Tagung der MES zur Kontinuität zwischen bürgerlicher und faschistischer Herrschaft

„Es gab keine Stunde Null“

„Die Sozialdemokratische Partei sieht (…) ihre Aufgabe darin, alle demokratischen Kräfte Deutschlands im Zeichen des Sozialismus zu sammeln. Nicht nur die politischen Machtverhältnisse, sondern auch die ökonomischen Grundlagen müssen geändert werden.“ (Westzonen-Parteitag der SPD, Mai 1946)

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ (Ahlener Wirtschaftsprogramm der CDU, Februar 1947)
Die Herrschenden brauchten viel Demagogie, um dem Drang der Massen zu grundlegender Veränderung nach den Grauen des Faschismus zu begegnen. Es gelang ihnen im Westen mit Hilfe der Besatzungsmächte, die Mehrheit in ein neues politisches System mit alten ökonomischen Grundlagen und alten Machtverhältnissen zu integrieren.

Deshalb brauchte man eine Geschichtsschreibung, die behauptete: Alles sei anders geworden, dem Nationalsozialismus folge ein geläuterter, liberaler westdeutscher Kapitalismus. Nach der Hoffnung auf eine „Stunde Null“ wurde die Lüge von der „Stunde Null“ geboren.

Der Kontinuität zwischen faschistischer und bürgerlich-liberaler Herrschaft des Monopolkapitals und ihrer Verschleierung widmete sich die Tagung der Marx-Engels-Stiftung, die am 10. Oktober in Stuttgart, stattfand. Kurt Baumann beschäftigte sich in seinem Referat mit den Verbrechen des deutschen Faschismus nach dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad. Je näher die Niederlage der Wehrmacht rückte, desto härter sei der Terror gewesen, desto intensiver die Ausbeutung der deutschen Arbeiterklasse und insbesondere der unterworfenen Völker, desto grausamer die Verbrechen. Der Wahnsinn des Massenmords werde uns als Wahnsinn einer wie ein verwundetes Tier in die Ecke gedrängten Naziführerclique verkauft. So werde verdeckt, dass die alten Nazis irrational und dabei gleichzeitig zweckrational handelten: Sie hätten bereits an morgen gedacht, an den Morgen nach der Niederlage. Umso weniger Kommunisten, Antifaschisten oder auch nur Zeugen der Verbrechen überleben, desto besser für die Ausgangsposition der nach wie vor Herrschenden nach der Niederlage. Man habe aus 1918/19 gelernt, so Baumann.

Hermann Kopp führte aus, wie führende Fachleute um den SS-Mann Ohlendorf (zu dessen weiterem Umfeld auch der spätere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard gehörte) Pläne für eine deutsche Nachkriegsordnung ausgearbeitet hätten, die den Interessen des großen Kapitals Rechnung trügen. Deshalb seien in den letzten Kriegsmonaten wichtige Institutionen aus den Gebieten östlich der Elbe in den Westen Deutschlands verbracht worden. Banken und Konzerne hätten nach der Niederlage wertlose Reichsanleihen rechtzeitig abgestoßen und die gigantischen Kriegsprofite ins Ausland verschoben. Die Flucht von führenden Faschisten sei über die „Rattenlinie“ nach Lateinamerika vorbereitet worden, damit die „weniger belasteten“ Kräfte sich den Westmächten als Helfer gegen die Sowjetunion andienen konnten – was häufig auch angenommen wurde.

Jürgen Lloyd ging es um das Wesentliche, das sich in den verschiedenen personellen, politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Kontinuitäten nach 1945 ausdrückte: das Klasseninteresse des Monopolkapitals. Die Ausdehnung des gesellschaftlichen Charakters der Produktion im imperialistischen Stadium des Kapitalismus erfordere immer stärker die bewusste Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Glieder im Sinne des Monopolkapitals. Gerade diese Zusammenarbeit für die Zwecke des Kapitals beschädige aber systematisch die Interessen der nicht-monopolistischen Schichten. Lloyd zeichnete nach, wie das politische Personal des Monopolkapitals nach Wegen sucht beziehungsweise suchen muss, durch Ideologie die Massenbasis für die jeweiligen imperialistischen Vorhaben zu sichern. Dass ihnen das derzeit gelingt, schreiben sie selbst relativ offen in der Sonderausgabe des „Munich Security Report“, der kürzlich veröffentlicht wurde. Dennoch bleibt die Notwendigkeit gelingender Manipulation und Formierung ihre Achillesferse.

Darum drehte sich auch ein wichtiger Teil der Diskussion: Wie können wir eine angemessene (antifaschistische) Strategie entwickeln, die es uns erlaubt, heute den Kampf um die Verteidigung demokratischer Rechte zu führen, indem wir den Widerstand gegen ihre Demontage durch die Parteien der „demokratischen Mitte“ organisieren und dabei in unserer Bündnisarbeit die Erkenntnis des Interessengegensatzes verbreiten.

Den Referaten der MES-Tagung ist eine Veröffentlichung und weitere Verbreitung zu wünschen.

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"„Es gab keine Stunde Null“", UZ vom 23. Oktober 2020



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