Niki Müller, Kiel, zur Überwindung der Armut in China

Etappensieg

Niki Müller, Kiel

Seit Gründung der Volksrepublik 1949 wurden rund 850 Millionen Chinesen aus der Armut befreit. Damit hat China etwa 70 Prozent zur weltweiten Armutsreduzierung beigetragen – ein gewaltiger Erfolg der Befriedigung materieller und kultureller Bedürfnisse der Menschheit.

In der Debatte über Chinas sozialistische Orientierung wird häufig geäußert, es gäbe Reiche, privates Eigentum an Produktionsmitteln, marktwirtschaftliche Elemente und Verteilungsprobleme. Epochale Erfolge wie die Niederringung der Armut werden zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber nicht als Errungenschaft der Primärphase des Sozialismus gewürdigt. Doch kann dieser Kampf von der sozialistischen Zielsetzung getrennt werden? Ist die Ausrottung der Armut nicht eine zentrale Herausforderung einer sozialistischen Gesellschaft? Und noch dazu eine dringende, konkrete, für die breite Masse erfahrbare Verbesserung ihres Lebens? Lenin wollte „dem verarmten, verelendeten, qualvoll hungernden Kleinbauern“ durch Taten vermitteln, dass die Kommunisten sofort praktisch helfen: „Entweder werden wir das beweisen, oder er wird uns zum Teufel jagen.“

China war und ist – trotz enormer industrieller Entwicklung – ein Land mit starken ländlich-bäuerlichen Strukturen, geprägt durch einen großen Anteil an Subsistenzwirtschaft und geringes monetäres Einkommen. Trotz starken Rückgangs leben heute 200 Millionen Haushalte oder 40 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Durchschnittlich leben weltweit 43,5 Prozent in Siedlungen mit weniger als 10.000 Bewohnern.

Bereits die Aufhebung der Agrarsteuer 2006 diente der Orientierung „Industrie fördert die Landwirtschaft, Städte unterstützen ländliche Gebiete“. Der 18. Nationalkongress der KPCh im Jahr 2012 beschloss die Beseitigung der absoluten Armut und den Aufbau einer Gesellschaft mit mäßigem Wohlstand bis 2021. Das Etappenziel wurde vorfristig erreicht: Die Armutsquote Chinas sank von 84 Prozent im Jahr 1981 auf jetzt 0,14 Prozent.

Aber das ist nur ein Aspekt der nationalen Armutsbekämpfung. Die Lebenserwartung stieg von 68 Jahren 1990 auf nunmehr 79 Jahre. Über 43 Millionen Wohnungen in vernachlässigten städtischen Gebieten und über 24 Millionen Häuser auf dem Land wurden neu errichtet.

Drache - Etappensieg - China-Debatte - Hintergrund

Die Armutsbekämpfung wurde dabei nicht auf Geldtransferprogramme reduziert. Vielmehr handelte es sich dabei um ein umfassendes systemisches Herangehen, das sowohl regionale Strukturveränderungen wie neue Arbeitsplätze und moderne Infrastruktur als auch individuelle Hilfen beinhaltete. Seit 2013 wurden mehr als drei Millionen Beamte höherer Regierungsebenen als Teil von 255.000 Arbeitsteams in alle Teile des Landes entsandt, um für mindestens zwei Jahre in Dörfern zu leben und dort die Armutsbekämpfung voranzutreiben und zu überwachen. Die individuelle Armutsbekämpfung wurde offensiv-aufsuchend betrieben, um etwa älteren Menschen eine antragslose Unterstützung zu gewährleisten. Die Anweisung an die Kader lautete: Lassen Sie nicht zu, dass Maßnahmen, die den Menschen dienen, ungenutzt bleiben!

Der häufig zur Messung von Armut und Wohlstand herangezogene Gini-Index ist kein Maßstab. Er gewichtet eine Veränderung in der Einkommensverteilung stets gleich – egal, ob sie an der Spitze, unten oder in der Mitte stattfindet. Kasachstan hat den gleichen Gini-Index wie Norwegen, die korrupte Ukraine belegt gar einen Spitzenplatz. Der Index ist ein schlichtes statistisches „Streumaß“ ohne qualitative Aussagekraft.

Wir müssen genauer hinschauen. Eine in über 65 Ländern durchgeführte Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass das Stadt-Land-Gefälle für 40 Prozent der Ungleichheit maßgeblich ist. China hat einen hohen Einwohner-anteil im ländlichen Raum. Für die Angleichung der Lebensverhältnisse ist deshalb der Ausbau der ländlichen Industrie sowie der dortigen Dienstleistungen und Infrastruktur entscheidend. Kurzfristig führt die Entwicklung allerdings regional zu einer Steigerung der Ungleichheit durch das Nebeneinander von Subsistenzwirtschaft und gut bezahlten Arbeitsplätzen in der Industrie.

„Die Kommunistische Partei hat keine Angst, aber was wirklich Angst macht, ist die Armut.“
(Mao Zedong, 1975)

Empirische Belege zeigen, dass eine Verringerung der Ungleichheit des Bildungsniveaus der Schlüssel zur Verringerung von Einkommensungleichheit und Armut ist. China forciert deshalb die Pflichtschulbildung bis in die allerletzten Winkel der Provinz. Durch die vor Kurzem erfolgte Einschränkung außerschulischer privater Lehrangebote, die sich eher Wohlhabende leisten konnten, wurden viele Lehrkräfte in den Städten arbeitslos. Sie werden allerdings für den Ausbau der Bildungsangebote in den Provinzen gebraucht und können dort einen Beitrag zur Überwindung der Ungleichheit leisten.

Bereits 2014 verkündete Präsident Xi Jinping die „neue Normalität der chinesischen Wirtschaft“ mit zwei Merkmalen: Erstens Verlangsamung des Hochgeschwindigkeitswachstums und zweitens die Transformation von groß angelegtem, umfangreichem Wachstum zu qualitativ hochwertigem und intensivem Wachstum. Das soll helfen, wirtschaftliche Ungleichgewichte zu reduzieren. Neben den ökonomischen Maßnahmen sollte der Kampf gegen den zunehmenden Einfluss westlicher Ideologien aufgenommen werden – in Xis Worten: „Muster irregeleiteten Denkens, wie die Verehrung des Geldes, Hedonismus, Egozentrik und historischer Nihilismus waren verbreitet (…). Das alles hatte ernste Auswirkungen auf das Denken der Menschen und die öffentliche Meinung.“ Es findet derzeit eine intensivere Auseinandersetzung mit den negativen Auswirkungen und Fehlentwicklungen der ökonomischen Maßnahmen statt, die das „chinesische Wunder“ der Armutsausrottung in historisch einmaliger Zeit garantieren konnten – auch in der Verteilungsfrage. Ziel ist, den unteren Grenzstein anzuheben und den oberen zu senken.

Die Zeitschrift „Tricontinental“ des internationalen „Instituts für Sozialforschung“ kommt deshalb zu dem Schluss: „Chinas Leistung ist weder ein Wunder noch ein Zufall, sondern ein Beweis für sein sozialistisches Engagement.“

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"Etappensieg", UZ vom 24. November 2023



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