Erst kurz im Amt, trägt die neue Regierung einige Differenzen in der Außenpolitik offen zur Schau. Dabei heißt es im Koalitionsvertrag, diese „soll aus einem Guss agieren und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten“ (Seite 143). Dass die grüne Außenministerin Baerbock aber zum Beispiel in Sachen „Nord Stream 2“ eine andere Haltung an den Tag legt als der rechtssozialdemokratische Kanzler Scholz, ist bekannt. Unter dem Stichwort einer „wertebasierten Außenpolitik“ wird dieser Konflikt öffentlich ausgetragen. Dabei geht es den grünen Falken um die Härte gegenüber ihrem systemischen Rivalen China, auf dessen Kooperation das exportorientierte deutsche Kapital aber angewiesen ist. Dass sich dieser Konflikt weiter zuspitzen wird, zeigt auch Baerbocks unübliches Auswechseln des SPD-nahen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt. Einigkeit besteht jedoch in den Grundfragen bundesdeutscher Außenpolitik und damit auch über die nächsten deutschen Aufgaben in EU und NATO.
Angesichts der humanitären Katastrophe an der polnischen EU-Außengrenze wirkt es zynisch, wenn im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP geschrieben steht: „Die EU und Deutschland dürfen nicht erpressbar sein. Wir wollen verhindern, dass Menschen für geopolitische oder finanzielle Interessen instrumentalisiert werden. Wir werden hierfür prüfen, ob die Feststellung des Schutzstatus in Ausnahmefällen in Drittstaaten möglich ist.“ (141) Das Flüchtlingshilfswerk der UN nennt diese Praxis beim Namen. Es seien „Bemühungen, sich der Verantwortung zu entziehen“, sie verschärfen die Situation. „Schon heute leben fast 90 Prozent der Flüchtlinge auf der Erde in Entwicklungsländern oder den am wenigsten entwickelten Ländern, die trotz ihrer begrenzten Ressourcen ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen und Verantwortungen nachkommen“, so das UNHCR zu ähnlichen Überlegungen der dänischen Regierung. Doch das hindert die Ampel nicht daran, offen zu formulieren, worum es geht: „Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben. Wir starten eine Rückführungsoffensive, um Ausreisen konsequenter umzusetzen, insbesondere die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern.“ (140) Wer bleiben darf, das soll künftig durch eine „einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ herausgefunden werden, relevant wird dafür scheinbar weniger der objektive Schutzstatus als ein politisches Bekenntnis zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“ (138)
Auch sonst klingt der Koalitionsvertrag wie eine Kampfansage: „Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen.“ Dafür ist die Ampel-Regierung auch bereit, „wo nötig mit einzelnen Mitgliedstaaten voran(zu)gehen.“ (131) Gemeint ist hier das strategische Bündnis mit Frankreich, welches sich der sogenannten digitalen Souveränität verschrieben hat (siehe 132, 144). Deswegen setzten sich vor allem die Grünen für Mehrheitsentscheidungen im Rahmen der qualifizierten Mehrheit (von Deutschland und Frankreich) ein. Eine Vertiefung dieses Konzept soll zum einen im Rahmen eines „verfassungsgebenden Konvents“ und der Nebelkerze einer EU-Außenministerin erreicht werden (131, 135), zum anderen über den nächsten Versuch zur Schaffung einer EU-Armee.
Nachdem Versuche zur Schaffung einer solchen Armee mit einheitlichen Kommandostrukturen erst auf deutsche und dann auf französische Initiative nicht besonders erfolgreich waren, versuchen es die Koalitionäre nun so: „Wir treten für eine verstärkte Zusammenarbeit nationaler Armeen integrationsbereiter EU-Mitglieder ein, vor allem bei Ausbildung, Fähigkeiten, Einsätzen und Ausrüstung, so wie zum Beispiel von Deutschland und Frankreich bereits geplant. Hierfür wollen wir gemeinsame Kommandostrukturen und ein gemeinsames zivil-militärisches Hauptquartier schaffen.“ (136) Klar ist: „Bei allen diesen Schritten muss die Interoperabilität und die Komplementarität mit Kommandostrukturen und Fähigkeiten der NATO gesichert bleiben.“ (ebd.) Es ist dies der Versuch, wie auch bei der europäischen Digitalplattform, auf samtenen Pfoten aus dem Windschatten der bisherigen Führungsmacht USA herauszutreten.