UZ: Was braut sich in Berlin für Arbeitslose zusammen?
Philipp Kissel: Während die SPD sich als Partei der „sozialen Gerechtigkeit“ für den Bundestagswahlkampf aufbauen will, nimmt ihre Arbeitsministerin Nahles Erwerbslose, Niedriglöhner und Ältere von mehreren Seiten unter Beschuss. Mit dem „Rechtsvereinfachungsgesetz“ sollen ALG-II-Empfänger, die einen Job kündigen, dauerhaft sanktioniert werden können, die Kosten der Unterkunft pauschaliert werden und ältere Erwerbslose einfacher in Zwangsrente geschickt werden. Hinter diesem Vorhaben steckt das Ziel, noch schneller und einfacher die Leistungen kürzen zu können. Seit 2007 hat die Bundesagentur für Arbeit durch Sanktionen 1,7 Milliarden Euro „eingespart“. Mit der Reduzierung unter das Existenzminimum sollen Menschen noch mehr unter Druck gesetzt werden, jeden Job anzunehmen, egal zu welchen Bedingungen und zu welchem Lohn. In einer weiteren Gesetzveränderung soll der Anspruch von EU-Bürgern auf Sozialleistungen gestrichen werden, was dazu führen wird, dass viele, die auf der Suche nach Arbeit sind, besonders erpressbar sind. Und schließlich soll für Geflüchtete ein „Integrationsgesetz“ verabschiedet werden, das vor allem in Kürzungen von Leistungen und der Neuauflage von „Ein-Euro-Jobs“ besteht.
UZ: Erhöhung der Lebensarbeitszeit durch die Rente erst ab 67 Jahren für Beschäftigte, Zwangsverrentung für Erwerbslose mit 63 – wie geht das zusammen?
Philipp Kissel: Das passt ganz wunderbar zusammen: Die Rente mit 67 ist eine gigantische Rentenkürzung, die sogar hinter den Stand von 1916 zurückfällt, als das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre festgelegt wurde. Wer es schafft, so lange zu arbeiten, hat zwei Jahre seines Ruhestands gekürzt bekommen und wer früher in Rente geht, weil er nicht mehr kann, muss kräftige Abschläge hinnehmen. Die Zwangsverrentung von ALG-II-Beziehern ist nichts anderes als eine Rentenkürzung, denn auch damit sind starke Abschläge verbunden, die meistens zu einer zu niedrigen Rente führen und den Bezug von zusätzlicher Grundsicherung nötig machen. Das ist Altersarmut auf Amtsanweisung. Hintergrund ist, dass der Altersdurchschnitt der Arbeitskraft zunimmt und zunehmende Arbeitsdichte und Stress an den Menschen nagen, sie kaputt machen. Wer nicht mehr kann, soll abgeschoben werden und möglichst wenig Kosten verursachen.
UZ: Inzwischen behauptet ja niemand mehr ernsthaft, dass die sogenannten „Ein-Euro-Jobs“ eine Tür in den regulären Arbeitsmarkt öffnen. Wie ist dieser neue Vorstoß zu bewerten?
Philipp Kissel: Die Ein-Euro-Jobs kommen ursprünglich aus den Sondergesetzen für Geflüchtete. Da hießen sie „gemeinnützige Arbeit“ und waren schon nichts anderes als ein extrem niedrig bezahlter „Dienst“. Als sie in das Sozialgesetzbuch übernommen wurden, erfuhr dieser Sektor eine enorme Ausweitung, weil Kommunen damit Geld sparen konnten und auch soziale Träger billige und weitgehend rechtlose Arbeitskräfte einsetzen konnten. Zu einem normalen Job kam damit niemand, dagegen wurden sogar reguläre Arbeitsplätze durch Ein-Euro-Jobs ersetzt. Als die offizielle Arbeitslosigkeit zurückging und genug Leiharbeit und andere Niedriglohn-„Angebote“ vorhanden waren, hat man die Ein-Euro-Jobs zurückgefahren. Dass sie nun ein Comeback erleben zeigt, dass der Arbeitsmarkt keineswegs so robust ist, wie von der Regierung immer behauptet wird. Mit den Ein-Euro-Jobs wurde ein autoritäres Instrument geschaffen, das Arbeitskräfte disziplinieren soll. Damals gab es regelrecht eine Hetze gegen die „faulen Arbeitslosen“, denen man beibringen müsse, aufzustehen. Nun sind es die Geflüchteten, die an „unsere Regeln“ gewöhnt werden sollen. Diese Regeln sind ein Angriff auf alle Lohnabhängigen, ob Geflüchtete, Erwerbslose oder „Stammbelegschaft“. Die anderen Maßnahmen im „Integrationsgesetz“ werden ebenfalls später Auswirkungen auf alle haben. Insbesondere die geplante Wohnsitzauflage ist ein starker Eingriff in die Grundrechte und sollte uns alarmieren.
UZ: Warum nimmt die Bundesregierung diese Angriffe gegen Arbeitslose vor?
Philipp Kissel: Dazu muss man wissen, dass ein großer Teil der Erwerbslosen immer wieder arbeitet, manchmal mit ergänzenden ALG-II-Leistungen, manchmal kommt man auch kurzfristig aus dem Leistungsbezug raus. Studien des Instituts für Arbeitsmarktforschung (IAB) zeigen, dass auf der einen Seite die Zahl der Langzeitarbeitslosen mit einer Million sehr hoch ist, auf der anderen Seite die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt ebenfalls sehr hoch ist. Wenn nun die Schrauben noch mehr angezogen werden, verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen und die Löhne für diesen Teil der Beschäftigten und der Druck auf alle anderen steigt. Und darum geht es eigentlich. Denn die Wachstumszahlen sind nicht so rosig, wie oft behauptet und reichen keineswegs aus, um wirklich neue Arbeitsplätze zu schaffen, sondern nur für eine Umverteilung der Arbeit zu mehr Teilzeit und befristeter Arbeit. Falls eine Krise eintreten sollte – und damit ist zu rechnen –, müssen alle dran glauben. Dafür müssen die entsprechenden Instrumente vorhanden sein und die Rechtsansprüche bereits reduziert werden.
UZ: Unabhängig von diesen neuen Plänen der Bundesregierung: Wie steht es mit der politischen Erwerbslosenarbeit?
Philipp Kissel: Die Agenda 2010 war ein schwerer Schlag gegen die Arbeiterbewegung und sie hat sich bis heute nicht davon erholt, ihre Krise hält an. Die Abspaltung der Erwerbslosen und Niedriglöhner wurde gezielt genutzt und verschärft. Die Spaltung hat sich seitdem vertieft und wurde durch neue ergänzt. Der DGB lehnt zwar die neuen Verschärfungen ab, unternimmt aber nichts Praktisches, um diese Angriffe auf alle Lohnabhängigen zu verhindern. Unsere Arbeit im Verein zeigt, dass die Erfahrung sehr gut ist, wenn man sich gegenseitig hilft und mehr über die eigenen Rechte erfährt und über die Hintergründe der Gesetze. Viele unserer Mitglieder wissen ganz genau, warum sie organisiert sein müssen. Sie können berichten, wer zum Jobcenter begleitet wurde und erlebt, dass er seine Rechte durchsetzen konnte, geht dort in Zukunft mit aufrechtem Gang und selbstbewusst hin. In unserer Beratungsrunde gibt es häufig Diskussionen darüber, warum diese Gesetze eigentlich existieren und wem sie nutzen. Die Runden sind auch ein Zeitfenster im stressigen Alltag, mal über dasGanze, was einen betrifft, zu sprechen und nachzudenken. Das zeigt, dass viel Potential unter den Niedriglöhnern – die meisten unserer Mitglieder arbeiten – und Erwerbslosen ist. Diese Teile der Klasse sind besonders betroffen und warum sollten sie sich nicht besonders wehren wollen? Das geht aber nur, wenn dafür Organisationsformen geschaffen werden, die das ermöglichen. Diese entstehen nicht von alleine, sondern müssen aufgebaut werden, politisch gefüllt und mit viel Reflektion begleitet werden. Die solidarische Verbindung mit anderen Teilen der Arbeiterklasse ist dann der nächste wichtige Schritt. Wenn dies mehr gelingen würde, hätten Regierung und Unternehmer schon ein Problem.