leisten dann zum Mindestlohn Hilfsdienste auf Großfarmen. (Foto: Petr Pavlicek/IAEA)

Die selektive Ausnutzung von Standortvorteilen durch westliche Kapitalisten hat nicht zu volkswirtschaftlicher Entwicklung geführt. Im Gegenteil verarmte die Ukraine. Immer mehr Ukrainer sahen sich gezwungen, ihr Land zu verlassen und im Ausland nach Arbeit zu suchen.

Schon bis Ende der 1990er Jahre waren mehrere hunderttausend Ukrainer nach Russland ausgewandert. Dort waren die Löhne zwar nicht viel höher, die Lebenshaltungskosten aber spürbar geringer.
Seit den 2000er Jahren und beschleunigt durch die Folgen des Maidan-Putsches 2014 sind etwa fünf Millionen Ukrainer als Arbeitsmigranten unterwegs. Zwei Millionen leben mehr oder weniger dauerhaft im Ausland. Drei Millionen pendeln in die Nachbarstaaten. Insbesondere Polen, das Ansprüche auf westliche Teile der Ukraine erhebt, fördert die Arbeitsmigration aus der Ukraine. Zwei Millionen Ukrainer verdingen sich in Polen vor allem als Putzkräfte, Haushaltshilfen, Kellner, Altenpfleger oder Lkw-Fahrer. In Polen blüht das Geschäft von Vermittlungsagenturen, die Ukrainer zu polnischen Staatsangehörigen erklären und sie etwa als häusliche Pflegekräfte nach Deutschland oder in die Schweiz vermitteln. Da wird schon mal der dortige Mindestlohn bezahlt für eine 40-Stunden-Woche. In Wirklichkeit sind die Pflegekräfte oft 24 Stunden in Bereitschaft.

Prostitution blüht

Der patriarchale Oligarchenstaat Ukraine hat die Ungleichheit zwischen Mann und Frau extrem vertieft. Mit 32 Prozent Gender-Pay-Gap stehen ukrainische Frauen an allerletzter Stelle in Europa. Im Durchschnitt bekommen sie ein Drittel weniger Lohn und Gehalt als ihre männlichen Kollegen. Im Bereich Finanzen und Versicherung sind es bei gleicher Arbeit sogar 40 Prozent. Der EU-Durchschnitt liegt bei 14 Prozent. Frauen werden besonders häufig in prekäre Teilzeitjobs abgedrängt.

Prostitution ist in der Ukraine verboten, unter diesen Bedingungen blüht sie besonders. Selbst Grundschullehrerinnen, die mit ihren 120 Euro im Monat nicht auskommen, zählen zu den geschätzten 180.000 Frauen, die in der Ukraine als Prostituierte arbeiten.

Weil Prostitution verboten ist, verdienen Bordellbetreiber ebenso mit wie Polizisten und Taxifahrer. Etwas weniger als die Hälfte der Einnahmen bleibt bei den Frauen. Viele hoffen, nur vorübergehend darauf angewiesen zu sein. Oft vergeblich. Ein Drittel wird drogensüchtig, ein Drittel gilt als HIV-positiv.

Nach der „Liberalisierung“ von Sexarbeit durch die Regierung Schröder/Fischer wurde Deutschland zum Bordell Europas. Die bundeseigene Entwicklungsgesellschaft GTZ warb in ihrem „Deutschland-Reiseführer für Frauen“ um Ukrainerinnen, die gute Aussichten im Sex-Geschäft hätten.

Babyfabriken

Weibliche Körper werden über illegale Prostitution hinaus gewerblich genutzt. Die Ukraine ist der globale Hotspot für industrielle Leihmutterschaft. Vittoria Vita, La Vita Nova, Delivering Dreams oder BioTex: Unter solchen Namen preisen in Kiew und Charkow Agenturen für Leihmutterschaft ihre Dienste an. In Katalogen werden zahlungskräftigen Ausländern hübsche, gesunde Ukrainerinnen angeboten. Die Preise für ein gesund abgeliefertes Baby liegen zwischen 39.900 und 64.900 Euro. Die Wunschkind-Touristen kommen aus den USA, Kanada, Westeuropa und China.

Das Geschäft ist in der Ukraine wenig reguliert. Die austragende Frau darf genetisch nichts mit dem Kind zu tun haben. Sie ist nur ein Werkzeug, das nach Benutzung sofort vergessen und für die nächste Nutzung durch ein anderes fremdes Paar bereitstehen soll.

Die Agenturen bieten Komplettpakete an mit Hotelunterbringung und Ausstellung von Geburtsurkunde und Reisepass in der Botschaft des Heimatlandes der Auftraggeber. Mehr als 10.000 solcher Babys wurden bisher „ausgeliefert“. Die Leihmutter bekommt während der Schwangerschaft eine monatliche Prämie zwischen 300 und 400 Euro. Nach Ablieferung des „Produkts“ wird die Erfolgsprämie auf 15.000 Euro aufgestockt. Bei einer Fehlgeburt, einem behinderten Kind oder wenn die Auftraggeber die Annahme verweigern, geht die Leihmutter leer aus. Ihre seelische Verfassung bleibt unbeachtet. Sie ist nicht gegen gesundheitliche Schäden abgesichert. Untersuchungen über Langzeitfolgen gibt es nicht.

Null-Stunden-Verträge

Bisheriger Höhepunkt im Kampf der Regierung Selenski gegen die Beschäftigten ist das Arbeitsgesetz vom Dezember 2019:
Null-Stunden-Arbeitsverträge sind legal: Arbeit auf Abruf. Die Zahl der Arbeitsstunden und das Einkommen können auch mal bei null liegen.

Entlassungen müssen nicht mehr begründet werden.

Die „individuelle Aushandlung“ von Arbeitsverträgen wird gefördert. Ein beschönigender Begriff für Angebote, die angesichts der hohen Arbeitslosigkeit alternativlos sind. In Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten – das sind über 95 Prozent – können Tarifverhandlungen ausgesetzt werden. Davon profitieren insbesondere staatliche Unternehmen, aber auch Konzerne wie Nestlé und Philip Morris.

Hunderttausende Ukrainer protestierten gegen das neue Gesetz, unbeachtet von westlichen Medien. In einem Brief vom 9. September 2021 wiesen die Internationale Gewerkschafts-Föderation und die Europäische Gewerkschafts-Föderation die ukrainische Regierung darauf hin, dass sie mit dem neuen Arbeitsgesetz nicht nur Bestimmungen der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO verletzt, sondern auch die niedrigen Standards der EU – keine Reaktion.

Kürzlich beschlagnahmte die „Nationale Agentur für die Aufdeckung, Rückverfolgung und Verwaltung von Vermögenswerten aus Korruption und anderen Straftaten“ der Ukraine Gewerkschaftsvermögen in Höhe von 200 Millionen Euro (siehe UZ vom 5. August).

Verarmung der Bauern

Die etwa sieben Millionen Kolchosbauern bekamen nach der Selbstständigkeit der Ukraine durchschnittlich vier Hektar Land aus ihren Kollektivfarmen als Eigentum zugeteilt. Zu wenig für eigenständige Landwirtschaft. Deshalb verpachteten die Bauern ihr kleines Stückchen Land an in- und ausländische Oligarchen für durchschnittlich 150 Dollar pro Jahr. Oligarchen wie Andry Werewsky oder Oleg Bachmatjuk kommen so auf jeweils über 500.000 Hektar Ackerland. Auch ausländische Investmentbanken und Pensionsfonds mischen mit. Sie sind voll in die EU und den Weltmarkt integriert.
Einige wenige der Bauern können zum Mindestlohn Hilfsdienste in diesem Agrobusiness leisten. Ein bisschen nicht verpachtetes Land ermöglicht ihnen ein kümmerliches Überleben.

Die Selenski-Regierung beendete die Pachtpraxis. Seit dem 1. Juli 2021 können Bauern ihr Land verkaufen. Zunächst nur an Käufer mit ukrainischer Staatsangehörigkeit. Dafür richtete die Regierung ein Auktionsportal ein, in dem auch anonym geboten werden kann. Die Freigabe des Verkaufs der höchst fruchtbaren ukrainischen Schwarzerde wurde nicht nur von Oligarchen verlangt, sondern auch vom Internationalen Währungsfonds, der der hoch verschuldeten Ukraine für einen neuen Fünf-Milliarden-Kredit unter anderem diese Auflage machte. Ein Referendum 2024 soll den Weg frei machen für den Verkauf auch an Ausländer. Viele Bauern protestieren gegen diese „Landreform“ – ohne Wirkung.

Zigarettenschmuggel

Ab 1992 kauften internationale Tabak­konzerne die Zigarettenfabriken in der Ukraine. Dort produzieren gut ausgebildete, aber schlecht bezahlte Fachkräfte für den Export. Dafür senkte die Regierung die Tabaksteuer auf ein international konkurrenzlos niedriges Niveau, weniger als die Hälfte der in Europa sonst geltenden Steuer. Zollkontrollen finden kaum statt. In der Ukraine kostet eine Schachtel Marlboro 2,50 Euro. In Deutschland liegt der Preis bei 7 Euro. Deshalb gehen Export und Schmuggel aus der Ukraine weiter.

Höchste Militärausgaben Europas

Das ärmste Land Europas rüstete seit 2016 massiv auf. Die ukrainischen Militärausgaben stiegen von 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2016 auf 5,9 Prozent im Jahr 2020. Mit dieser Quote steht die Ukraine weltweit an zweiter Stelle, nach Saudi-Arabien. Die Ukraine mit ihren jetzt 41 Millionen Einwohnern hat mit 292.000 Soldaten mehr Militärs als alle NATO-Mitglieder, ausgenommen die USA.

Ärmste Bevölkerung Europas

Der IWF lieh dem laut Transparency International „korruptesten Staat Europas“ Geld mit Auflagen wie Kürzungen von Renten und Sozialleistungen, Erhöhung kommunaler Gebühren und staatlicher Energiepreise sowie Privatisierungsprogrammen. Der IWF war auch Kriegstreiber: Der Verlust des Donbass würde sich negativ auf die Höhe der westlichen Kredite auswirken, ließ er verlautbaren.
Die Staatsverschuldung wurde 2020 auf optisch hübsche 60 Prozent herabgedrückt – passend für einen EU-Beitritt. Begleitfolge: Die Mehrheit der Bevölkerung verarmte weiter. Die Durchschnittsrente betrug 2013, vor dem Maidan-Putsch, noch 140 Euro, das war der Höhepunkt in der Geschichte der unabhängigen Ukraine. 2017 lag sie bei 55 Euro. Immer mehr Rentner müssen weiterarbeiten.

Die ärmste Bevölkerung Europas ist auch die kränkste: Die Ukraine steht in Europa an erster Stelle bei Todesfällen wegen Mangelernährung.

Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, hatte gesagt, die Ukraine verdiene den EU-Beitrittsstatus, „denn sie ist bereit, für den europäischen Traum zu sterben“. Damit hat sie recht – mehr, als ihr klar sein dürfte.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Europäische Werte: 1,21 Euro Mindestlohn", UZ vom 16. September 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flugzeug.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit