Zwischenbilanz der Osterweiterung

EU-Zwangsjacke

Von Anton Latzo

Vor zehn Jahren, am 1. Januar 2007, wurde mit der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in die EU der Prozess der Einverleibung der ehemaligen sozialistischen Staaten in Europa in das imperialistische Bündnissystem im Wesentlichen abgeschlossen. Damit haben die imperialistischen Mächte mittels NATO und EU die militärische, ökonomische und politische Kontrolle über eine ganze Region von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer übernommen. Aus dem Territorium der Warschauer-Vertrags-Organisation, die als Faktor und Initiator des Friedens und der Sicherheit gewirkt hatte, wurde ein geschlossener Bogen vom Baltikum bis ins Schwarze Meer an den Grenzen Russlands.

Groß war damals der propagandistische Aufwand, mit dem der „Sieg der Freiheit über die kommunistische Diktatur“ gepriesen wurde. Gepriesen wurden rosige Aussichten für die Entwicklung dieser Ländergruppe, eine Art „blühende Landschaften“. Heute schreibt der ehemalige Ministerpräsident Rumäniens, Adrian Nastase: „Das erste Jahrzehnt hat sich doch irgendwie als enttäuschend erwiesen. … Billig wurde die Kontrolle der rumänischen Gesellschaft und die Destrukturierung der politischen Klasse mit Hilfe einiger NGOs und einiger Losungen wie Rechtsstaat, Antikorruption, Integritätskriterien durchgeführt. Aber auch das Fehlen von Vernunft und die Unterwürfigkeit von Institutionen des rumänischen Staates gehörten dazu.“

Derselbe Mann war es, der in seinen Funktionen als Außenminister und dann als Ministerpräsident eine Außenpolitik einleitete und betrieb, die eindeutig auf den Westen orientierte. Als Ministerpräsident führte Nastase bis 2004 die Verhandlungen mit der EU, passte das politische System und die Rechtsordnung des Landes dem Verlangen der EU an und führte ebenso die „Reformen“ in Wirtschaft und Gesellschaft durch, die eine Mitgliedschaft ab 1. Januar 2007 möglich machten.

Bei der Suche nach den Ursachen wird von verschiedenen Autoren vor allem auf die Gleichzeitigkeit dreier Krisen verwiesen: die Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone, die Ukraine-Krise und die Flüchtlingskrise. Unerwähnt bleibt die Krise des kapitalistischen Gesellschaftssystems, die Zunahme innerer und äußerer Widersprüche des Imperialismus, die unmittelbare Gefahren für den Frieden heraufbeschwören. Keine Berücksichtigung finden die wachsenden Gefahren für die staatliche Existenz besonders der Staaten in Ost- und Südosteuropa sowie auf dem westlichen Balkan.

Selbst der anerkannte Wirtschaftsexperte des Kapitals Joseph Stiglitz wies kürzlich in der Zeitschrift „Fortune“ darauf hin, dass die Hoffnung, fiskale und monetäre Disziplin könne die Probleme lösen, sehr trügerisch ist. Die reichen Länder seien noch reicher und die armen Länder ärmer geworden. Auch innerhalb der Staaten seien die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden. „Das führt zu Entzweiung statt zu mehr Solidarität“, schlussfolgert Stiglitz. Damit beschreibt er eine wichtige Seite in der Bilanz seit der großen Aufnahmewelle in die EU.

Die Staaten Osteuropas distanzieren sich immer mehr von der EU – aber auch voneinander. Wenn man berücksichtigt, dass auch Italien, Spanien, Portugal und Griechenland mit sich zuspitzenden Widersprüchen in ihrem Verhältnis zur EU konfrontiert sind und Großbritannien den Austritt praktiziert, so ergibt sich: die EU bröckelt von den Rändern her.

Ungarns Verhalten gegenüber der Politik des Diktats der EU nahm rebellische Züge an. Die polnische Regierung sieht ihre Sicherheit mehr durch die USA gewährleistet. Die Visegrad-Gruppe vertritt Positionen, die den von Deutschland diktierten Positionen der EU widersprechen. Bulgariens neuer Präsident plädiert für eine Politik, die stärker auch die Beziehungen zu Russland einkalkuliert. Rumäniens neu gewählte Regierung will auf stärkere Beachtung der nationalen Interessen des Landes innerhalb der kapitalistischen Bündnissysteme pochen. Der erst kürzlich gewählte Präsident Moldawiens erhielt die Mehrheit, weil er gegen den Ausverkauf des Landes an die imperialistischen Mächte aufgetreten ist.

Die Widersprüche, die sich aus den Entwicklungsunterschieden zwischen „Kerneuropa“ und den Staaten der Regionen an der Peripherie ergeben, können offensichtlich unter den Bedingungen des Wirkens der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus/Imperialismus nicht im Sinne der Angleichung des ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungsniveaus gelöst werden.

Die gesamte Periode seit der Aufnahme in die EU hat gezeigt, dass die Zugehörigkeit dieser Länder zur EU und NATO günstigere Bedingungen für die Ausbeutung durch die imperialistischen Mächte und für die Erhöhung des Profits der Konzerne, aber nicht für die Entwicklung der Länder geschaffen hat. Die Schere zwischen den armen und den reichen Ländern in der EU hat sich drastisch geöffnet. Statt Angleichung im Entwicklungsniveau haben sich die Unterschiede und damit die Widersprüche zwischen den Staaten und Regionen verstärkt.

Wir erleben sowohl einen Prozess der Differenzierung der Interessen zwischen den ost- und südosteuropäischen Staaten und den imperialistischen Mächten, als auch einen intensiven Prozess der Differenzierung der Interessen zwischen den ost- und südosteuropäischen Staaten selbst. Dies führt wiederum nicht nur zur Schwächung des Potenzials zur Verwirklichung der nationalstaatlichen Interessen der einzelnen Länder Ost- und Südosteuropas, sondern auch zur Vermehrung der Möglichkeiten, diese Staaten gegeneinander im Interesse der sich auch widersprechenden Vorhaben der imperialistischen Mächte zu missbrauchen.

Es verstärkt sich zugleich die Tendenz der Gruppenbildung von ost- und südosteuropäischen Staaten mit unterschiedlich ausgerichteten Zielen. Dabei bilden sich vor allem zwei Plattformen heraus:

Die USA und ihre politischen und militärischen Aktivitäten zur Mobilisierung von Bündnispartnern, die sich an der Durchsetzung amerikanischer Ziele in Europa und in globalem Maßstab orientieren und

die von Deutschland verfolgte Politik, mittels der EU und auch bilateral mit diesen Staaten (Östliche Partnerschaft) Bedingungen zu schaffen, um die in Europa aus deutscher Sicht noch bestehende strategische Schieflage in ein neues Gleichgewicht im Sinne Deutschlands zu verwandeln.

Das Territorium ehemaliger Warschauer-Vertrags-Staaten ist zu einem Feld geworden, auf dem zwischen den USA und EU, besonders Deutschland, offen ein Konkurrenzkampf um bestimmenden Einfluss auf die Politik der Regierungen dieser Länder, um Vorherrschaft in der Region ausgetragen wird. An der westlichen Grenze Russlands wird vom Baltikum bis ins Schwarze Meer ein Gürtel instabiler Staaten geschaffen.

Es wächst damit die Instabilität in Europa insgesamt, aber auch die Unberechenbarkeit in den Beziehungen in der EU sowie im Verhältnis EU-NATO. Unter Berücksichtigung der Russophobie, die beiden eigen ist, kann das zu einem gefährlichen Substrat für die künftige Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa führen, die zunehmende politische Konflikte einschließt und die Gefahr des Einsatzes militärischer Mittel nicht ausschließt.

Die gesamte Entwicklung schafft gegenwärtig für die USA günstige Bedingungen, um mit wechselnden Partnern ihre Konzeption der Isolierung bzw. Neutralisierung der EU in wichtigen Fragen der globalen Strategie und des Verhältnisses zu Russland zu verfolgen.

Die Region ist zu einem Raum geworden, in dem sowohl die USA als auch die EU, deren Entwicklung durch systematischen Machtzugewinn für Deutschland charakterisiert wird, ihre Herrschaft verfestigen wollen, um eine strategisch wichtige Aufmarschbasis für die Verwirklichung ihrer Expansionsziele gegenüber Russland und für den Zugang zum Nahen und Mittleren Osten zu schaffen.

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"EU-Zwangsjacke", UZ vom 3. Februar 2017



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