Erst Risse, dann der Bruch

Olaf Matthes im Gespräch mit Elisseos Vagena, KKE

UZ: In ganz Europa diskutieren die Menschen über die politische Entwicklung in Griechenland, aber die Wahlbeteiligung am 20. September lag bei knapp 57 Prozent. Warum sind so viele Menschen zu Hause geblieben?

Elisseos Vagenas: Die hohe Zahl der Nichtwähler ist weitgehend ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem bürgerlichen politischen System. Teile der Werktätigen und der Jugend sind wütend und enttäuscht, bei ihnen ist der Eindruck entstanden: „Es passiert nichts“ und „Man kann sowieso nichts ändern“. Dieser Eindruck ist durch die siebenmonatige Syriza-Anel-Regierung noch verstärkt worden. Die hohe Wahlenthaltung hat sich auch auf das Ergebnis der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) ausgewirkt – nicht zur Wahl zu gehen bedeutet keineswegs, eine aktive Haltung einzunehmen, die heutige Situation in Frage zu stellen und Widerspruch gegen die Ursachen dieser Situation einzulegen.

Aber die geringe Wahlbeteiligung hängt auch damit zusammen, dass viele Wählerinnen und Wähler in Griechenland ihr Wahlrecht ausschließlich am Geburts- bzw. Heimatort ausüben können, unabhängig vom Wohnort. Doch für viele von ihnen ist es wegen ihrer Armut unmöglich diese Reise zu machen. Die KKE hat wiederholt verlangt, dass Maßnahmen ergriffen werden, um diese Reisen einfacher zu machen. Aber die bisherigen Regierungen haben nichts dafür unternommen.

Als KKE sagen wir denjenigen, die am Ende doch nicht zur Wahl gegangen sind: Wir können und müssen alle kleinen und großen Kämpfe, auch die Wahlen, nutzen. Wir müssen sie nutzen, damit Risse an den heutigen, negativen Kräfteverhältnissen entstehen, damit Kräfte für den Sturz des Systems gesammelt werden können.

UZ: Syriza hat als Regierungspartei doch wenigstens versucht, gegen das Spardiktat der EU vorzugehen. Ist es da nicht positiv, dass Tsipras Regierungschef bleibt?

Elisseos Vagenas: Man kann eine Partei nicht nach dem beurteilen, was sie behauptet, sondern nur nach dem, was sie tut. Tsipras und Syriza haben nicht im Interesse des Volkes verhandelt, sondern im Interesse der Monopolgruppen, die „heißes Geld“ brauchten, also einen leichteren Zugang zu Krediten, um ihre Profite zu steigern. Ihre Verhandlungsführung war zu 100 Prozent gegen die gesamte werktätige Bevölkerung gerichtet – das Ergebnis war ein drittes Memorandum, dem auch ND, PASOK und To Potami zugestimmt haben. Dieses Memorandum beinhaltet harte Maßnahmen, und es hält die vorangegangenen zwei Memoranden und die über 400 Durchführungsgesetze zu den Memoranden aufrecht.

Syriza, unterstützt von den anderen bürgerlichen Parteien, orientiert darauf, das Parlament zu einem Altar zu machen, auf dem die verbliebenen Rechte der Arbeiterklasse und des Volkes geopfert werden.

UZ: Die faschistische „Goldene Morgendämmerung“ (CA) hat inzwischen eine stabile Wählerschaft. Wie erklärt ihr den starken Einfluss der Faschisten?

Elisseos Vagenas: Im Wahlergebnis insgesamt drückt sich aus, dass ein großer Teil des griechischen Volkes eine passive Erwartungshaltung eingenommen hat und im Konservatismus verharrt. Die verbrecherische, nazistische CA hat inzwischen einen stabilen politischen Einfluss – das ist ein weiteres negatives Merkmal des Wahlergebnisses vom 20. September. Dafür tragen alle anderen Parteien eine Mitverantwortung – die Regierungspartei Syriza, die stärkste Oppositionspartei ND und die anderen Parteien. Denn diese Parteien haben weder im Wahlkampf noch davor grundlegend, politisch und offen gegen die CA gekämpft.

Die KKE wird weiterhin die Fahne des Kampfes gegen den Nazismus-Faschismus und seine heutigen Vertreter in Griechenland hochhalten. Sie vergiften das Bewusstsein der Menschen aus der Arbeiterklasse und den Volksschichten, sie organisieren „Sturmabteilungen“, sie betreiben Job- (sprich: Sklaven-) Vermittlungsagenturen. Daran ändert es auch nichts, dass die CA versucht – auch vor dem Hintergrund der laufenden Strafverfahren – ein „gesetzeskonformes“ Antlitz zu zeigen.

UZ: Die KKE hat zwar in Prozentpunkten ihr Wahlergebnis vom Januar halten können, aber in absoluten Zahlen über 35 000 Stimmen weniger bekommen. Im Wahlkampf habt ihr in den Mittelpunkt gestellt, dass der Bruch mit dem Kapitalismus nötig ist und eine sozialistische Zukunft möglich. War das richtig?

Elisseos Vagenas: Nun, bei diesen Wahlen hat die „linke“ Syriza ca. 300 000 Stimmen weniger bekommen, die rechte ND verlor 200 000 und die nationalistische Anel, der Regierungspartner von Syriza, 100 000 Stimmen. Sie bekamen weniger Stimmen, obwohl in ihren Programmen und Positionen keine Rede vom Sozialismus ist. Andere Parteien, wie die „Volkseinheit“ sind an der Dreiprozenthürde gescheitert – diese Partei hat sich aus Kräften gebildet, die Syriza verlassen haben, und vertritt ein keynesianisches, sozialdemokratisches Programm mit der „Lösung“ der Rückkehr zur nationalen Währung.

Die ideologisch-politische Auseinandersetzung ist hart, und die KKE hat die Pflicht, in jedem politischen Kampf – auch bei den Wahlen – dem Volk die Wahrheit zu sagen. Unser politischer Vorschlag ist die Arbeiter- und Volksmacht, die Vergesellschaftung der Monopole, die zentrale Planung der Wirtschaft, die Loslösung von EU und NATO und die einseitige Streichung der Staatsschulden. Diesen Vorschlag müssen wir klarmachen. Die KKE will damit die arbeitenden Menschen aufklären, die Voraussetzungen für den Sturz der kapitalistischen Barbarei schaffen und zur Reifung des subjektiven Faktors beitragen.

Egal, auf welche Weise das bürgerliche System verwaltet wird – jede Form der Systemverwaltung führt zu einer Politik zu Lasten des Volkes. Der Sozialismus ist notwendig – das ist der zentrale Punkt. Diese Notwendigkeit entspringt daraus, dass die kapitalistische Produktionsweise keinen Ausweg aus Krisen, Arbeitslosigkeit, Armut und Kriegen bietet. Und die Notwendigkeit des Sozialismus wird dadurch bedingt, dass die materiellen Voraussetzungen für die Schaffung der neuen Gesellschaft, ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, vorhanden sind.

UZ: Die neue Regierung wird sehr schnell mit der Umsetzung des dritten Memorandums fortfahren. Wie wird die KKE dazu beitragen, den Widerstand dagegen zu organisieren?

Elisseos Vagenas: Die KKE hat ihren Stimmenanteil von 5,5 Prozent und ihre 15 Parlamentssitze halten können. Im Wahlkampf konnten wir unsere Positionen an den Arbeitsplätzen und in den Vierteln vorstellen, in denen Menschen aus der Arbeiterklasse und den Volksschichten leben. Wir haben neue Unterstützer gewonnen. Die KKE, wie vor den Wahlen angekündigt, wird die neue Regierung weder unterstützen noch tolerieren. Sie wird den in dieser Phase erreichten Zusammenschluss der Kräfte nutzen, um ihr Wahlversprechen einzulösen, nämlich eine starke Opposition der Arbeiter und des Volkes im Parlament, aber vor allem in der Bewegung zu sein.

Dadurch wird das Volksbündnis gestärkt. Das Volksbündnis kämpft heute um die Lösung jedes einzelnen Problems des Volkes, und gleichzeitig zeigt es in diesem Kampf die Perspektive: die umfassende Konfrontation mit den Monopolen und dem Kapitalismus.

Regierung und bürgerliche Opposition behaupten, dass die Menschen aus der Arbeiterklasse und den Volksschichten, die jungen Menschen, angeblich die Umsetzung des Memorandums befürworten. Wir wollen erreichen, dass diese Menschen, unabhängig davon, ob oder wen sie gewählt haben, sich nicht den gegen die Werktätigen gerichteten Maßnahmen beugen. Deshalb setzen wir uns für den Wiederaufbau der Arbeiter- und Volksbewegung ein. Die KKE wird weiterhin für die politische Emanzipation der Arbeiterklasse und der Menschen aus den Volksschichten in klassenkämpferische Richtung, für den Sturz des Kapitalismus kämpfen.

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"Erst Risse, dann der Bruch", UZ vom 2. Oktober 2015



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