Was lange selbst im antikommunistischen Musterstaat BRD undenkbar schien, wurde am Freitag von der Bundesregierung bestätigt: Deutsche Waffen sollen wieder russisches Territorium beschießen. Zuvor hatte US-Präsident Joseph Biden Kiew erlaubt, US-Waffen gegen Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab dazu das Motto aus: „Selbstverteidigung ist keine Eskalation.”
Dieser Umdeutung folgt auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der mit dem historischen Tabubruch eine selbst gesetzte rote Linie zunächst ohne weitere Begründung überschritt. Er behauptete am Montag in einem Interview mit „Antenne Bayern”: „In der Sache sind wir sicher, dass es nicht zu einer Eskalation beiträgt, weil – wie der amerikanische Präsident ja auch geschildert hat – es nur darum geht, dass zum Beispiel eine Großstadt wie Charkiw verteidigt werden kann.” Unverdrossen sprach Scholz dabei von „Besonnenheit”: „Und darauf können sich die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland verlassen.” Offenbar bis zur nächsten Eskalation, die nicht Eskalation heißt. Als Stichwortgeber steht der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksi Makejew, bereit. Er verlangte am Dienstag bei „Zeit online“, die ukrainische Luftverteidigung solle von NATO-Gebiet aus erfolgen.
Kurz vor dem EU-Wahl-Tag am 9. Juni zerfällt jedenfalls das Bild vom „Friedenskanzler” und Scholz greift zur Notbremse: Am Donnerstag (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) wollte er eine Regierungserklärung zur Sicherheitspolitik abgeben. Der frühere SPD-Vorsitzende und Außenminister Sigmar Gabriel hatte in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner” bereits den Propagandaton zum Kurswechsel angestimmt: „Im Grunde müssen wir die Russen so niederkämpfen, wie das mal mit der Sowjetunion gelungen ist.“ Dass man sich dafür mit dem Kiewer Regime einen Stellvertreter mit der passenden Mentalität ausgesucht hat, bewies Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk. Bei Facebook feierte sie den angeblichen ersten Treffer mit westlichen Waffen: „Es brennt wunderschön … Auf russischem Territorium.“
Moskau nimmt die Dinge zwar gelassen, aber so wie sie sind: Der Westen spielt mit dem Feuer. Am Montag zitierten russische Nachrichtenagenturen jedenfalls Vizeaußenminister Sergej Rjabkow, der vor Journalisten erklärte: „Ich möchte die amerikanischen Führer vor Fehleinschätzungen warnen, die fatale Folgen haben können.” Es sei nicht das erste Mal, dass das Regime in Kiew versuche, selbst in der strategischen militärischen Sphäre zu stören: „Wir werden diese Versuche stoppen.“ Das bezog sich offenbar auf Drohnenangriffe Kiews auf Frühwarnsysteme der russischen Atomraketenabwehr am 23. und 26. Mai. Rjabkow erklärte nun, die Antwort könne „asymmetrisch” ausfallen, die Position der USA sei „maximal unverantwortlich”. Es werde für sie nicht „kostenfrei” ausgehen.
Putin hatte am 28. Mai darauf hingewiesen, dass Zielauswahl und Flugmissionen für moderne Angriffssysteme ferngesteuert oder automatisch erfolgen, „ohne jegliche Anwesenheit ukrainischen Militärpersonals“. Das geschehe durch diejenigen, die diese Systeme herstellten und lieferten. Er warnte, die NATO-Staaten müssten „sich darüber im Klaren sein, womit sie spielen“.
Offenbar ermutigt durch die Angriffslust seiner Paten attackierte der ukrainische Präsident Wladimir Selenski am Sonntag China. Er beschwerte sich auf einer Sicherheitskonferenz in Singapur, auf der sich die Verteidigungsminister der USA und der Volksrepublik zum ersten Mal seit Jahren wieder getroffen hatten, Peking behindere das von ihm und der Schweiz einberufene Treffen zum Ukraine-Krieg am 15. und 16. Juni bei Luzern. Weil Russland dazu nicht eingeladen ist, hatte das Außenministerium in Peking zuvor am Freitag erklärt, ein solches Treffen solle die „gleichwertige Teilnahme aller Parteien und eine faire Diskussion über alle Friedenspläne beinhalten”. Es ließ eine Teilnahme offen. Kurz nach Selenskis Ausfall meldete dpa, Saudi-Arabien werde absagen. Scholz will anreisen, Selenski hat „bei Fuß“ verlangt.