„Sozial ist, was Arbeit schafft“, „Die Löhne sind zu hoch“, „Der Sozialstaat ist unbezahlbar“, „Private Unternehmen sind effizienter als der Staat“, „Hohe Steuern bremsen die Wirtschaft“ oder „Es gibt keine Klassen mehr“. Wer kennt sie nicht, diese Behauptungen, mit denen Stimmung gemacht wird für mehr Markt und weniger Politik, für mehr soziale Ungleichheit und weniger Umverteilung, für mehr Vereinzelung und weniger soziale Sicherheit? Die beiden Gewerkschafter und Wirtschaftswissenschaftler Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf haben 101 solcher Thesen in ihrer im PapyRossa Verlag erschienenen Publikation „Wirtschaftsmärchen – Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales“ kritisch hinterfragt.
Die Autoren wenden sich gegen den politischen Zeitgeist, der sich am besten mit dem Schlagwort Neoliberalismus zusammenfassen lässt. Dahinter steht ein Denken, das Anfang der 1970er Jahre von Milton Friedman und den „Chicago Boys“ entwickelt wurde, in den späten 1990er und den 2000er Jahren dank Thinktanks wie der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ als alternativlos vermarktet wurde und das noch bis heute die Politik dominiert. Deren Vertreter teilen dabei mindestens zwei Grundannahmen: erstens eine marktradikale Grundhaltung, der zufolge Markt, Konkurrenz und Privateigentum dem höchsten Wohle dienlich seien, zweitens die Überzeugung, dass dem Staat in deren Durchsetzung eine zentrale Rolle zukomme, der sich ansonsten aber aus dem wirtschaftlichen Geschehen herauszuhalten habe.
Märkte sind daher für den Neoliberalismus nichts einfach Gegebenes. Sie werden gemacht. Gesellschaften als Marktgesellschaften zu gestalten, ist sein bewusstes Ziel – und das weit über die Wirtschaft im eigentlichen Sinne hinaus. Unter den Schlagworten Selbstverantwortung, Freiheit, Leistung, Anreiz oder Wettbewerb sollen Marktprinzipien in immer mehr Bereichen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft wirken. Dafür werden Schutzvorkehrungen in der Arbeitswelt geschleift, soziale Sicherungssysteme abgebaut, öffentliche Einrichtungen und Unternehmen privatisiert, Regulierungen von Märkten und Unternehmen um- und abgebaut. Staatliche Handlungsmöglichkeiten werden beschränkt, Steuern gesenkt, und nicht zuletzt bestimmte Begriffe und Vorstellungen in den Köpfen verankert. So werden zum einen Feindbilder geschaffen wie das vom teuren Hängematten- und Wohlfahrtsstaat, von halsstarrigen Gewerkschaften, von faulen Armen und wirklichkeitsfremden Sozialromantikern. Zum anderen wird der Eindruck vermittelt, dass neoliberale Politik sinnvoll und richtig sei und warum diese und jene Maßnahme absolut zwingend so und nicht anders umgesetzt werden muss.
Gegen diese scheinbare Alternativlosigkeit des Neoliberalismus beziehen die Autoren klar Stellung und unterstützen den Leser mit zahlreichen Fakten in der politischen Argumentation und bei der Widerlegung der weitverbreiteten „Märchen“. Genau das macht die Arbeit von Schreiner und Eicker-Wolf so lesenswert und für die politische und gewerkschaftliche Arbeit besonders wertvoll.
Patrick Schreiner/Kai Eicker-Wolf
Wirtschaftsmärchen – Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales
PapyRossa, 269 Seiten, 19,90 Euro