Im schweizerischen Lugano haben vergangene Woche Vertreter von 40 Staaten und internationalen Organisationen über ein Wiederaufbauprogramm für die Ukraine beraten. Konkrete Finanzzusagen gab es zunächst nicht, noch tobt der Krieg, noch halten die Zerstörungen an. Abgesteckt wurde in der idyllischen Tessiner Bergwelt am Luganer See der politische Rahmen für westliche Unterstützung, Begleitprogramm sozusagen zum steten Waffenfluss der NATO-Staaten gen Kiew.
Vertreter unter anderem der USA, Deutschlands, Britanniens und Frankreichs verpflichteten sich in der „Erklärung von Lugano“ zu einer Art neuem Marshallplan. „Der Wiederaufbau einer freien und demokratischen Ukraine ist unser gemeinsames Ziel“, bekundete die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze. Die Konferenzteilnehmer verständigten sich auf sieben Grundprinzipien: Es geht um die Verpflichtung auf einen demokratischen Prozess, an dem die ganze Gesellschaft teilhat, die Einbindung privater Unternehmen, eine grüne Transformation hin zu einer CO2-freien Gesellschaft, eine digitalisierte Verwaltung und Aufbauprojekte frei von Vetternwirtschaft und Bereicherung. „Der Wiederaufbauprozess muss transparent sein“, heißt es darin im besten grün-alternativen „Wünsch Dir was“. „Die Rechtsstaatlichkeit muss systematisch gestärkt und die Korruption ausgemerzt werden.“ Bei Letzterem wird mit der ukrainischen Regierung der Bock zum Gärtner gemacht.
Die ukrainische Regierung schätzt den Bedarf für den Wiederaufbau auf umgerechnet mindestens 720 Milliarden Euro. Dafür sollten die 300 bis 500 Milliarden US-Dollar an russischen Vermögenswerten herangezogen werden, die weltweit eingefroren sind, forderte der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal: „Russland und anderen möglichen Aggressoren muss klar sein, dass sie für grundlose und ungerechtfertigte Angriffe zahlen müssen.“ Der Berliner „Tagesspiegel“, ansonsten stramm auf Linie mit Kiew, sprach in dem Zusammenhang von einer „Fiktion“ und skizzierte die Problemlage nüchtern: „Tatsächlich werden für den Wiederaufbau der Ukraine eher 1.000 bis 1.500 Milliarden benötigt, und diese gewaltige Summe wird von den westlichen Industrienationen aufgebracht werden müssen. Damit aber fehlen den Geldgebern genau diese Mittel zur Entwicklung der eigenen Infrastruktur – und wie marode die ist, erleben wir Tag für Tag.“
Korruption ist in der Ukraine epidemisch. Vor dem Krieg stand das Land im Korruptionsindex von „Transparency International“ auf Platz 122 von 180. Nichts deutet im Zuge des Krieges auf Besserung hin, im Gegenteil. Es ist weltfremd anzunehmen, dass die Milliardengelder aus dem Westen in Kiew ausgerechnet in Kriegszeiten nicht Korruption auf allen Ebenen befeuern.
84 Seiten umfasst ein Sonderbericht des EU-Rechnungshofs vom September 2021 mit dem Titel „Bekämpfung der Großkorruption in der Ukraine“. Die Ukraine leide „seit vielen Jahren an Korruption, vor allem an Großkorruption“, heißt es darin. Gemeint ist damit „Machtmissbrauch auf hoher Ebene, durch den sich wenige Personen auf Kosten der Allgemeinheit einen Vorteil verschaffen“. Diese Großkorruption ist laut Rechnungshof „für die Rechtsstaatlichkeit und die wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine das Haupthindernis“. Denn sie basiere in der Ukraine „auf informellen Verbindungen zwischen Regierungsbeamten, Parlamentsmitgliedern, Staatsanwälten, Strafverfolgungsbehörden“ und „Geschäftsführern von staatseigenen Unternehmen“. Betroffene Bereiche reichen demnach von der Energiebranche über Maschinenbaubetriebe und Häfen bis in die Medien. Allen Zusagen zum Trotz wurde „keine echte Strategie zur Bekämpfung von Korruption auf höchster Ebene entwickelt“. Dutzende Milliarden Euro an EU-Geldern würden jedes Jahr „verloren gehen“.
Es ist ein Hohn, wenn ausgerechnet Präsident Wladimir Selenski tönt, sein Land habe „in den letzten Jahren eine Antikorruptionsinfrastruktur geschaffen, die beispiellos ist in Europa und vielleicht auf der ganzen Welt“. Die Ukraine, so Selenski, „lebt bereits mit europäischen Standards“. Die „Stiftung Wissenschaft und Politik“ – ein Berliner Thinktank, der Bundesregierung und Bundestag berät – konstatierte im vergangenen Oktober in Sachen Korruptionsbekämpfung dagegen einen „Reformstau“. Und der Präsident ist dabei Teil des Problems: Es sei „Selenski gelungen, während seiner Amtszeit die eigene Macht und die des Präsidentenbüros stetig auszubauen“. Durch die Enthüllungen der sogenannten „Pandora Papers“, das bis heute größte Daten-Leak über internationale Steueroasen, wurde bekannt, dass der heutige Liebling des Westens Dollarbeträge in Millionenhöhe auf Offhore-Konten versteckt hat – wie 38 andere ukrainische Spitzenpolitiker und leitende Amtsträger der Kiewer Präsidialverwaltung, die heute dem Kampf gegen Korruption das Wort reden.
Die „Berliner Zeitung“ stellt in diesem Zusammenhang zu Selenski fest: „Dass ihm die Pandora-Affäre im Lande nicht nachhaltig schadete, ist eine Folge von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Krieg und der mit ihm verbundene breite Aufschwung des ukrainischen Patriotismus haben die Erinnerung an die Pandora Papers verweht.“ Der Krieg öffne „neue Tore für die Großkorruption“, zumal bei Armee und Rüstungsindustrie.
Die wortreichen Bekundungen am Luganer See sind denn auch nichts als hohle Phrasen, wenn Selenski applaudiert wird, statt ihn zur Offenlegung seiner Offshore-Geschäfte anzuhalten. Harald Projanski schreibt dazu in der „jungen Welt“ vom 9./10. Juli treffend: „In der Ukraine kommt es nicht nur gelegentlich zur Veruntreuung öffentlicher Mittel. Der systematische, professionell auf zahlreichen Ebenen organisierte Missbrauch öffentlicher Mittel ist das Charakteristikum des Systems und seine Raison d’Être. Die vielschichtige Kiewer Korruptionspyramide erlaubt zwar einen Austausch führender Figuren. Die ungeschriebenen Spielregeln des Systems aber bleiben: Der führende Clan diktiert den anderen Spielern die Bedingungen. Und die Akteure in diesem Sumpf haben allmählich ihre Fähigkeit verfeinert, westliche Sponsoren und Berater nach allen Regeln der Kunst hinters Licht zu führen.“