Das Verhältnis von Marxismus, Kirche und Sozialismus in der DDR

Es darf alles nur böse gewesen sein

Dieter Frielinghaus

Am 16. Mai starb der promovierte Theologe und evangelisch-reformierte Pastor Dieter Frielinghaus im Alter von 95 Jahren im brandenburgischen Brüssow. Er hatte sich während seines Studiums in Göttingen in den 1950er Jahren gegen die Wiederbewaffnung Westdeutschlands engagiert und war 1957 nach Dresden gegangen. Von 1975 bis zu seiner Pensionierung 1993 war er Pfarrer an der Kirche von Bergholz in Mecklenburg-Vorpommern, nahe der Grenze zu Polen. Von 1984 bis 1990 vertrat er evangelisch-reformierte Gemeinden (die sich von Johannes Calvin, nicht von Martin Luther herleiten) in der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung. Nach 1990 wurde er Mitglied der DKP.

In der DDR wirkte Frielinghaus im „Weißenseer Arbeitskreis“, einer kirchlichen Bruderschaft in Berlin-Brandenburg. Die Vereinigung gab von 1982 bis 2006 die „Weißenseer Blätter“ heraus, in denen er oft publizierte. UZ dokumentiert in Auszügen einen seiner Artikel, der unter dem Titel „Wir haben uns nicht geirrt in unserem Einsatz für den Sozialismus“ in Heft 4/1990 der „Weißenseer Blätter“ erschien.

Der Autor reagierte mit seinem Text auf das „Gubener Wort linker Christen“, dessen Entwurf Pfarrer Michael Domke im Heft 3/1990 der „Weißenseer Blätter“ veröffentlicht hatte, sowie auf einen Brief Domkes. Im „Gubener Wort“ hieß es unter anderem: „1a) Wir haben nicht geirrt, als wir im Kommunismus eine weltliche Entsprechung zum Reich Gottes gesehen haben. b) Wir sind in die Irre gegangen, als wir nach der Befreiung vom Faschismus mit Gewalt die kommunistische Gesellschaft aufbauen wollten (…) 2a) Wir haben nicht geirrt, als wir in der Befreiung der Menschen der Zwei-Drittel-Welt von ökonomischer Ausplünderung, politischer und kultureller Bevormundung eine Entsprechung zum Befreiungshandeln Gottes, wie es uns in der Bibel bezeugt wird, gesehen haben. b) Wir sind in die Irre gegangen, als wir unsere Kritik am Bestehenden für einen demokratischen Sozialismus zurückgehalten haben, um die erste bewusste und umfassende Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft nicht zu gefährden. (…) 3a) Wir haben nicht geirrt, als wir die Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln unterstützt haben. b) Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, die menschlichere Gesellschaft müsse gegen ihre Feinde auch mit unmenschlichen Mitteln erkämpft und verteidigt werden.“

Zu dem Entwurf Domkes hatte der Theologe Hanfried Müller, der Herausgeber der „Weißenseer Blätter“, bereits im Heft 3/1990 einen Diskussionsbeitrag veröffentlicht, in dem er theologische und politische Einwände erhob. Domke antwortete mit einem Brief, der im Heft 4/1990 zusammen mit dem Text von Frielinghaus erschien. In seinem Brief hielt Domke gegen Kritik Müllers unter anderem daran fest, man könne „Menschen für das Recht der Schwachen“ nur ohne Druck gewinnen und „über demokratische Mitbestimmungsformen gesellschaftliches Eigentum sichern“. Die gerechtere Gesellschaft sei „ohne Krieg (und der bedeutete Untergang) nicht gegen, sondern mit allen Menschen, auch den Menschen, die vom Kapital profitieren, zu entwickeln“. Dabei komme es „auf solche Beteiligungsstrukturen an, die es ermöglichen, dass alle Menschen vom Reichtum und den geschaffenen Werten profitieren und dass dabei die Natur erhalten wird“.
Arnold Schölzel

In Ihrem Brief suchen Sie unseren Weg in die Zukunft: Es ist nicht der Weg des Kapitalismus; es ist der Weg der „Gerechtigkeit für die Schwachen“ und der „Bewahrung der Natur“; die Aufgabe verlangt, dass wir viele, eigentlich alle für diesen Weg gewinnen. (…) Ich lese Ihren Brief in Verbundenheit, weil er von Ihnen kommt. Plötzlich merke ich, dass einige Wendungen genauso von anderen gebraucht werden könnten, mit denen Sie und ich leider nicht einig gehen können.

„Beteiligungsstrukturen“?

„Beteiligungsstrukturen“, die „alle Menschen“ einbeziehen. Nun höre und lese ich täglich, dass wir solche Strukturen endlich hätten beziehungsweise noch viel besser bekämen. Dabei habe ich mich noch nie derart von jeglicher Beteiligung ausgeschlossen gefühlt und teile dies Gefühl mit den Menschen, unter denen ich lebe.

Die „Strukturen“ werden doch von denen bestimmt, die die Macht haben. Die Verfechter der jetzt eingeführten Strukturen versichern sich und uns unermüdlich, die Gerechtigkeit sei in Gang gekommen, die Zerstörung der Natur gestoppt. Mit Ihnen muss ich nicht darüber rechten, dass das nicht wahr ist. Bei Rückgang ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit für wahrscheinlich mehr Menschen bei uns als das in Westdeutschland durchschnittliche Drittel der Bevölkerung werden wir die wenigen mächtigen Länder noch verstärken, die der Mehrheit aller Völker das Leben zur Qual machen. Schon tragen wir dazu bei, die Zahl der davon betroffenen Länder zu vermehren. Ich nenne nur Nicaragua und Kuba. Dafür haben wir die spätbürgerliche parlamentarische Demokratie bekommen. Ihren Nutzen enthalten die ökonomisch und politisch Mächtigen dieser Strukturen der Mehrheit der Völker mit Gewalt vor, gegebenenfalls und ohne zu zögern durch terroristische Diktatur. Versuche mit anderen Strukturen dulden sie keineswegs. So soll ihnen und allen anderen ihre Demokratie die einzig wahre bleiben. Auch bei der Täuschung und Frechheit, die sie uns mit ihr alsbald haben erleben lassen, erröten sie keinen Augenblick. Und eben an dieser Stelle haben sie uns erwischt. In der gegenwärtigen Verwirrung rufen fast alle sozialistischen Demokraten oder die es sein sollten, allein die Demokratie ihrer Feinde verdiene den Namen. Sie rufen es bald noch inniger als diese.

An dieser Stelle würde ich mit Ihnen, lieber Bruder Domke, gerne noch etwas einiger werden. Vermutlich billigen Sie der „Beteiligungsstruktur“ des Kapitalismus gar nicht zu, dass sie eine sei. Aber Sie erwähnen es nicht, obwohl gerade sie uns nun beherrscht. Sie sprechen nur davon, dass unser Sozialismus eine solche Struktur nicht oder zu wenig hatte. Gewiss hatte er sie zu wenig. Aber bei allen Leiden und aller leider nicht geäußerten oder unterdrückten Kritik, dies war noch immer ein relativ geringer Mangel gegenüber jenem zum Himmel schreienden Skandal. Zwar skandalisiere ich mich mit dieser Äußerung unter obwaltenden Umständen selber. Tatsache ist dennoch, dass die „freie Welt“ und nun wir in ihrem Chorus die Leiden und die Machtverhältnisse im Sozialismus beklagen und anklagen, als ob mit ihrer Beseitigung die Welt fast in Ordnung käme, in selbstgefälligen amerikanischen Augen sogar ganz. Dabei ist sie nur noch mehr aus den Fugen durch unvergleichlich Schlimmeres: Abrichten von Menschen zum Foltern; horrender Reichtum auf Kosten von Müttern, die ihren Kindern nichts zu essen geben können, obwohl sie sich krank- und totschuften, auf Kosten von Arbeitern, Bauern und Priestern, ja bürgerlichen Politikern, Juristen und Journalisten, die jeden Augenblick auf ihre Ermordung durch staatlich kontrollierte Kommandos gefasst sein müssen; Ingangsetzung, Unterhaltung und militärische Absicherung dieses ganzen Unwesens durch die reichen Länder, die sich der individuellen Menschenrechte rühmen. Überdies ist dieser weltweite Skandal die letzte Ursache der Mangelhaftigkeit und des Unrechtes, die dem Sozialismus anhafteten.

Antikommunismus

Das ist es, was ich kaum fasse: Nahezu jede – auch Ihre – Kritik und Selbstkritik der vorerst hinter uns liegenden Entwicklung blendet den entscheidenden Umstand aus, unter dem jeder bisherige Sozialismus real existieren musste: den Antikommunismus des ökonomisch, politisch, militärisch und propagandistisch-psychologisch Stärkeren. Als ob zum Beispiel 1952, 1953, 1961 rücksichtslos Regierende jeweils nach Laune Dummes oder Böses über uns beschlossen hätten. Als ob wir uns nicht hätten mühsam aufrichten müssen nicht allein aus den Folgen des Zweiten Weltkrieges, sondern auch gegen den sozialen Anschlag auf die Völker Osteuropas unter der Drohung des Dritten Weltkrieges.

Da komme ich mit den Varianten des Begriffes „Strukturen“ nicht weiter. Der Begriff ist, glaube ich, irgendwo unter uns linken oder halblinken Christen erfunden worden vor 30 oder mehr Jahren, um in einer bürgerlich verhafteten Kirche, ohne sie gleich zu schrecken, von Gesellschaftsordnung reden zu können. Mit seiner Unschärfe hat man aber sich selbst die Lizenz erteilt, den Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht mehr namhaft zu machen. Das nützte und nützt dem Kapitalismus und Imperialismus, die übrigens ehemals keine Hemmung kannten, sich selber so zu nennen: Es handelt sich um eine Feststellung. Für den Sozialismus beklage und bekenne ich, dass er nicht gut genug war. Aber deswegen vergesse ich niemals, dass der mächtige antikommunistische Imperialismus einen schlechten Kommunismus braucht, will und zumindest mitverursacht. Die Verbrechen im Sozialismus kommen aus dem grauenvollen Misstrauen, das dann auch weit hergeholt wurde. Aber erdichtet war es nun wirklich nicht, es hatte grauenvolle, zahlreiche und bei weitem nicht nur in ideologischer Verhetzung bestehende, von dem Imperialismus fort und fort seit 1917 gelegte Ursachen.

„Wir rüsten sie tot“, hatte noch Rea­gan gesagt. Dies scheint nun gelungen. Doch Furcht und Hass des Kapitalismus sind geblieben. Darum muss man aus Verbrechen des Sozialismus den verbrecherischen Sozialismus machen. Auch mit dem Christentum ließe sich dergleichen anstellen, sogar mit größerem Scheinrecht. Wäre es nicht so domestiziert, ginge man auch ihm jetzt an den Kragen. Denn eine so große Offensive des Kapitals wie die gegenwärtige bedarf auch besonders großer Absicherung, Tarnung und Ablenkung.

2713 Bundesarchiv Bild 183 1985 0913 305 Berlin Franzoesische Friedrichstadtkirche - Es darf alles nur böse gewesen sein - DDR, Dieter Frielinghaus, Kirche, Marxismus - Theorie & Geschichte
In der frisch renovierten Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin fand 1988 die Jubiläumsfeier „15 Jahre Sonderbauprogramm“ statt. Zwar waren Staat und Kirche in der DDR strikt getrennt, dennoch wurde der Bau von Gotteshäusern unterstützt, ab 1973 in einem Sonderbauprogramm, mit dem der Neubau als auch die Renovierung von Kirchen und karitativer Einrichtungen gesichert wurde. Die Kirche dankte mit Unterwanderung. (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1985-0913-305 / Junge, Peter Heinz / CC-BY-SA 3.0 / Bearb.: UZ)

Offensive gegen den Sozialismus

Warum diese Offensive jetzt? Die Abrüstungspolitik der sozialistischen Länder und die Friedensbewegung in den kapitalistischen Ländern sind vor nun bald drei Jahren zum ersten Mal an den Rand eines nachhaltigen Erfolges getreten. Der INF-Vertrag und zumal die sowjetischen Schritte dahin haben in Abermillionen bisher resignierter oder gleichgültiger Menschen die Hoffnung auf Frieden und friedliche Koexistenz geschürt und die Wirkung der Lüge von der Bedrohung aus dem Osten geschwächt. Eine sich schon abzeichnende substantielle Abrüstung würde dem Sozialismus einen nie gekannten Spielraum zu eigener Entfaltung gegeben haben. Seine Ökonomie würde sich haben freimachen können, er würde sich selber demokratisiert und verschönert haben (nicht geschönt). Er wusste und wollte es. Die ersehnte Möglichkeit zu ergreifen ist eine Absicht, die sich bis in die Reden von Politikern verfolgen lässt, die heute so verfemt sind, dass sie positiv zu erwähnen hieße, sich selber noch unmöglicher zu machen. Mit der Abrüstung tauchte für den Kapitalismus die Gefahr eines Sozialismus ohne oder mit viel weniger Kanten auf. Gefahr? Dem chilenischen Sozialismus eignete die bisher engste Verbindung mit den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Da haben sie ihn keine drei Jahre sein Leben fristen lassen.

War die Abrüstung nicht mehr ganz zu verhindern, musste die friedliche Koexistenz aufgehoben werden durch Ausschaltung der Charakteristika des Koexistenzpartners. Auch darf die Abrüstung selber ja nicht zu weit gehen. Während kein westlicher Militärexperte mehr Anzeichen einer sowjetischen Gefahr ausmacht, wollen nicht einmal die eifrigsten Abrüstungspolitiker in der NATO auf die atomare Abschreckung verzichten. Dies ist nicht meine Einschätzung, sondern ihre wiederholte Beteuerung. Ich meine, der Erfolg des Kapitals über Osteuropa macht nur klarer, dass seine Massenvernichtungsmittel sich nicht gegen einen verhassten Staat richten, sondern gegen die Völker.

Warum nur geben heute nicht einmal Sozialisten zu, dass all die Jahrzehnte die Abrüstungspolitik der sozialistischen Staaten aufrichtig, wegweisend und nützlich für alle war? Und nicht nur das, sie stand ihnen stets an erster Stelle. Nicht zuletzt die Politik der DDR hat sich hier bis zum Oktober vorigen Jahres unermüdlich eingesetzt. Sie wurde endlich anerkannt auch von bürgerlichen Politikern, die das heute vergessen machen müssen, indem sie hasserfüllt einschlagen sowohl auf geschlagene Politiker, deren Partnerschaft sie einmal gesucht haben, als auch auf Sozialisten, die ihnen näherstehen als jene Partner, bevor sie geschlagen waren.

Menschlichkeit?

Gewiss wollen alle Linken ihre Sache friedlich und für den Frieden im umfassenden Sinne so gestalten und durchsetzen, dass alle Menschen einbezogen sind. Sie müssen es, und das besser als bisher. Aber dazu müssen sie nicht nur ihre Fehler, sondern auch ihren Feind genauer erkennen. Dieser hat einen großen Sieg errungen. Ihre Aufgabe sieht, wieder einmal, schier unlösbar aus. Trotzdem wollen und sollen sie bedenken, dass kein Mensch ihr Feind ist, sondern der Kapitalismus. Aber der hat die Macht und gibt nicht nach wegen wachsender Überzeugung oder auch einmal einer eindrücklichen Wahlbekundung der Schwachen. Die brauchen schon politische Macht. Die Linken werden alles tun, um auf dem Weg dahin und einmal bei ihrer Ausübung menschlich zu sein und immer menschlicher zu werden.

Auch um dieser Menschlichkeit willen ist es also notwendig, immer mehr Menschen für den linken Weg zu gewinnen. Auch „Menschen, die vom Kapital profitieren“, schreiben Sie, denn die gerechtere Gesellschaft hat sich nicht gegen Menschen, sondern „mit allen Menschen“ zu entwickeln.

Ja, nur leider nicht ohne Weiteres. Zu der Einigkeit, die ich mir in diesem Betracht mit Ihnen wünsche und wahrscheinlich habe, gehören so viele Erwägungen über Menschen, die keineswegs von jenem Profit lassen wollen und denen wir keineswegs zum Willen reden oder tun dürfen, dass es über den Rahmen dieser Zeilen hinausginge, ihrer bleiben noch zu viele, wenn ich nur eingrenze auf „uns Christen“. So geziemt es sich ja auch für mich und Sie und unsere Freunde. (…) Zu reden ist von einer kirchlichen Besserwisserei, hinter der mit Selbstverständlichkeit die kaum je von Zweifel gestreifte Überzeugung steht, die bürgerliche Ordnung sei richtig und jedenfalls normal, die sozialistische falsch und vor allem abnorm und die Kirche stehe schon immer auf der richtigen Seite. Man müsste diese Selbstverständlichkeit unverschämt nennen, wenn sie nicht bei den meisten ihrer Nutzer so völlig unreflektiert bliebe. Sie ist aber unverschämt in ihrer Betätigung.

Rechte und falsche Buße

Heute leitet sie die allgemeine Buße an. (…) Die Klassenfrage ist in unserer Kirche uneingestanden lebhaft. Wie sonst könnte man, angesichts der kaltherzigen Gefährdung so vieler Existenzen hier und der sicheren Vertiefung des Elends der Dritten Welt, Gott und sich selber für die Befreiung loben und die Bußübungen der anderen fordern, zählen und bewerten?

Gewiss, es bleibt noch Raum für eigene Buße. Aber auch sie wird sofort festgelegt. Zwar gab es – ich weiß, auch dies auszusprechen ist nicht mehr stubenrein – demokratische Möglichkeiten, wenn man zugeben wollte, dass eine anders konzipierte Demokratie noch nicht gleich Nichtdemokratie sein muss. Aber wir sollen nun einmal nicht Buße tun dafür, dass wir überhaupt dabei waren, noch dazu, obwohl wir nicht einmal den Ton angeben konnten. Buße für „Anpassung“ also. Das pejorative Wort will den Gedanken nicht aufkommen lassen, als könne jemals irgendeiner von uns sich etwa ehrenhafterweise beteiligt haben mit eigenem Willen, eigener Überzeugung und aus eigenem Antrieb. Ohne Unterbrechung gewispert und regelmäßig laut gepredigt hatte stets die Formel gegolten: Ablehnung vor Anerkennung oder auch nur dem Versuch dazu. Nach dem Neuen Testament ist das Gebet für die Obrigkeit die erste staatsbürgerliche Betätigung des Christen und der Kirche. Dazu muss sie allerdings, und sei es für einen Augenblick, erst einmal als Obrigkeit akzeptiert sein, ich sage nicht: anerkannt nach dem Wert ihrer Absichten und deren Verwirklichung, obwohl ja auch das einen Versuch wert wäre und Christen anstünde. Ich denke, unsere Obrigkeit war anderswo, ersehnt in der Ferne, im Herzen nah, aber nicht etwa im Himmel.

Wie und auf welcher Stufe Kirchenmenschen mit Staatsmenschen reden durften, musste protokollarisch geregelt sein – von der Kirche, und der Staat folgte dem, wenn das heute auch kein Mensch mehr glaubt. Wo solches Reden freundlich geschah, und selbst dies kam vor, konnten wir uns kaum lassen vor Rührung über unseren Mut oder unsere – Herablassung. Es sind kirchenoffizielle und persönliche Äußerungen getan worden, die von den Sozialisten so verstanden wurden und verstanden werden sollten, dass wir gesellschaftlich mit ihnen solidarisch seien. Mindestens nachträglich erweisen sie sich als unwahr. Dafür, finde ich, müssten wir Buße tun.

Marxismus und Kirche

So hoch die Hürde vor jedem Gespräch mit Sozialisten aufs Neue war, so löste sie sich schlechterdings in Wohlgefallen auf, wenn es einer Begegnung mit Vertretern „westlicher“ Parteien, Regierungen, Banken oder Medien galt. Dieser Begegnungen wurden es immer mehr. Sie waren keinerlei moralischer oder gar geordneter Rechenschaftspflicht unterworfen. Aber als ich Mitglied der Kirchenleitung war, wagte ich fast keinen Verkehr mit marxistischen Freunden. Wie denn hätte ich mit ihnen nicht sprechen sollen über das, was uns gemeinsam bewegt? Aber ich wusste, dass es in der Kirche als Verrat angesehen werden könnte und im Zweifelsfall würde. Ich wollte auch nicht durch den Schein die Lauterkeit dessen in Frage stellen, was ich in der Kirche oftmals gegen die große Mehrheit meinte anmerken zu müssen. Trotzdem kam ich aus dem Vorwurf und Geruch der Angepasstheit nicht heraus.

(…) Die Medien des Westens sind fuderweise aus unserer Kirche beliefert worden. Wie immer es gemeint war, wir wussten, was sie daraus machen würden und gemacht haben. Ihre Aufgabe und erklärter Wille war schließlich die Bekämpfung des Sozialismus. Wer soll glauben, dass es dennoch um Förderung, Entfaltung und also Leben des Sozialismus ging? Diese Freundschaft mit den Medien der Gegenseite reichte bis in Kreise der linken Christen. (…)

Nicht alles böse

Lieber Bruder Domke, an dieser Stelle dürfte die Ursache dafür liegen, dass wir im Sozialismus nicht oder nicht richtig kritisiert haben. Wir waren von der Haltung unserer Kirche her nicht frei dazu. Wir waren von daher vor allem nicht frei, ihn von Herzen zu fördern. Wir lebten und leben nun erst recht mit und von „Menschen, die vom Kapital profitieren“. Hierüber hoffe ich mit Ihnen ganz einig zu sein.

Jede Kritik im Sozialismus wurde von den Mächtigen als Kritik am Sozialismus verübelt, klagte und klagt man. Jede – das stimmt zwar nicht, aber da wir wissen, was gemeint ist, lasse ich mich darauf ein. Hier lag eins unserer wirklichen Probleme, für viele eine wahre Not. Nur ist zu erinnern: Jede Kritik im Sozialismus wurde in unserer Kirche freudig-begierig als Kritik am Sozialismus aufgegriffen und verbreitet. Muss ich dieser Feststellung hinzufügen, oder hätte ich es vorher sagen sollen, dass jede Kritik im Sozialismus als Kritik am Sozialismus aufgegriffen, lautverstärkt, generalisiert, vergröbert und verfälscht wurde durch die imperialistischen Medien? Damals genügte ihnen eine Kritik im Einzelnen, um das Erforderliche daraus zu machen. Heute allerdings verlangen sie, dass es wirklich eine pauschale Verwerfung gewesen sein muss. Christa Wolf nun hat nach der Wende einige Male klargemacht, dass wir das Reich des Bösen nun doch nicht hatten und dass es der Sozialismus nicht war, wogegen sie gekämpft hat – und aus ist es mit ihrer künstlerischen Reputation bei der führenden westdeutschen Literaturkritik.

Nur schlecht?

Entsprechend heute bei uns im Inneren. Es darf alles nur böse gewesen sein, alle haben dauernd gelitten, es gab keine Freuden. Zwar weiß jeder, dass dies nicht wahr ist, aber wehe dem, der es anders sagt. Dabei ist es so gewesen: Wir hatten, wie Menschen in anderen Ländern auch, unsere Probleme, und manche davon waren sogar lösbar. Aber wir haben jedes Problem mit der Lupe hervorgeholt, die nichts weiter erkennen lässt, haben jedes Problem als Ausgeburt des Bösen genommen, also nichts zu seiner Lösung getan und es so wirklich unlösbar gemacht. Nun möchte ich es aus Gründen der Nüchternheit und der Fairness mit der alten ehemaligen Landarbeiterin in unserem Dorfe halten, die am 18. März krakeelte: „Mögen sie uns beschissen haben, es ging uns doch gut!“ und hinging und PDS wählte. Viele werden es nach ihr, aber mit ihr wissen, dass wir mit allen Flecken und Runzeln den Sozialismus schon einmal hatten und fortan dürftiger leben werden (mit Ausnahme, weil sie zu den Siegern gerechnet werden, wahrscheinlich der kirchlichen Mitarbeiter).
Wo ertönt aus der Kirche ein Wort der Empörung gegen die Manipulation aus dem Westen? Das stets geschmähte „Neue Deutschland“ hat noch immer Denken verlangt. „Bild“ kämpft mittels eines wahren Apparats der Raffinesse erfolgreich gegen das Denken überhaupt, der Übertölpelte hält sich für originell, und die Kirche hat nichts gesehen. Schweinigeleien in fast jeder Zeitung, ernster gesprochen Erniedrigung der Frauen. Aber dafür nun auch Horoskop und Andacht am Wochenende. Die Freiheit hat ihren Preis. Dabei habe ich Neofaschismus und Jagd auf Ausländer noch nicht einmal erwähnt, man weiß ja, dass auch daran die SED schuld ist. (…)

Dies alles und noch viel mehr müssen wir wohl erwägen, wenn wir uns für die gerechtere Gesellschaft abermals aufmachen wollen und auch mit „Menschen, die vom Kapital profitieren“. Wir müssen wissen, wie unsäglich schwer es ist. Vor allen Dingen müssen wir von uns selber mehr verlangen an Mut und Geduld, an Entschiedenheit und Ungeduld und an der Bereitschaft, Verunglimpfung zu ertragen. Aber wir werden ja nicht so bald aufhören können, uns zu schämen, dass wir die Welt mit den Problemen eines wohlgenährten Volkes beschäftigen, das zahllose Leckereien gewohnt ist, es nun aber noch besser haben soll, während viele Europäer in West und Ost wiederum Angst bekommen vor deutscher Macht und die Not der Hungernden noch nachhaltiger aus dem Bewusstsein der Satten verdrängt wird.

Linke Selbstkritik

(…) Als Ursache des jetzigen Falls sehe ich die Schuld aus dem inneren Gang des Sozialismus weder so übergroß noch so ausschließlich. Dagegen sehe ich die Bedingungen für ein neues Aufstehen in Europa fast noch verzweifelter. Aber wer darf denn sagen, dass es auf die Dinge in Europa noch zuerst ankommt, noch, dass die europäische Linke sich nicht kräftigen werde! Mutatis mutandis möchte man die Schrift „Die Krise der Sozialdemokratie“ (Junius-Broschüre) allen Marxisten neu empfehlen, aber auch uns linken Christen und allen Linken.

In ihrem Anhang, den „Leitsätzen über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“, bezeichnet Rosa Luxemburg als die „Hauptaufgabe des Sozialismus heute“, in internationaler Weite „die breiten Massen zur politischen Aktionsfähigkeit“ zu führen, als die „nächste Aufgabe des Sozialismus“ die „geistige Befreiung des Proletariats von der Vormundschaft der Bourgeoisie“.

Notwendig zurückhaltender möchte ich eine Formulierung für Ihren Entwurf versuchen:

  • Wir haben nicht geirrt in unserem Einsatz für den Sozialismus als der gerechteren Gesellschaftsordnung.
  • Wir sind in die Irre gegangen dadurch, dass wir die Möglichkeit schwerer äußerer wie auch innerer Niederlagen bei Aufbau und der Verteidigung des Sozialismus zumal unter den materiellen und geistigen Schlägen und Verführungen des Antikommunismus nicht ernst genug als Sache unserer Mitverantwortung genommen haben, die wir uns von keiner Seite streitig machen lassen durften.
  • Wir haben nicht erfüllt und auch nicht erkannt das in der gegebenen Lage erforderte Maß an Wissen, Hingabe und Gemeinsamkeit für die bessere Gerechtigkeit noch an der unverzichtbaren Kritik des Imperialismus, unserer bürgerlichen Vorurteile, der falschen Bindungen unserer Kirche und des Unrechts, das bei der Ausübung der dem Sozialismus noch so nötigen Macht geschah.

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"Es darf alles nur böse gewesen sein", UZ vom 5. Juli 2024



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