Ja, das gab es noch: russisches Erdgas, das mit Hilfe von Pipelines kostengünstig in die EU geliefert wurde. Die Nord-Stream-Röhren? Sind aus bekanntem Grund nicht mehr in Betrieb. Das ukrainische Pipelinenetz? Seit Kiew im Mai 2022 die Durchleitung an der Messstation Sochranowka gestoppt hatte, strömte auch an dieser Stelle kein russisches Erdgas mehr in Richtung Westen. Durch den Transitknotenpunkt Sudscha aber schickte Gazprom weiterhin Gas in die Ukraine, die es in die Slowakei, nach Ungarn sowie – jenseits der EU – nach Moldawien weiterleitete; das sah ein 2019 zwischen Moskau und Kiew vereinbarter Vertrag vor. Ihn hat die ukrainische Regierung zum 31. Dezember 2024 auslaufen lassen. „Russland verliert Märkte“, erläuterte der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko den Schritt, „es wird finanzielle Verluste erleiden.“ Und tatsächlich – laut Branchenkreisen büßt Moskau durch Kiews Weigerung, den Transitvertrag zu verlängern, jährlich rund fünf Milliarden US-Dollar ein.
Wie so vieles fügt allerdings auch der endgültige Ausstieg der Ukraine aus dem Transport russischen Erdgases den eigenen Reihen ernste Kollateralschäden zu. Nicht bloß, dass Kiew selbst Durchleitungsgebühren von bis zu einer Milliarde US-Dollar jährlich verliert. Auch die EU und vor allem einige ihrer Mitgliedstaaten geraten in Probleme. Über Sudscha flossen zuletzt jährlich gut 15 Milliarden Kubikmeter Erdgas in Richtung Westen; dies sind rund 5 Prozent des gesamten Erdgasverbrauchs der Union. Sie müssen jetzt ersetzt werden. Kein Wunder, dass der Erdgaspreis in Westeuropa sich gegen Jahresende langsam, aber sicher nach oben bewegte; zum Jahreswechsel 2024/25 lag er wieder so hoch wie zuletzt im Herbst 2023, was für private wie auch industrielle Verbraucher sehr unangenehm ist. Es kommt hinzu, dass die bisherigen Abnehmer der nun wegfallenden Lieferungen sich künftig anderswo eindecken müssen. Das wird teurer als bisher; einige von ihnen büßen ebenfalls Durchleitungsgebühren ein.
Die konkreten Folgen und auch die Reaktionen auf Kiews Entscheidung, die Lieferungen zu stoppen, divergieren. Österreich gibt an, genügend Gas gespeichert zu haben, um locker über das nächste Jahr zu kommen. Zudem heißt es in Wien, man könne aus Deutschland und aus Italien zusammengenommen fast doppelt so viel Erdgas importieren, wie man verbrauche. Ohnehin hat Russland seine Lieferungen an Österreich schon Mitte November aufgrund von Rechtsstreitigkeiten gestoppt. Bereits etwas schwieriger sieht es für Ungarn aus: Es verfügt über nur wenig Alternativen zu Pipelinelieferungen aus Russland. Immerhin sind seine Speicher ebenfalls gut gefüllt; außerdem bekommt es erhebliche Mengen an Erdgas über die Turk-Stream- und die Balkan-Stream-Pipeline – erstere verläuft aus Russland durch das Schwarze Meer in die Türkei, letztere führt weiter über Bulgarien und Serbien nach Ungarn. Derjenige der zwei Turk-Stream-Stränge, der dafür zur Verfügung steht, ist völlig ausgelastet; der andere, der eigentlich die Türkei selbst versorgen soll, hat womöglich noch etwas freies Potenzial.
Schwieriger sieht es allerdings für die Slowakei aus, bis zu der die Balkan-Stream-Pipeline nicht mehr reicht. Auch dort gilt: Die Speicher sind voll; damit kommt man durch den Winter. Dann aber muss eine neue Lösung her. Die Slowakei sei über Pipelines mit fast allen Nachbarländern verbunden, heißt es in Bratislava. Denkbar sei unter anderem, US-Flüssiggas über Polen zu beziehen. Ministerpräsident Robert Fico ist dennoch wütend und droht mit dem Stopp von Stromlieferungen an die Ukraine, falls Kiew die Durchleitung russischen Erdgases nicht wieder startet. Besonders hart getroffen werden Moldawien beziehungsweise dessen abgespaltene Teilrepublik Transnistrien. Bislang strömte spottbilliges russisches Gas über die Ukraine nach Transnistrien, das damit in einem großen Kraftwerk Strom erzeugte, um ihn an Moldawien zu verkaufen; dieses hatte Strom, Transnistrien hatte ein Finanzierungsmodell. Mit beidem ist nun Schluss. Moldawien wird Strom aus der EU importieren und den Preis dramatisch erhöhen müssen; Pro-EU-Ministerpräsidentin Maia Sandu, durch ein schlechtes Wahlergebnis geschwächt, befürchtet schwere Proteste. Im prorussischen Transnistrien wiederum wird der Strom schon jetzt krass gekürzt. Auch dort sind Unruhen nicht ausgeschlossen.