Das neue Buch des Autors Andreas Wehr „Europa, wie weiter?“ (PapyRossa Verlag) war Gegenstand zweier Veranstaltungen in Hessen, die am Abend des 23. April in Frankfurt und am 24. April in Marburg stattfanden. Rund 25 Teilnehmer hatten sich im traditionsreichen Club Voltaire in der Frankfurter Innenstadt eingefunden, um an einer Diskussionsveranstaltung mit Andreas Wehr und dem Ökonomen Siegfried Müller-Maige (Attac Frankfurt) teilzunehmen. Beide Diskutanten waren im Juni 2016 Erstunterzeichner des Aufrufs „Eurexit“, der vor den fatalen Konsequenzen der Eurorettungspolitik warnte und eine Alternative zum Euro und die Möglichkeit eines freiwilligen und abgefederten Euro-Ausstiegs forderte. Seither haben sich die Krisenherde vervielfältigt: Zur weiterhin schwelenden Eurokrise kam der Brexit und die sogenannte Flüchtlingskrise. Moderiert wurde die Veranstaltung von Pablo Graubner (Autor der Marxistischen Blätter), unterstützt wurde sie vom Club Voltaire, Attac Frankfurt, den Freidenkern Hessen und den Marxistischen Blättern.
Siegfried Müller-Maige hob zunächst die Stimmen linker Brexit-Befürworter hervor, die Andreas Wehr in seinem Buch zu Wort kommen lässt und über die man hierzulande sonst kaum etwas erfahre. Damit würde auch das verzerrende und falsche Bild korrigiert, das von hiesigen Medien über Brexit-Befürworter vermittelt werde: nur Rechte, Rassisten und dumpfe Nationalisten seien gegen diese EU. Zustimmend äußerte er sich auch über Wehrs Analyse der heuchlerischen Asyl- und Flüchtlingspolitik von Merkel & Co, die sich nicht am Wohl der Flüchtenden, sondern an deutschen Interessen orientierte. Er merkte jedoch an, dass man sich auch fragen müsse, wie es denn mit Europa, das nicht identisch sei mit der EU, weitergehen könne oder müsse. Man müsse die Frage „Was tun“ stellen und nicht nur fragen, „Was nun“. Der Attac-Europakongress im Oktober etwa wolle dieser Frage nachgehen. Dabei soll Kritik an der EU nicht reflexhaft als nationalistisch und rückwärtsgewandt abgetan werden und nicht jede Befürwortung der EU soll als fortschrittlich, weltoffen und internationalistisch abgefeiert werden. Andreas Wehr widersprach nicht der Fragestellung „Was tun“, betonte jedoch die Bedeutung einer realistischen Analyse der Machtverhältnisse in der EU. Man dürfe nicht dabei stehen bleiben zu fragen, welches Europa wünschenswert sei. Wichtiger sei zu fragen, welche EU denn unter den gegenwärtigen Bedingungen überhaupt machbar sei. Mit Blick auf die angestrebte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU zum Beispiel merkte er an, dass es wahrscheinlich besser sei, die imperialistischen Staaten drifteten auseinander – anstatt dass sie ihr militärisches Potential vereinigten.
Ebenfalls etwa 25 Teilnehmer kamen am Abend darauf ins Marburger DGB-Büro, in das DKP und SDAJ Marburg zu Vortrag und Diskussion mit Andreas Wehr geladen hatte. Die DKP hatte ja auf ihrem 22. Parteitag eingeschätzt, dass gegenwärtig „der Kampf gegen die Aufgabe nationaler Souveränität (…) mit der Perspektive eines Austritts aus der EU und der Eurozone“ zu führen sei, was durchaus ein Anlass ist, mit anderen linken Kräften qualifiziert über diese Perspektive zu reden. In Marburg legte Wehr zunächst seine Sicht auf die gegenwärtigen Krisen der EU sowie einen möglichen Euro- und EU-Ausstieg dar. Er zitierte dazu zustimmend die linke britische Tageszeitung „Morning Star“ vom Vortag des Brexit-Referendums, am 22. Juni 2016: „Eine Stimme für Verlassen bringt nicht heute den Sozialismus. Aber sie wäre ein Schritt hin zur Wiederherstellung von demokratischer Kontrolle über unsere Wirtschaft, und sie würde ein Hindernis für Fortschritt beseitigen“. Ablehnend gab er die Aussage des Europaabgeordneten der Grünen, Sven Giegold, wieder: „Nicht der Euro, sondern die Nationalisten spalten Europa.“ Seiner Meinung nach verhalte es sich genau umgekehrt. Es seien der Euro und die EU, die diese Kräfte hervorbringen. Die EU zerstöre sich selbst, wenn sie weiter die Souveränitätsrechte ihrer Mitgliedsländer missachte. Sie müsse akzeptieren, dass Krisenländer aus dem Euro austreten können. Sie müsse gegenüber Großbritannien von der Politik des Abstrafens abgehen. In der Frage der Migration müsse das Grundprinzip gelten, dass jedes Land das Recht hat selbst zu entscheiden, wer einwandern darf.
Während es in Bezug auf Euroaustritt und Brexit überwiegend Zustimmung von den Teilnehmenden gab, wurde in der Migrationsfrage durchaus kritisch nachgehakt. So fragte ein Teilnehmer, ob die Position des Referenten etwa so zu verstehen sei, dass die Forderung nach einer verschärften Flüchtlingspolitik, wie sie rechte Parteien in Europa vertreten, einfach akzeptiert werden müsse. Andreas Wehr erwiderte daraufhin, dass hier zwischen innenpolitischer Auseinandersetzung und zwischenstaatlicher Politik unterschieden werden müsse. Es könne nicht Aufgabe linker Kräfte sein, Eingriffe in die Souveränität anderer Staaten zu fordern. Denn derlei Eingriffe würden in der EU ja nicht etwa gegen die Interessen der imperialistischen Staaten, sondern im Gegenteil im Interesse insbesondere Deutschlands vorgenommen, das in der EU eine Hegemonialstellung einnehme.