Im April 2024 jährt sich die Nelkenrevolution zum 50. Mal

Erinnerung als umkämpftes Terrain

Martin Leo

Es bedarf nicht erst des im nächsten Jahr bevorstehenden 50. Jahrestags der portugiesischen Revolution vom 25. April 1974, um zu erkennen, dass es einen Kampf um die Deutungshoheit dieses nicht nur für Portugal wichtigen Ereignisses gibt. Naturgemäß reicht die Auseinandersetzung um die Ziele der damaligen antifaschistisch-demokratischen Revolution, die den portugiesischen Faschismus nach 48 Jahren beendete, bis in die Gegenwart. Naturgemäß gibt es politische und soziale Kräfte in der portugiesischen Gesellschaft, denen sich die bürgerliche Demokratie auf der Grundlage modernisierter kapitalistischer Verhältnisse als längst verwirklichtes Hauptziel der Aprilrevolution darstellt. Sie feiern im kommenden April insgeheim wahrscheinlich weniger diesen 25. April 1974 als den 25. November des darauf folgenden Jahres, dessen Ergebnisse die weitere revolutionäre Dynamik stoppten und die kapitalistische Rückeroberung der den großen Konzernen, Banken und Grundbesitzern verloren gegangenen Produktionsmittel einleiteten. Ihre eigentliche Aufmerksamkeit dürfte den Neuwahlen zum portugiesischen Parlament am kommenden 10. März gelten, bei denen es ihnen – wie nun seit 50 Jahren – hauptsächlich darum geht, jene Kräfte am Wiederaufstieg zu hindern, die fortlaufend die tiefgreifenden sozialen und demokratischen Ideale ihrer Revolution von 1974 in Erinnerung rufen. Für sie ist die Vergangenheit noch gar nicht vergangen und benötigt die Zukunft eine neue Chance.

Nelken im April

Unvergessen auf beiden Seiten ist daher auch nach fünf Jahrzehnten, dass der Klassenkampf bis zum Höhepunkt im politisch „heißen“ Sommer 1975 dazu geführt hatte, selbst die bis dahin herrschenden Eigentumsverhältnisse radikal zu demokratisieren und damit bürgerlich-demokratische Grenzen mutig zu überschreiten. „Diese Revolution war unsere“ – das sagen heute die fortschrittlichsten unter den lohnabhängigen Menschen Portugals, die aktuell vor allem um die Erhöhung des Mindestlohns und um eine allgemeine Lohnerhöhung von 15 Prozent, um Rentenerhöhungen um 7,5 Prozent und um eine Festsetzung der Preise für Treibstoff und Lebensmittel kämpfen. Weitere zentrale Forderungen beziehen sich insbesondere auf das erst nach der Revolution entstandene staatliche Gesundheitswesen und auf die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt.

Für diese Menschen waren weder die bisherigen 49 Jahrestage leere Feiertage und noch weniger wird es der 50. Jahrestag der Revolution sein. Er hat eine ganz praktische und verpflichtende Bedeutung. Das weiß auch die portugiesische Reaktion, die ihre drohende Niederlage von 1975 – die Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse – nicht vergessen hat. Auch ihr ist klar, dass die damalige Revolution „in gewisser Hinsicht“ unvollendet geblieben ist.

Flamme oder Asche

Daher gibt es grundsätzlich zwei Erinnerungskulturen. Die eine möchte gerne die entscheidende Rolle der Bevölkerung, insbesondere im Kampf um soziale Gerechtigkeit und Entkolonialisierung – vergessen machen. Politische und soziale Rechte waren dem Volk in Portugal nicht von einem abtretenden Regime „gewährt“ worden, vielmehr musste es seine Rechte auf der Straße, in den Wohnvierteln und in den Betrieben erkämpfen. Das genau ist der wirkliche genetische Fingerabdruck der portugiesischen Revolution. Wer das in den Hintergrund drängt, will die arbeitenden Menschen ihres kollektiven historischen Gedächtnisses und ihrer Klassenidentität berauben.

Die progressive Erinnerungskultur steht in der Kontinuität der aktiven Revolutionäre der 1970er Jahre und ist deren Erbe. Mit Jean Jaurès kann man sagen, dass ihre Anhänger aus diesem Erbe „die Flamme vieler Generationen“ holen, während die restaurativen Kräfte höchstens „die Asche bewahren“.

Wie der widersprüchliche revolutionäre Prozess nach dem April bewies, war er Ausdruck bestimmter – sich ständig verändernder – politischer und sozialer Kräftekonstellationen. Nicht anders verhält es sich mit der Art und Weise, in der die Portugiesen bis heute auf ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft blicken. Auch die „Erinnerung“ ist umkämpftes Terrain im Klassenkampf. Für Portugiesen gilt darüber hinaus wie für andere Völker, die faschistische Herrschaft erlebten, dass die Erinnerung daran zwar nicht leicht, aber das Vergessen sogar unmöglich ist.

Unterschiedliche Generationen

Menschen, die aufgrund ihres Alters die politischen Geschehnisse Mitte der 1970er Jahre bewusst wahrgenommen haben, müssen sich vergegenwärtigen, dass bereits 50 Jahre zurückliegende Ereignisse für viele andere zu einer Vergangenheit gehören, zu der sie keinen Bezug haben. Gemessen an der 2021 ermittelten portugiesischen Altersstruktur bedeutet das, dass heute nur noch ein gutes Drittel der Bevölkerung überhaupt als „Zeitzeugen“ der Revolution gelten kann.

Entsprechend muss Geschichtswissen für verschiedene Generationen aufbereitet werden. Es gab bereits unzählige Veranstaltungen, die sich dem 50. Jahrestag der Revolution unter sehr unterschiedlichen Blickwinkeln näherten und sich den didaktischen Herausforderungen zu stellen versuchten. Das prägte schon das diesjährige Pressefest der Zeitung „Avante!“ der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP).

Im Juni 2021 rief ein Ministerratsbeschluss die „Kommission zur Erinnerung an den 50. Jahrestag des 25. April“ unter Schirmherrschaft des Staatspräsidenten ins Leben. Veranstaltungen der PCP oder der zur Intersindical gehörenden Gewerkschaften sowie anderer demokratischer Organisationen sind dem von der Kommission entwickelten inhaltlichen Rahmen nicht unterworfen. Sie vermitteln ein an revolutionären Werten und Zielen festhaltendes Geschichtsbild, das dazu inspiriert, für diese Werte zu kämpfen. Das gewährleistet Unabhängigkeit von den ideologischen Botschaften, die die bisher mit absoluter Mehrheit regierende Sozialistische Partei den Portugiesen auf den weiteren Weg geben möchte. Ein Beispiel, wie die erhöhte politische Aufmerksamkeit um den Jahrestag herum für die politische Aufklärung genutzt wird, ist der von der PCP gestartete Internet-Podcast „Tausend Gespräche um den April“. Bereits drei Gesprächsrunden sind veröffentlicht, in denen führende Vertreter der PCP Gästen politisches und persönliches über den „25. April“ entlockten. So trat dort der aus Angola stammende Fußballtrainer Blessing Lumueno zusammen mit der Schauspielerin Sofia Aparício auf. Der 39-jährige Musiker und Produzent Luis Clara Gomes bestätigte die Bedeutung der Revolution für die Kultur, während die acht Jahre jüngere Filmemacherin Leonor Teles den Wert persönlicher und kollektiver Erinnerung an Geschichte unterstrich. Der Komiker Diogo Faro, dessen Humor der bürgerliche „Expresso“ gerade „zunehmend politisch und aktivistisch“ nannte, verlangt mehr Wohnraum, ein besseres öffentliches Gesundheitswesen und weniger Diskriminierung.

Offizielles Gedenken

Zur regierungsamtlichen „Erinnerungskommission“ gehören der Premierminister, der Parlamentspräsident, die Präsidenten der obersten Gerichte, der Präsident des Rechnungshofs und als prominenter Vertreter der früheren „Bewegung der Streitkräfte“ (MFA) der Präsident der „Vereinigung des 25. April“, Vasco Lourenço. Für die Planung und Durchführung des Programms wurde im Verantwortungsbereich des Kulturministeriums eine Projektkommission unter Leitung der Historikerin Inácia Rezola (Jahrgang 1967) gebildet.

Im Rahmen der Vorgaben begannen die offiziellen Feiern und Veranstaltungen bereits am 24. März 2022, denn an diesem Tag existierte die portugiesische Demokratie bereits mehr Tage als die nach 48 Jahren gestürzte faschistische Diktatur. Offiziell beendet werden alle Veranstaltungen im Jahr 2026: Nach offizieller Lesart habe sich nämlich die portugiesische Demokratie erst 1976 „konsolidiert“ – und zwar durch die Annahme der Verfassung, durch die Bildung der ersten verfassungsmäßigen Regierung, durch die Wahl des Staatspräsidenten und durch die Kommunalwahlen sowie die Regionalwahlen auf Madeira und den Azoren. An die Stelle der „revolutionären Legitimität von MFA und Volksmassen“ trat die „Legitimität der Urnen“, schrieb dazu 2004 treffend der linke Historiker Fernando Rosas.

Jedes Jahr wurde von der Projektkommission unter ein Generalthema gestellt. Erklärtes Ziel der Veranstaltungen ist es, sich an alle Altersgruppen zu wenden, alle „sozialen Schichten“ zu erreichen, die Emigranten einzubeziehen, Künstler und Wissenschaftler zur aktiven Teilnahme aufzurufen und die Jugend für eine bewusste Teilnahme am demokratischen Leben zu gewinnen. Erinnerungen und Zeitzeugnisse sollen gesammelt und gesichert werden. Verbunden ist dies mit Aufrufen zu geförderten Forschungsprojekten im Zusammenhang mit der Aprilrevolution, mit der Sammlung von Amateurfilmen vom 25. April 1974 und mit geförderten Dokumentarfilmprojekten.

2022 bildeten das Leitthema vor allem die demokratischen und sozialen Bewegungen, die seit Ende der 1960er und Beginn der 1970er Jahre „die Revolution ermöglichten“, wozu die demokratische Studentenbewegung vom Ende der 1960er Jahre gehörte, aber auch die antifaschistische demokratische Frauenbewegung sowie widerständige Strömungen in der katholischen Kirche und in der künstlerischen Intelligenz.

2023 waren Leitthema die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung und deren Beitrag zum Sturz der Diktatur. So gibt es zum Beispiel in Porto eine Ausstellung „Vereint werden wir siegen!“ über die Proteste und Streiks der Gewerkschaften zwischen 1968 und 1974. Gleichzeitig wurde mit einer anderen Ausstellung in Lissabon der 100. Geburtstag des 2013 verstorbenen antifaschistischen und mit der PCP verbundenen Schriftstellers Urbano Tavares Rodrigues gewürdigt.

2024 sollen die MFA und die Entkolonialisierung in den Mittelpunkt gestellt werden. Im darauf folgenden Jahr 2025 gilt die Aufmerksamkeit der Errungenschaft freier Wahlen. Im selben Jahr will man eine Debatte führen über die Vertiefung der portugiesischen Demokratie, über ihre Qualität und ihre Zukunft. Wie die regierungsoffizielle Homepage zum Jahrestag informiert, erwarte man eine breite Debatte über die „turbulenteste und polemischste Phase“ der Revolution 1974/75 und eine Einbeziehung der Universitäten und der „allgemeinen Gesellschaft“.

Das Leitthema für 2026 soll schließlich „Entwicklung“ lauten.

Für alle offiziellen Veranstaltungen komponierte Bruno Pernadas die Hymne „O governo do Povo“ („Die Regierung des Volkes“) in Anlehnung an die Werke von drei antifaschistischen Komponisten Portugals: „Die Gedenkkommission für den 50. Jahrestag des 25. April wollte den Feierlichkeiten eine musikalische Handschrift geben, die Erinnerung und Zukunft miteinander verbindet.“

Alle Veranstaltungen zum großen runden Jahrestag der Revolution bieten den demokratischen Kräften in Portugal die Möglichkeit, sich dazu mit ihrer eigenen Stimme zu Wort zu melden und die „Werte des April“ mit den Kämpfen der Gegenwart zu verknüpfen. Sie werden diese Chance weiterhin nutzen.

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"Erinnerung als umkämpftes Terrain", UZ vom 22. Dezember 2023



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