Die Gefahr eines weltumspannenden Krieges ist derzeit so groß wie noch nie. Es besteht die reale Möglichkeit, dass wir in den atomaren Abgrund taumeln oder Opfer eines konventionellen Krieges werden. In dieser Situation sollen ab dem kommenden Jahr US-Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden“, hieß es im Aufruf des Wiesbadener Bündnisses gegen Raketenstationierung zur Demonstration am 29. März in Wiesbaden.
Im Protest der über 4.000 wurde in vielfältiger Weise die Beachtung des Friedensgebots des Grundgesetzes und des Artikel 69 der hessischen Verfassung angemahnt. Die Anfang Februar von Patrik Köbele, Wera Richter und Ralf Hohmann eingereichte Verfassungsbeschwerde gegen die geplante Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen hat mittlerweile die erste – kleine – Hürde genommen und ein BvR-Aktenzeichen erhalten. Gleichwohl ist die Chance, auf verfassungsjuristischem Wege einen Stopp der Eskalation in Richtung eines Krieges zu erreichen, eher überschaubar.
Sowohl in der verfassungsrechtlichen Literatur und umso mehr in der Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts spielt das Grundrecht auf Frieden die Rolle eines Mauerblümchens. Ein Mauerblümchen, das in den letzten Monaten – auch durch neue Entscheidungen der Obergerichte – zusehends eingemauert worden ist. So hat der Bundesgerichtshof am 16. Januar festgestellt, dass ein Ukrainer, der den Kriegsdienst verweigert, dennoch in sein Herkunftsland abgeschoben werden kann, auch wenn ihn dort Strafhaft erwartet. Es sei verfassungsrechtlich unbedenklich, dass im Kriegsfall das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt werden könne. Da mag man fragen, was denn dieses Recht überhaupt soll, wenn es genau in dem Fall, wozu es existiert, nicht mehr gelten soll. Dabei handelt es sich übrigens nicht um ein „Sonderrecht“ für friedliebende Ukrainer: En passant verweist das Gericht darauf, dass die Aussetzung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auch für Deutsche „prinzipiell nicht undenkbar“ sei. Spätestens im Kriegsfall werden die Grundrechte ausgesetzt.
Es spricht viel dafür, dass die Grundrechte auch schon früher im Zuge der Kriegsvorbereitung flöten gehen. Was sonst will uns der Vertrag der schwarz-roten Koalition, die schon vor Amtsantritt der Rüstungsindustrie Milliardengeschenke zugeschustert hat, damit sagen, wenn wir dort in Zeile 2693 lesen: „Durch eine Änderung der Rechtslage in der Zivilen Verteidigung ermöglichen wir Handlungsfähigkeit bereits vor dem Spannungs- und Verteidigungsfall. Die Gesamtverteidigung und insbesondere die Umsetzung des OPLAN Deutschland wird als militärische und zivile Aufgabe auf Ebene der Bundesregierung gemeinsam gesteuert und koordiniert.“ Dass das Primat des Militärischen gilt, ist allgegenwärtige Erfahrung. Was aber mag es bedeuten, wenn vor dem Beginn von bewaffneten Auseinandersetzungen die „Handlungsfähigkeit“ unter Führung der Berliner Kriegswilligen „ermöglicht“ werden soll?
Schon in einer EU-Studie vom Mai 2020 wurde beklagt, dass in Deutschland das Notstandsrecht weitgehend „ungenutzt“ sei und für eine beschleunigte „Integration des Ausnahmefalls in das einfache Recht“ Sorge zu tragen sei. Die Antwort darauf erfolgte im Jahr 2023 in der Bundestags-Drucksache „Das Notstandsrecht im Lichte des Krieges in der Ukraine“. Zu gerne machen sich die Kriegskoalitionäre – gleich ob Rot-Gelb-Grün oder Schwarz-Rot – die darin enthaltene Feststellung des verstorbenen Staatsrechtlers Klaus Stern zu eigen: „Welches Maß an Bedrohung bestehen muss, ist (letztlich) nicht definierbar, sondern der Natur der Sache nach nur ‚dezidierbar‘ (zu entscheiden). Insofern ist der Begriff prognostisch ausfüllungsfähig.“ Das Kriegsrecht vor dem Waffengang wird demnach durch den „Spannungsfall“ ausgelöst und dazu reichen „erhöhte internationale Spannungen“. Die Kriegsvorbereitung macht das Grundgesetz flexibel.
Die anstehende „Entsperrung von Sicherstellungs- und Vorsorgegesetzen“, die seit dem Startschuss zu den Notstandsgesetzen im Jahr 1968 still und heimlich erlassen wurden, gibt einen Vorgeschmack auf kommende Jahre: Dienstverpflichtung der Wehrfähigen in der Rüstungsindustrie, Konfiskation persönlichen Eigentums für militärische Zwecke, Fahrverbot für Privat-Kfz und öffentlichen Verkehr, wenn die Panzer rollen, und vieles mehr.
Die geplante Raketenstationierung ist eskalierendes Moment dieser Zusammenhänge. Dazu braucht die „Koalition der Willigen“ nicht unbedingt die todbringenden US-Raketen wie „Dark Eagle“ und „Tomahawk“. Längst hat sie eigene Programme aufgelegt wie „HYDEF“ (Hypersonic Defence Interceptor Study) oder ELSA (European Long-Range Strike Approach), die russische Städte mit dem „Deep Precision Strike“ in Asche legen sollen. Mit der Verfassungsbeschwerde auf dem Tisch werden sich die Karlsruher Richter fragen lassen müssen, was sie zur Verhinderung des Krieges beigetragen haben.