Rede von Lühr Henken (Co-Sprecher Bundesausschuss Friedensratschlag) auf den UZ-Friedenstagen

„Es geht um unser Überleben“

Lühr Henken

Bedroht Russland die NATO? Ein solcher Angriff käme Russlands Untergang gleich, analysierte Lühr Henken in seiner Rede während der Friedensmanifestation auf den UZ-Friedenstagen in Berlin. Schon heute verfüge die NATO über sehr viel mehr als nur „ausreichendes“ Abschreckungspotential. Wir dokumentieren den Beitrag in voller Länge:

Die bilaterale Vereinbarung zwischen den Regierungen der USA und Deutschlands vom 10. Juli 2024 in Washington, ab 2026 auf US-Stützpunkten in Süddeutschland US-amerikanische Mittelstreckenraketen SM-6 und Dark Eagle sowie Marschflugkörper des Typs Tomahawk in unbekannter Anzahl zu stationieren, muss alle Menschen in Deutschland und Europa in höchstem Maße besorgen und sie herausfordern, so laut es geht Alarm zu schlagen. Was als als Abschreckung verkauft wird, erweist sich als strategische Offensivoption gegen Russland. Was als Entspannungsübung deklariert wird, vergrößert in unerhörtem Maße die Atomkriegsgefahr in Deutschland und Europa.

Abschreckung gegen Russland setzt voraus, dass damit ein bevorstehender Angriff Russlands auf NATO-Territorium abgewendet werden soll. Wir kennen die Aussage von Verteidigungsminister Pistorius: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“ Die unbewiesene Begründung für seine Forderung ist, dass Russland nach dem Ukraine-Krieg in fünf Jahren so sehr aufgerüstet haben werde, dass es beispielsweise das Baltikum angreifen würde. Dem könne nur Einhalt geboten werden, wenn Deutschland bis dahin zur Abschreckung massiv aufgerüstet habe.

Auch ich bin dagegen, dass Russland in der Lage ist, ein NATO-Land anzugreifen. Generell gilt die militärische Faustregel, dass ein Angreifer in einem Krieg etwa über die dreifache Kapazität an Soldaten und Kriegswaffen verfügen muss als der Verteidiger, um einen Krieg für sich zu entscheiden. Das aktuelle Kräfteverhältnis zwischen Russland und der NATO weist hier ein drastisches Übergewicht zugunsten der NATO aus. Die NATO verfügt über das Dreifache an Soldaten, das Vierfache bei schweren Waffen des Heeres und der Luftwaffe und bei der Marine über das Drei- beziehungsweise das Achtfache. Wenn man dann noch die Militärausgaben hinzu nimmt, ergibt das für dieses Jahr 1.475 Milliarden Dollar für die NATO und 110 Milliarden für Russland. Ein Angriff Russlands auf NATO-Gebiet käme seinem Untergang gleich. Die NATO verfügt bereits heute über weit mehr als ein ausreichendes Abschreckungspotenzial!

Die neuen US-Waffen in Deutschland verfolgen nicht den Zweck der Abschreckung. Sie sind Bestandteil eines neuen geostrategischen US-Konzepts, das seit 2016 intensiv verfolgt wird – lange vor dem 24. Februar 2022. In diesem weltumspannenden Multi-Domain-Operations-Konzept (MDO) soll durch weitreichende Präzisionswaffen wie Hyperschallraketen, Künstliche Intelligenz und verzugsloses Zusammenwirken der drei Teilstreitkräfte mit den Weltraumkräften und dem Cyberraum Russland und China dauerhaft in einen Alarmzustand versetzt werden. Es geht dabei zu allererst um Schnelligkeit. In einer aktuellen Broschüre des Planungsamts der Bundeswehr heißt es dazu wörtlich, Ziel der MDO sei es, „dem Gegner im Grunde nur noch schlechte Reaktionsmöglichkeiten zu geben und möglichst seine Ressourcen zu überfordern, sei es Zeit, Personal, Material.“

Die US-Waffen gegen Russland sollen voraussichtlich im bayerischen US-Stützpunkt Grafenwöhr stationiert werden, denn deren Kanoniere sind bereits vor Ort. Das Kommando der Multi-Domain-Task-Force ist in Wiesbaden, das Oberkommando in Stuttgart. Die Hyperschallrakete Dark Eagle trifft Ziele jenseits des Urals (> 3.700 km), die Tomahawk fliegt 2.500 km, die SM-6 1.600 km weit. Sie können zwei Drittel der strategischen Frühwarnradare und auch zwei Drittel der in Silos gelagerten strategischen Interkontinentalraketen Russlands unter Bedrohung setzen. Das untergräbt das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland. Hinzu kommt, dass die strategische Offensivwaffe Dark Eagle aufgrund der extrem hohen Geschwindigkeit, sehr hohen Treffgenauigkeit und nicht vorhersehbaren Flugmanöver ihres losgelösten Gleitflugkörpers nicht abfangbar ist. Sie ist speziell auf zeitkritische Hochwertziele wie Menschen ausgerichtet, die in dem Moment getroffen werden sollen, wenn sie sich mal nicht bewegen – wie die Präsidenten Russlands und Chinas.

Es handelt sich bei Dark Eagle um eine geostrategische Angriffswaffe, die, vergleichbar mit den Pershing II vor 40 Jahren, auf die Enthauptung des politischen Gegners ausgerichtet ist. Ihre Stationierung in Deutschland erhöht die Spannungen zwischen Deutschland und Russland drastisch. Sie hat mit der Abschreckung Russlands nichts zu tun, sondern provoziert Russland zu einem Präventivangriff auf Deutschland. Aufgrund der geringen Vorwarnzeiten werden russische Fehlinterpretationen wahrscheinlicher, was wiederum falsche militärische Reaktionen fördert.

Als erste Reaktion nach Bekanntwerden des ersten erfolgreichen Dark-Eagle-Tests am 28. Juni hat Russland sein einseitiges Moratorium aufgehoben, solange keine Boden-Boden-Raketen aufzustellen, wie es die USA auch nicht tun. Putin kündigte die Herstellung neuer Nuklearwaffen an. Wer meint, durch neue US-Raketen in Deutschland dem Frieden zu dienen, dreht in Wirklichkeit weiter an der Rüstungsspirale.

Die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen droht ein irreparables Desaster hervorzurufen. Sie ist brandgefährlich. Bundeskanzler Scholz muss die Stationierungsentscheidung zurücknehmen, um Schaden von Deutschland und Europa abzuwenden. Die Konflikte zwischen der NATO und Russland müssen anders als militärisch gelöst werden.

Die Bevölkerung muss zu mutigen, zahlreichen und vielfältigen Aktionen animiert werden. Es geht um unser aller Überleben.

Ich zähle dabei auf die zuverlässige und einsatzfreudige Unterstützung von euch, von DKP und SDAJ. Eine erste Gelegenheit ist die zahlreiche Teilnahme an der bundesweiten Friedensdemonstration in Berlin am 3. Oktober 2024.

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"„Es geht um unser Überleben“", UZ vom 30. August 2024



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