Ein paar Bilder bewaldeter Idylle aus dem Bergischen Land, mitten darin eine kaum auffällige Villa, dann der Schock: eine Architektur des Luxus, ein gewaltiger Swimmingpool mit automatischer Überdachung, im Innern edelste Interieurs, ein Hund, der auf einem Tigerimitat residiert, afrikanische Skulpturen und Mitbringsel aus aller Herren Länder. Sie künden von einer Ferne, die sich die Besitzer flächendeckend auf ihre Wände haben malen lassen. Ein Heim wie eine Stein gewordene spätrömische, nein, neureich kapitalistische Dekadenz, und eine Groteske, die noch gesteigert wird durch die Ungeniertheit, mit der sich das dort wohnende Paar darin selbst in Szene setzt. „Sonntag, Büscherhöfchen 2“ heißt nüchtern der knapp viertelstündige Film, den Miriam Gossing und Lina Sieckmann darüber gedreht haben, eher schmunzelnd als „entlarvend“ – denn ihre Protagonisten entlarven sich selbst. Auch wenn die Juroren es übergingen: als Dokument einer (Selbst-)Inszenierung passt das kleine Kabinettstück perfekt in das Profil der am Montag beendeten 24. „dokumentART“ in Neubrandenburg, die eben jene Randzonen zwischen Spielfilminszenierung und Dokumentarfilm traditionell in den Blick rückt.
In diesem Konzept ist Raum für viele Formen, vom Dokumentarfilm-Fake über Animations- und Experimentalfilm bis zu klassischen Formen genauer, aber kommentarloser Beobachtung, wie sie neben dem genannten Film auch „Au secours“der Belgierin Alexandra Laffin am Beispiel eines Notfall-Callcenters überzeugend darbot: eine Handvoll unbesungener Heldinnen und Helden, denen Laffin durch bloßes Zuhören und Beobachten ihres hektischen Alltags die fällige Aufmerksamkeit erweist. Auch „Vechnaja ogon“ von Vitali Manskij verzichtet auf jeden Kommentar, aber der erfahrene russische Dokumentarist nutzt die Filmmontage, um seine eigene, klare Haltung zum gezeigten Vorgang deutlich zu machen. Das im Titel angesprochene ewige Feuer, das in einer ukrainischen Kleinstadt zu Ehren der Weltkriegsveteranen brennen, aber dann „zur Energieersparnis“ erlöschen sollte, ist selbst nach seinem Wiederanzünden eine tragikomische Kulisse für die drei alten, ordensgeschmückten Kriegsveteranen – ein Bild voller Bitterkeit und tiefem Sarkasmus.
Natürlich fehlten auch nicht die selbstverliebten Spielereien wie Luca Ferris „Caro nonno“, ein 18-minütiger nervtötender Test der Zuschauergeduld, doch sie spielten im Gesamtbild keine Rolle. Auch scheint die Zeit vehementer politischer Pamphlete früherer Jahre endgültig vorbei, die aktuellen gesellschaftlichen Probleme werden eher mit sorgfältig recherchierten Teilaspekten ins Licht gerückt. So kommt manchem Film, der schon weit vorher konzipiert oder gedreht war, vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdebatte unerwartete Aktualität zu. Das spanische Regieduo David Munoz und Beatriz Ros folgt einer Frau in einem Flüchtlingslager im Libanon bei ihren täglichen Verrichtungen, aber bald lässt der Filmtitel „El juego de escondite“ („Versteckspiel“) beim Zuschauer Zweifel aufkommen, ob nicht umgekehrt sie den Anweisungen des Filmteams folgt. Auf ganz andere, wirklich ergreifende Weise widmet sich „Shipwreck“ aus den Niederlanden dem Thema. Regisseur Morgan Knibbe konfrontiert uns mit dem Trauma eines aus dem Schiffswrack Geretteten, der selber nur überlebte, weil zwei seiner Kameraden auf seine Hilfe verzichteten – ein Bild, das einem nicht aus dem Kopf geht.
Viel zu sehen also bei der „dokART“ und viel Gelegenheit zu vertiefenden Gesprächen mit den Filmemachern aus aller Welt. Sprachschwierigkeiten sind da unausweichlich, und Dolmetscher sind teuer. Aber wer um alles in der Welt denkt sich ein Modell wie in Neubrandenburg aus, bei dem ein deutscher Moderator mit deutschen Filmemachern – um der Internationalität des Festivals willen? – in (beiderseits!) unzulänglichem Englisch Sinn und Ziel eines Films erkunden muss? Das örtliche Publikum, das in diesem Jahr ohnehin spärlicher zu sein schien als in den Vorjahren, wird so de facto noch mehr in die Zuhörerrolle gedrängt oder bleibt gleich ganz weg. Ein Irrweg, der zur 25. „dokART“ anno 2016 korrigiert sein sollte. (zu den Preisen: www.dokumentart.org)