Der Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ will die Erinnerung an die Leiden der Rotarmisten wachhalten.

Erinnern an die Verbrechen der Wehrmacht

Werner Höhner und Hubert Kniesburges

Der Sowjetische Soldatenfriedhof und das Gelände des ehemaligen Stalag 326 in Stukenbrock-Senne war für den Arbeitskreis Blumen für Stukenbrock von Anfang an eine Gedenkstätte von nationaler Bedeutung. Die Behörden haben das lange so nicht gesehen.

Deshalb begrüßte der Arbeitskreis, dass 2018 endlich eine breite öffentliche Diskussion über die Gestaltung dieser Gedenkstätte begonnen hat. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat Mitte 2020 eine Machbarkeitsstudie (MBS) vorgelegt, auf deren Grundlage die Förderung der Neueinrichtung einer Gedenkstätte von Bund und Land mit je 25 Millionen Euro zugesagt wurde.

Aus Sicht des Arbeitskreises erfüllt die MBS aber nur unzureichend die Anforderung an eine zeitgemäße, würdige Mahn- und Gedenkstätte. Klar abgelehnt wird eine von politisch einflussreichen Kräften gewünschte verfälschte Gedenkstätte, die sich den Opfern „aller Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ widmen soll. Vielmehr muss die Gedenkstätte eine Einrichtung werden, die der antifaschistischen Mahnung und dem Gedenken an die Verbrechen des deutschen Faschismus dient. Sie soll eine Stätte der öffentlichen Bildung sein.

Mittelpunkt dabei ist die Darstellung der verbrecherischen Politik des Regimes nach innen und seiner Kriegsziele, die einhergingen mit einer Politik der Vernichtung der Juden und der Versklavung der Völker des Ostens, vor allem der Menschen in der UdSSR. In schriftlichen und bildlichen Darstellungen des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion ist die Rolle der Wehrmacht bei den Verbrechen an den Fronten und an den Kriegsgefangenen herauszustellen.

Die Gefangenen waren Soldaten der Roten Armee, die ihre Heimat verteidigten. Sie setzten ihr Leben ein für die Befreiung ihres Landes und für die Befreiung Deutschlands vom Faschismus. 5.270.000 Soldaten der Roten Armee verloren in diesem Krieg ihr Leben, mehr als die Hälfte davon in deutscher Gefangenschaft. Die Sowjetunion verlor in diesem Krieg rund 27 Millionen Menschen. Sie brachte damit den größten Blutzoll in diesem von Deutschland ausgelösten Krieg.

Es ist nicht statthaft, all diese Menschen zu Opfern „aller Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ zu machen, wie das von Elmar Brok, einem Mitglied des Lenkungsausschusses, gefordert wird. Eine solche Aussage ist eine eindeutige Geschichtsfälschung.

Der Umgang mit den Opfern und mit dem sowjetischen Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist bis heute geprägt von Verleugnung, Verschweigen und Verharmlosung. Daher ist zu klären, welche Rolle in der Nachkriegszeit der Antikommunismus und der damit einhergehende Kalte Krieg spielten, der im Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise seit 1945 weit verbreitet war und auch noch heute spürbar ist. Wie ist sonst die jahrzehntelange Weigerung von Bundestag und Bundesregierung zu erklären, den Überlebenden der Kriegsgefangenschaft eine Entschädigung zu zahlen? Erst im Jahre 2015 erhielten einige der noch Lebenden 2.500 Euro.

Es muss in der Gedenkstätte zuerst um das Schicksal der Gefangenen und dort ums Leben gekommenen Menschen gehen. Natürlich müssen auch die Verantwortlichen – die Täter und ihre Auftraggeber – genannt und ihre Verbrechen verurteilt werden.

Es müssen die Rolle der Wehrmacht bei der Vorbereitung des Krieges gegen die UdSSR und ihre Verantwortung für die Verbrechen an den Gefangenen dokumentiert werden.

Es sollte angestrebt werden, die Ausstellung von Hannes Heer und Jan Philipp Reemtsma über die Verbrechen der Wehrmacht in die Gedenkstätte zu überführen, denn für das Stalag 326 war ausschließlich die Wehrmacht verantwortlich.
Es muss die Frage beantwortet werden, wie man mit den Verantwortlichen der Wehrmacht nach 1945 umgegangen ist. Unter diesem Gesichtspunkt spielt das im ehemaligen Stalag-Gelände eingerichtete Internierungslager für Kriegsverbrecher nach 1945 eine Rolle. Wer hat dort eingesessen und wie wurden die Insassen verurteilt?

Wie ging man mit den Verantwortlichen der Wehrmacht, die für Kriegsverbrechen verantwortlich waren, nach 1945 in Westdeutschland um? Gab es darunter Kräfte, die man auch für den Aufbau der Bundeswehr heranzog? In welcher Tradition verstand sich die Bundeswehr in der Aufbauphase?

Schließlich gehört auch der Umgang der Bundeswehrführung mit jungen Soldaten, die sich in Uniform im Rahmen der Gedenkveranstaltungen auf dem Sowjetischen Soldatenfriedhof vor den toten Sowjetsoldaten verneigten und dafür mit Arrest bestraft wurden, zum notwendigen Gedenken an die Nachkriegszeit in Stukenbrock.

Die Geschichten des Stalag 326

Besonders sowjetische Kriegsgefangene wurden unter Missachtung des Völkerrechts im Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager (Stalag) 326 VI K interniert. Obwohl kein typisches Vernichtungslager, war der durch Hunger und Schwerstarbeit herbeigeführte massenhafte Tod von Gefangenen eingeplant.

Anfang Mai 1941, also noch vor dem Überfall auf die Sowjetunion, begannen die Bauarbeiten. Eine Riesenfläche von 400 mal 1.000 Metern wurde eingezäunt; Brunnen und Baracken für die Wachmannschaften wurden angelegt. Man rechnete mit einer großen Anzahl von Kriegsgefangenen.

Ein ehemaliger Gefangener, der Militärarzt Wladimir Semjonowitsch Siltschenko, berichtete aus eigenem Erleben: „Die erschöpften Gefangenen, die 1941 als erste in die Senne gebracht wurden, mussten das Lager 326 aufbauen und hatten dazu nur primitive Werkzeuge zur Verfügung. Bei schlechtem Wetter mussten sie – nass bis auf die Haut und durchgefroren sowie vom langen Arbeitstag erschöpft – auf der nackten, kalten oder feuchten Erde schlafen oder sich dort ausruhen.

Die erste Zeit erhielten die Gefangenen eine warme Mahlzeit: 200 Gramm Brot mit Stücken Sägemehl und feuchte Kohlrüben war die Tagesration für Menschen, die schwere, aufreibende Arbeiten verrichten mussten. Das führte zu einer hohen Sterblichkeit unter den Gefangenen des Lagers …“

Das Stalag 326 war einerseits Durchgangslager für den völkerrechtswidrigen Einsatz der Kriegsgefangenen in Stahlwerken und im Ruhrbergbau, andererseits versorgte es den Regierungsbezirk Minden und das Land Lippe mit Arbeitskräften, wobei diejenigen Gefangenen, die auf Bauernhöfen eingesetzt wurden, im Allgemeinen ein wenig besser gestellt waren.

Trotz dieser harten Bedingungen entstand eine Widerstandsgruppe. Sie rettete zahlreiche Mitgefangene vor dem sicheren Tod. Das Zentrum der Widerstandsgruppe befand sich im Lagerlazarett Staumühle, wo die Gestapokontrolle wegen der Ansteckungsgefahr schwächer war. Es gab auch deutsche Antifaschisten, die den Gefangenen halfen. Immer wieder werden drei Namen genannt, an die sich die ehemaligen Gefangenen dankbar erinnern: Ferdinand Hermann, Anton Liebel und Parischka. Ende 1944 übernahm der sowjetische Oberst S. J. Kurinin die Leitung der Widerstandorganisation. Sie konnte in Kenntnis der Kriegslage schon auf die Befreiung des Lagers hinarbeiten.

Während sich am 2. April 1945 US-amerikanische Truppen dem Lager näherten, entwaffneten sowjetische Lagerinsassen nach einem gut vorbereiteten Plan die Lagerwache.

Nach der Organisierung des Nötigsten machten sich die ehemaligen Gefangenen daran, eine Gedenkstätte zu errichten. Sie verwandelten die 36 Massengräber des Lagers in einen Friedhof. Vor jedem dieser Gräber steht ein Stein mit einem roten Stern. Diese Steine wurden von den Überlebenden gestaltet. Die Inschriften sollen auf das Leiden und Sterben ihrer Kameraden in Stukenbrock hinweisen. In der Mitte vor dem Gräberfeld befindet sich ein ebenfalls von den Überlebenden in 23 Tagen errichteter zehn Meter hoher Obelisk, verkleidet mit Granit, Marmor und heller Keramik und mit drei großen Sternen am oberen Drittel. Die Spitze zierte eine aus Glasplastik gefertigte rote Fahne mit dem Staatssymbol der UdSSR. In russischer, englischer und deutscher Sprache sind folgende Sätze in die Steine des Denkmals gemeißelt:

„Hier ruhen die in faschistischer Kriegsgefangenschaft zu Tode gequälten 65.000 russischen Soldaten. Ruhet in Frieden, Kameraden. 1941 – 1945“
Im Zuge des Kalten Krieges entfernte man in Stukenbrock als Erstes das Denkmal auf dem St. Achatius-Friedhof, das an die 42 im Lager erschossenen Offiziere der Roten Armee erinnerte. An dessen Stelle setzte man einen Gedenkstein für die „Opfer der Vertreibung“.

Dann ging man daran, den Obelisken auf dem Gräberfeld zu demontieren. Offenbar dachte niemand daran, die Schöpfer des Denkmals um Genehmigung zu bitten. Durch die Intervention der Sowjetischen Militärmission und der britischen Besatzungsmacht wurde der Abbau gestoppt. Die Sterne am Obelisken mussten wieder angebracht werden; die Glasplastik auf der Spitze des Denkmals, die die Fahne der Sowjetunion als Siegesfahne symbolisierte, wurde allerdings auf Weisung der CDU-Landesregierung gegen ein orthodoxes Kreuz ausgetauscht. Später beschloss dann die örtliche Verwaltung, den Obelisken hinter einer Dornenhecke verschwinden zu lassen, um ihn aus dem Sichtfeld des Friedhofs zu nehmen. Beherzte Bürger machten diesem Vorhaben ein Ende, indem sie die Hecke beseitigten.

Quelle: www.blumen-fuer-stukenbrock.eu

Blumen für Stukenbrock

Nachdem es schon vorher sporadisch Gedenkveranstaltungen und Kranzniederlegungen auf dem Sowjetischen Soldatenfriedhof gegeben hatte, begann mit dem September 1967 das regelmäßige Gedenken, Beachten und Aufarbeiten der Geschichte des Stalag und des Friedhofs. Aus einem Bündnis von Menschen verschiedener politischer und weltanschaulicher Orientierung entstand in der Folge die gemeinnützige Vereinigung Blumen für Stukenbrock e. V.

Für die Mahn- und Gedenkveranstaltung 1970 kam uns die Idee, für jeden im Lager umgekommenen Kriegsgefangenen eine Blume auf das Gräberfeld zu legen. „Blumen für Stukenbrock“ war das Motto. Rund 5.000 Menschen verwandelten den Friedhof in ein Blumenmeer. Das Motto dieser eindrucksvollen Veranstaltung gab unserer Gruppe den Namen.

Am ersten Wochenende im September finden seit mehr als 50 Jahren auf dem Friedhof eindrucksvolle Mahn- und Gedenkveranstaltungen statt. Botschafter und Gesandte wie Delegationen aus mehreren Ländern, darunter Überlebende des Lagers, nahmen daran teil.

Alle Reden, Aussagen und Handlungen waren stets darauf gerichtet, dass nie vergessen wird, was in Stukenbrock geschah, und dass alles getan werden muss, neuen Faschismus und Kriege zu verhindern.

Heinrich Albertz, Martin Niemöller, Arno Klönne, Eugen Drewermann, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Michael Sommer, Karin Benz-Overhage, Bärbel Bohley, Peter Gingold, Gregor Gysi, Max Reimann, Gerd Bastian, Christian Götz, Jürgen Trittin, Rolf Becker und viele andere hielten die Gedenkreden.
Es ging uns von Anfang an um ein würdiges Gedenken vieler Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung – nichts sollte vergessen werden.

Es gelang uns, über das „Komitee der Kriegsveteranen der UdSSR“ Kontakt zu Überlebenden des Stalag 326 aufzunehmen. Der Moskauer Korrespondent der Zeitung „Unsere Zeit“, Hubert Kuschnik, war es, der in den Räumen des Komitees mit mehreren Überlebenden des Stalag 326 Gespräche über ihre Erlebnisse in Stukenbrock führte. Diese Berichte wurden von uns in einer Broschüre verarbeitet.

Regelmäßig luden wir danach Überlebende zu unseren Veranstaltungen in Stukenbrock ein. In Gesprächen mit dem Bürgermeister und Gemeindedirektor von Schloß Holte-Stukenbrock betonten sie ihre Bereitschaft, an der Schaffung einer Dokumentationsstätte mitzuarbeiten. Den Arbeitskreis Blumen für Stukenbrock baten sie immer wieder, ihre Anliegen und Erwartungen hier zu vertreten. Für uns war und ist das Ehre und Verpflichtung.

Mit ihrer Hilfe konnten wir eine Ausstellung mit Bildern von A. Glinow über das Lagerleben veranstalten. Zahlreiche Überlebende stellten uns Aufzeichnungen über ihre Erlebnisse in der Gefangenschaft zur Verfügung, die wir in dem Buch „Das Lager 326“ veröffentlichten.

Delegationen des Arbeitskreises besuchten die UdSSR und pflegten dort enge Kontakte zu Überlebenden.

Zu den Höhepunkten unserer Arbeit gehört zweifelsfrei der Besuch von Raissa Gorba­tschowa im Jahre 1989. In Begleitung von Hannelore Kohl und Christina Rau gedachte sie auf dem Sowjetischen Soldatenfriedhof ihrer Landsleute. Dieser Besuch fand international große Beachtung, ebenso das Engagement des Arbeitskreises.

Die Arbeit von Blumen für Stukenbrock fand vor allem in der UdSSR große Beachtung und Würdigung. Werner Höner wurde im Jahre 1987 vom Obersten Sowjet stellvertretend für Blumen für Stukenbrock mit dem „Orden der Völkerfreundschaft“ ausgezeichnet. Hohe Auszeichnungen gab es auch vom „Komitee der Kriegsveteranen der UdSSR“.

Nach wie vor setzt sich der Arbeitskreis auf Bitten von Überlebenden für die Wiederherstellung des Obelisken in seiner Urform ein.

Will man eine würdige Gedenkstätte schaffen, ist es unverzichtbar, den Arbeitskreis Blumen für Stukenbrock mit seinen reichen Erfahrungen und Verdiensten in allen Fragen mit einzubeziehen.

Quelle: www.blumen-fuer-stuckenbrock.eu
(Text redaktionell bearbeitet)

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"Erinnern an die Verbrechen der Wehrmacht", UZ vom 3. September 2021



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