In Anne Goldmanns Roman „Das größere Verbrechen“ wird klar, dass die Zeit nichts ändert

(Es gibt ein) Davor und (ein) Danach

Von Bee

Anne Goldmann

„Das größere Verbrechen“

Ariadne, Hamburg 2018

235 Seiten, kart., 13 Euro

Frau Sudic geht nur noch selten aus dem Haus. Ihre Kraft ist verbraucht. Sie sitzt am offenen Fenster, hängt ihren Gedanken nach, erinnert sich. An ihr Leben davor, an ihre Schuld. Auch Theres hat vor vielen Jahren einen schwerwiegenden Fehler gemacht, ihn verdrängt und sich ein schönes Heim erarbeitet, mit Mann und Tochter. Ana ist das Bindeglied zwischen Frau Sudic und Theres. Sie putzt bei beiden, um ein Studium an der Kunstakademie finanzieren zu können.

In Anne Goldmanns Roman „Das größere Verbrechen“ stehen die drei Frauen exemplarisch für die Verwüstungen, die Gewalt, Machtmissbrauch oder auch nur Lieblosigkeit bei den Opfern anrichten. Mitten im Leben, umgeben von vertrauten Menschen, sind sie einsam. Angstbesetzt und hilflos, ist ihnen jede Sicherheit abhanden gekommen. Sie fühlen sich schuldlos schuldig und sind nahe daran zu zerbrechen. Ihre Leben werden zusammengehalten von einer Normalität, die sie sich mühsam angeeignet haben. In kurzen, stimmigen Szenen, einer ebenso poetischen wie präzisen Sprache wird das Geschehen lebendig, die Machtverhältnisse deutlich, und wir erleben, wie Gewalt alle verändert. Die Opfer und die Täter. Die schnellen Perspektivwechsel und die verschiedenen Zeitebenen stellen die Verbindung her zwischen dem Leid der Protagonistinnen und den Formen von Gewalt, denen sie ausgesetzt sind oder waren. Die Autorin lässt Frau Sudic ihre eigene Geschichte erzählen, Theres und Ana sind Handelnde, die sie begleitet. Dabei verzichtet sie auf Spekulationen, erzählt nur, was ihre Figuren preisgeben. Und deren Erinnerungen sind sprung- und lückenhaft.Wir Lesenden müssen uns ein eigenes Bild machen. Auf Erinnerungen ist nicht immer Verlass.

Ein Anruf ändert Theres’ Leben abrupt. Es ist der Sohn, den sie nach der Geburt hat abgeben müssen. Sie war 17, ihr Vater, Herr des Hauses und ein hohes Tier in der Kommunalpolitik, duldet kein uneheliches Kind in der Familie. Jetzt, 18 Jahre später, taucht Jan bei ihr auf, will Teil ihres Lebens werden. Und Theres tut alles, um ihre Schuld an ihm gutzumachen. Seine Halbschwester Nina erobert er im Sturm. Thomas dagegen, Theres’ Mann und Ninas Vater, fällt aus allen Wolken ob des späten Geständnisses. Er war selbst ein Pflegekind und schleudert Theres seine ganze Wut auf die Mutter, die ihn zur Adoption freigab, entgegen. Theres’ fragile heile Welt gerät ins Wanken. Und dann geschieht ein Mord.

Fast zeitgleich nimmt Theres ihre Besuche als freiwillige Betreuerin bei Frau Sudic auf. Erzählt ihr von Jan und dessen Vater Edin, einem Bosnier. Dadurch kommt bei dieser das tief Vergrabene wieder hoch, zwar bruchstückhaft, aber mehr und mehr. Eine glückliche Kindheit in Bosnien. Dann 1992, der Krieg erreicht ihr Dorf. Nachbarn werden zu Feinden. Erste Vergewaltigungen, die ersten Abtransporte der Frauen in Lager. „Räume mit Wänden, vernarbt wie von einer Krankheit.“ Sie hält durch, gebiert einen Sohn, der viele Väter hat und den sie nie wieder sehen wird. „Der Mensch ist so: Er reißt sich zusammen, solange er muss. Aber er ist immer auf seinen Vorteil aus.Er nimmt sich was er kriegen kann, sobald er die Gelegenheit dazu hat. Im Rudel gibt es kein Halten. Er verroht. Er entdeckt seine Lust am Quälen. Er tötet. Jeder, das weiß ich heute, jeder ist zu allem fähig.“

Anas Eltern führten ein Bohèmeleben. „Eine Telenovela, mit oder ohne Zuschauer, die kein Ende nahm“. Ana war ihnen immer nur im Weg gewesen. Sie ist der Gegenpart zu den beiden Frauen. Stark und selbstbewusst, weiß sie, was sie will, hat einen klaren, realistischen Blick auf ihre Umgebung und die sie prägenden Verhältnisse. Sie sieht Theres „penetrante Inszenierung einer glücklichen Familie“ und Frau Sudic unausgesprochenes, verdrängtes Leid.

Anne Goldmann erzählt von Verbrechen. Bestialischen Verbrechen an Frauen im Balkankrieg. Dem alltäglichen Machtmissbrauch von Vätern und Ehemännern. Und sei es nur durch Rücksichtslosigkeit oder die Ausübung einer Verfügungsgewalt, die sie ihr eigen nennen. Frau Sudic hat die Gräuel des Krieges überlebt, ihren Dämonen aber ist sie nicht entronnen. Theres entkommt ihren Schuldgefühlen nicht. „Gibt es ein größeres Verbrechen, als das eigene Kind wegzugeben?“ Sie kann ihre Handlungsmöglichkeiten nicht erkennen, reagiert panisch und fasst einen folgenschweren Entschluss. Beide haben „nicht gelebt, sondern sind gelebt worden.“, wie Peter Härtling es einmal seiner Protagonistin in seinem Roman „Eine Frau“ in den Mund gelegt hat. Die Tat vor der Tat kommt selten zur Anklage und ist doch das größere Verbrechen.

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"(Es gibt ein) Davor und (ein) Danach", UZ vom 8. Februar 2019



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