Ausstellungen zu Themen der Zeitgeschichte vermitteln ein Geschichtsbild. Die Ausstellung zur Ruhrbesetzung vor 100 Jahren, die derzeit vom Ruhr Museum in der Zeche Zollverein gezeigt wird, vermittelt das, was die Träger und Organisatoren der Ausstellung als herrschendes Geschichtsbild etabliert sehen wollen. Hier liegt die eine erschreckende Erkenntnis, die wir aus dieser Veranstaltung gewinnen können. Was dort an Informationen über die im Januar 1923 erfolgte Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen zu gewinnen ist, würde sich ebenso gut bei Wikipedia oder in einem beliebigen anderen Nachschlagewerk finden lassen. Einen Besuch ist das nicht wert.
Nun erleben wir bei „modernen“ Ausstellungen zur Geschichte schon seit mindestens 20 Jahren immer seltener, dass mit ihnen ein Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge vermittelt wird. Gelenkt vom ökonomischen Druck, dem Ausstellungsträger und öffentliche Museen unterliegen, wird mehr auf die gestalterische Darstellung und auf Infotainment als auf Inhalte geachtet. Die „Erzählung“ ersetzt den Anspruch, Wirklichkeit zu verstehen. Auch in der Essener Ausstellung ist das nicht anders. Die Ruhrbesetzung war Ergebnis der Nichterfüllung der nach dem Versailler Vertrag gebotenen Reparationsforderungen durch das Deutsche Reich. Damit ist die erklärende Seite der Ausstellung zu Ende. Der Konkurrenzkampf zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland um eine Vormachtstellung in Europa, die Interessen der im Ersten Weltkrieg emporgestiegenen USA, die zwischen Gemeinsamkeiten und Konkurrenz oszillierenden Interessen der schwerindustriellen Konzerne innerhalb der beteiligten Staaten, die gemeinsame Frontstellung gegen die junge Sowjetmacht und in diesem Geflecht die Rolle der Ruhrindustrie im Kalkül der kapitalistischen Mächte – nichts davon in dieser Ausstellung. Solches zu untersuchen und als Grundlage für ein Verständnis geschichtlicher Prozesse zu nutzen übersteigt den Horizont der Ausstellungsmacher. Auch hier gilt: Das müssen wir schon selber tun.
Stattdessen können die Besucher den Schreibtisch des Essener Oberbürgermeisters Luther beschauen oder ein „Original-Maschinengewehr“ aus Brüssel. Doch solch nichtssagende Exponate sind kein Widerspruch zum Effekt, auf den hin die Ausstellung angelegt ist. Nebenbei: Es werden auch interessantere Stücke ausgestellt wie Propagandaplakate, Flugblätter, Zeitungsartikel und Filmausschnitte, die – den nicht präsenten historischen Kontext vorausgesetzt – der Vermittlung eines Geschichtsverständnisses hätten dienen können. Die Ausstellung ist aber geprägt durch eine „Erzählung“, welche dem Besucher letztlich nur eine Perspektive anbietet. Das erfolgt, indem sie ausschließlich diese eine in ihrer Motivlage nachvollziehbar darstellt. Es ist die Perspektive der deutschen imperialistischen Bourgeoisie, insbesondere der Ruhrindustrie und deren geschäftsführender Regierung und politischen Personals. Die Ruhrgebietsbevölkerung und die Arbeiterbewegung existieren lediglich als Objekte von Unterdrückung, als Objekte von Propaganda, als Leidende an Hunger. In der Ausstellung erscheinen sie nur dort als vermeintlich aktiv, wo sie mitmachen, wo sie sich „in unerschütterlicher Treue zu Volk und Vaterland“ (Resolution einer Kundgebung aller Parteien mit Ausnahme der KPD in Essen am 10. Januar 1923) der „nationalen Sache“ anschließen. Im Ausstellungskatalog findet sich – passend zu dieser Perspektive – die folgende Feststellung: „Das Recht, ja geradezu die Pflicht, das eigene Land im Falle eines Angriffs durch eine fremde Macht zu verteidigen, war in der deutschen Arbeiterbewegung seit jeher unbestritten. Man bewertete die Ruhrbesetzung zwar nicht als Krieg, sehr wohl aber als aggressiven Akt, der die Existenz der Republik bedrohe. Widerstand sei daher legitim, ein Generalstreik jedoch kontraproduktiv, weil er die nationalen Abwehrkräfte geschwächt hätte.“
In dieser sachlich unhaltbaren Aussage entlarvt sich die Ideologie der Ausstellungsmacher. Ihr Drang zur Herstellung von Burgfrieden und Volksgemeinschaft entfaltet sich darin, sich die Arbeiterbewegung nur noch im Einklang mit der Vaterlandsverteidigung der imperialistischen Nation denken zu können. Die Haltung derjenigen Teile der Arbeiterbewegung, die sich nicht wie die Sozialdemokratie 1914 dem Klassengegner andienten, wird ignoriert. So gilt heute die Ablehnung von Kriegskrediten nicht mal mehr als Haltung von Vaterlandsverrätern; die Ablehnung ist im hier vermittelten Geschichtsbild schlichtweg inexistent. Als ginge es darum, auch dem Letzten noch darzulegen, worum es geht, formuliert unter anderem NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst im Grußwort der Träger der Ausstellung: „Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine rückt nun auch die Ruhrbesetzung, ihre Vor- und ihre Nachgeschichte wieder stärker in das gegenwärtige Bewusstsein.“
Das wohl bekannteste Plakat der antifranzösischen deutschen Propaganda aus der Zeit der Ruhrbesetzung stellt eine monströse Marianne (Nationalfigur der Französischen Republik) dar, die mit ihrer Krallenhand nach dem Ruhrgebiet greift. Dass die Essener Ausstellung ausgerechnet das Motto dieses Propagandaplakats – „Hände weg vom Ruhrgebiet!“ – für ihren Titel übernimmt, heißt nicht, dass es wieder gegen den alten Erbfeind zu hetzen gilt, der heute als „Glücksfall der Geschichte“ zu „unseren engsten Freunden und Verbündeten“ zählt (so steht es im Vorwort der Ausstellungsträger). Der Sinn des Mottos von Plakat und Ausstellung wird im Ausstellungskatalog durch ein Zitat aus einem Aufsatz über Leo Schlageter aus der Feder des nationalistischen Schriftstellers Friedrich Georg Jünger formuliert. In diesem glorifizierenden Text über den hingerichteten Freikorpsaktivisten und Attentäter Schlageter, der von Jünger für den 1928 von seinem Bruder Ernst herausgegebenen Band „Die Unvergesslichen“ verfasst wurde, jubelt er davon, dass „der Raum, der ein Volk körperlich und seelisch erfüllt, nur durch die unermüdliche Kraft der Abwehr gewahrt wird“. Die Formierung der Gesellschaft zur Herstellung der „unermüdlichen Kraft der Abwehr“ ist der eigentliche Gegenstand der Ausstellung des Essener Ruhr Museums. Die zweite Erkenntnis, die wir von dort mitnehmen können und die wir uns aus der Ausstellungskonzeption erarbeiten müssen, lautet: Wir befinden uns wieder im fortgeschrittenen Anlauf zum Krieg. Ein Krieg, für den die herrschende Klasse erneut die faschistische Volksgemeinschaft herstellen muss und wieder von ihren Apologeten propagieren lässt.
Jürgen Lloyd
„Hände weg vom Ruhrgebiet“
Die Ruhrbesetzung 1923-1925
Ruhr Museum Essen
5,– Euro, ermäßigt 4,– Euro
Noch bis 27. August