Die Welt als fremde: „Der Trost runder Dinge“ ist Clemens J. Setz‘ neuer Erzählband

Erkenntnis ist eine Steinigkeit

Von Ken Merten

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Clemens J. Setz

Der Trost runder Dinge

Suhrkamp, Berlin 2019

320 Seiten, 24 Euro

(eBook: 20,99 Euro)

Man hatte ja drei, vier Jahre Zeit. Etwa 29 Monate Zeit, um ihn durchzuwälzen, den auf den Kulturseiten aller deutschsprachigen Länder quarkbreit als dessen jugendliches Hauptwerk gepriesenen, tausendseitigen Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (Suhrkamp) von Clemens J. Setz. Seitdem kam nur „Bot. Gespräch ohne Autor“ (2018), die letzte Monografie des 36-jährigen Nachwuchsliteraturstars aus Österreich, ein Essay über die zeitgenössische Autorschaft im Schatten heraufziehender intelligenter Schreibmaschinen.

„Bot“ half aber so gar nicht darüber hinweg, dass dem hoch gehandelten Klopper „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ eine maue Story und eine noch mauere Erzählführung anzukreiden war. So intim man mit der Hauptfigur wurde, der jungen Pflegerin Natalie, so fern blieb man von einer tragenden Handlung auf soviel Platz. Viel Suggestion, noch mehr Belanglosigkeit. Der Eindruck kam auf, dass es sich um eine überdimensionierte Short Story handelte, die sich den Regeln der Physik beugte und dabei durch ihre eigene Riesenwüchsigkeit erdrückt wurde.

Doch langsam beginnt das aktive Vergessen mit gutem Gewissen, gibt es doch jetzt wieder einen Erzählband des ehemaligen Mathe-Lehrämtlers Setz. „Der Trost runder Dinge“ zeigt, wie sich sein Handwerk im Vergleich zur Erzählsammlung „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ (2011) verfeinert hat. Dabei hat der Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse nicht viel an Sujets und Techniken an sich geändert. Die meisten der zwanzig neuen Geschichten sind weiterhin sichtlich von Short-Story-Meister Raymond Carver geprägt.

Nichts ganz Neues also vom Dadaisten Setz, der die Welt als Neuheit betrachtet: „Wir verabschiedeten uns am Südtiroler Platz, beide um ein kleines Grenzgebiet ärmer, und die Erde war ein riesiger Magnet, der Schneeflocken aus dem Himmel anzog.“ So heißt es in der dann doch überraschend versöhnlerischen Erzählung „Das Christkind“, die trotz oder auch wegen aller unternommenen Gegensteuerung des Autors etwas kitschig wirkt, wenn der alleinerziehende Arzt und seine beiden heranwachsenden Töchter dem Nachbarn und dessen sterbenskrankem Kind unfreiwillig einen Weihnachtswunsch erfüllen.

Noch offensichtlicher sind manche Erzählungen von Philip K. Dick und dessen Science Fiction beeinflusst. Die, in denen das vorherrschende Gefüge, in dem wir leben, in Prosaform dadurch umrissen wird, indem ein Detail, ein Fremdkörper eingelassen wird, an dem sich das Herrschende wie an einem Prüfstein zu beweisen hat. Etwa wenn in „Südliches Lazarettfeld“ ein übersensibler Autor von einer gescheiterten Reise zurückkehrt und sein Heim als Obdachlosenunterkunft, darin seine Freundin als Personal, wiederfindet. Oder wenn in „Das Schulfoto“ die Toleranz der vereinten Elternschaft einer Schule daran zerbricht, dass der Klassenkamerad, der nur durch einen seltsam instabilen, hässlichen Maschinen-Korpus am Leben gehalten wird, auch mit auf dem Klassenfoto des eigenen Zöglings ist.

Die vertraut wirkende Irritation entsteht jedoch nicht immer durch SciFi-Versatzstücke: wenn da der psychopathische Gast, der sich als ehemaliger Bewohner ausgibt und ein Haus betritt, wo er im Vergleich zur Bedrohlichkeit der jetzigen Bewohner wieder einpacken kann („Das alte Haus“), zum Beispiel.

Clemens Setz schafft in „Der Trost runder Dinge“ im Vergleich zu vielen seiner bisher erschienenen Kurz- und Langgeschichten (dazu zählt auch sein großartiger, aber nach hinten raus austrudelnder Roman „Indigo“ von 2012) den rechtzeitigen Absprung. Die Erzählungen enden passgenau, bereiten dabei genug Raum, um die zu Papier (oder zu eBook-Bildschirm) gebrachten Spinner und Alltagsmenschen samt ihrer Entscheidungsmöglichkeiten atmen zu lassen, ohne verloren zu gehen.

Wenn der gebürtige Grazer Setz fragend die menschliche Moral seziert, kommt das nie ohne Spannung aus: Sag ich der Blinden, dass ihre Wohnung über und über mit frauenverachtenden Beschimpfungen beschmiert ist? Habe ich Sex im Zimmer meines Unfall-versehrten Sohnes, weil er davon eh nichts mitbekommt?

Dabei geht Setz zwischen Hysterie und Therapie, zwischen falschen, wahren und halbwahren Informationen einen schmalen, aber erkenntnisreichen Grat entlang. Sobald sich eine allzu simple Lösung einschleichen will, rückt bei ihm die Welt wieder ab in ein fremdes, zur Betrachtung freigegebenes Objekt.

Aushängeschild für Setz‘ magischen Realismus ist „Spam“ im Band. Intensive acht Seiten, die auf den ersten Blick erscheinen wie der öde Abklatsch einer E-Mail. So eine, wie man sie täglich in Divisionsstärke bekommt, wenn einmal die Mailadresse in die Finger von jenen gelandet ist, die sich als spendable Milliardärserben aus afrikanischem Adelshause ausgeben. Gegen so etwas ist man längst abgestumpft. Tiefer gehend ist diese Mail der Sarah Martingal in „Spam“ aber zweifellos, schildert sie doch en detail ein Parkbank-Intermezzo mit einem Klugscheißer aus dem Berliner Humboldt-Museum. Der kurzweiligen Liaison ist Sohn Daniel entsprungen, der jetzt neunzehnjähriger Jurastudent ist und Geld und Vaterliebe braucht. Nichts, was man so in eine Massennachricht schreibt, die möglichst viele ansprechen und verleiten soll, ihre Bankdaten gegen den Anteil an einem unvorstellbaren Reichtum zu tauschen.

„Spam“ trägt diese Schwebe zwischen Fremd- und Vertrautheit auch sprachlich als Google-Translator-Poesie: „Ich hatte nie einen Mann Bericht gehört, auf die Weise wie Sie diesen Tag einst sind beschäftigt gewesen erzählen. Die Fülle, das Zeitlos! […] Sie können denken sicher sein, dass ich daheim bin ich gegangen an diesem Tag in dem ausschließlichen Wolken-Geschwader ihrer Stimmen.“

Schöne schwere Kost. Der Weg zur Erkenntnis ist schließlich steinig. Clemens J. Setz‘ „Der Trost runder Dinge“ bereitet einen darauf vor, ihn anzugehen.

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"Erkenntnis ist eine Steinigkeit", UZ vom 22. Februar 2019



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