Zum Tod des irischen Dichters Michael Longley

Erforscher von Herkunft und Menschlichkeit

Michael Longley, einer der bekanntesten Dichter Irlands, starb am 22. Januar im Alter von 85 Jahren. Sein Tod markiert das Ende einer bedeutenden Generation irischer Dichter.

Longley wurde 1939 in Belfast als Sohn englischer Eltern geboren, im selben Jahr wie Seamus Heaney, der im ländlichen County Derry aufwuchs. Gemeinsam mit Derek Mahon bildeten diese drei Dichter ein Triumvirat von Talent, das in den 1960er Jahren Bedeutung gewann. Dank der Einführung der kostenlosen Sekundarschulbildung in Britannien nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte Longley die Royal Belfast Academical Institution, wo er seine Liebe zur Literatur entdeckte, die er am Trinity College Dublin vertiefte.

Die Verbindung zwischen Longley, Heaney und Mahon war von zentraler Bedeutung. Trotz ihrer unterschiedlichen konfessionellen und kulturellen Hintergründe wurden sie zu führenden Stimmen der literarischen Renaissance im Norden Irlands.

Longley reflektierte oft über seine doppelte Identität als Ire und Brite. „Ich fühle mich irisch … Irland hat mir all die Daten gegeben, aus denen ich Sinn im Leben schöpfe, und ich denke, meine Seele würde verkümmern, wenn ich die britische Seite verleugnen würde“, sagte er einmal. Dieses differenzierte Zugehörigkeitsgefühl bereicherte sein Werk und erlaubte ihm, Themen wie Heimat und Herkunft tiefgehend zu erforschen.

Die Sensibilität für Natur und die irische Landschaft kennzeichnete Longleys Poesie. Sein zweites Zuhause in Carrigskeewaun, County Mayo – seine „Seelenlandschaft“ –, wurde zu einem wiederkehrenden Motiv. Mit präziser und eindringlicher Sprache feierte er die Schönheit der Umwelt und setzte sich gleichzeitig mit Sterblichkeit und Verlust auseinander.

Longleys Gesamtwerk umfasst 13 Gedichtsammlungen, beginnend mit „No Continuing City“ (1969) und abschließend mit „The Slain Birds“ (2022). Seine Werke behandelten Themen wie Liebe, Natur, Politik und Geschichte, einschließlich der Weltkriege. Dafür erhielt er renommierte Auszeichnungen wie den PEN Pinter Prize, den TS Eliot Prize und den Griffin International Prize.

Während des Nordirlandkonflikts schrieb Longley häufig über die menschlichen Kosten der Unruhen. „Waffenruhe“, veröffentlicht nach dem IRA-Waffenstillstand 1994, fängt den Geist der Versöhnung ein, indem es eine Szene aus der „Ilias“ neu erzählt.

Der Trojanische Krieg, der mit der Entführung Helenas von Sparta durch Paris begann, dauerte zehn Jahre und forderte den Tod vieler Helden, bevor Troja durch Odysseus’ listiges Trojanisches Pferd fiel. Homers „Ilias“ konzentriert sich auf einige Wochen gegen Ende des Krieges und beleuchtet die Trauer und den Zorn des Achill nach dem Tod seines engsten Gefährten Patroklos durch die Hand des trojanischen Prinzen Hektor.

Im vierundzwanzigsten und letzten Buch der Ilias besucht Priamos, König von Troja und Vater Hektors, nachts das Zelt von Achill. Er bittet um die Herausgabe von Hektors Leichnam, damit dieser ein würdiges Begräbnis erhalten kann. Trotz der Tatsache, dass er Hektors Mörder ist, gewährt Achill Priams Bitte und ihre gemeinsame Trauer schafft einen Moment tiefer Menschlichkeit. Longley verdichtet diese Episode in die lebendige Bildsprache von „Waffenruhe“, geschrieben als Shakespeare-Sonett.

Im Zentrum von „Waffenruhe“ steht die geteilte Trauer von Priam und Achill. Beide beklagen den Verlust eines geliebten Menschen – Priam seinen Sohn Hektor, Achill seinen Gefährten Patroklos. Ihr gemeinsamer Schmerz überwindet Feindschaft und schafft tiefes gegenseitiges Verständnis.

Das Gedicht beginnt mit Achill, der Mitgefühl für Priam zeigt, da er an seinen eigenen Vater erinnert wird. Obwohl er die Macht innehat, behandelt Achill den König mit Sanftmut. Priam, machtlos, kniet demütig zu Achills Füßen und ihre gemeinsame Trauer erfüllt den Raum.

Waffenruhe

I
Denkend des eignen Vaters, zu Tränen gerührt,
Nahm Achill ihn bei der Hand, den greisen König schob
Sanft von sich, doch Priam, eingerollt zu Fuß ihm,
Und weint mit ihm, bis ihr Weh die Wände füllt.

II
Hektors Leichnam in die eigne Hand nehmend, Achill
Sorgt für sein Waschen und, dem Königsgreis zulieb,
Richt’ aus in Uniform, bereit für Priam, ihn verpackt
Wie ein Geschenk nach Haus zu führn, nach Troja, in der Früh.

III
Gemeinsam mahlend, gefiel es dann den zwei
Zu mustern einander Schönheit wie Liebende
Achill göttlich gebaut, herrlich noch Priam
Und des Gespräches voll, der vorher hatt’ geseufzt:

IV
„Ich falle auf die Knie und tu’, was tun ich muss
Und küss Achill die Hand, dem Mörder meines Sohns.“

(Übertragung von Jenny Farrell)

In der zweiten Strophe widmet sich Achill liebevoll Hektors Leichnam, um ihn für Priam herzurichten, damit dieser ihn nach Troja zurückbringen kann. Der Fokus verschiebt sich von Achills Handlungen zu Priams Zerbrechlichkeit und Machtlosigkeit. Obwohl Achill Priam etwas Unersetzliches genommen hat, gibt er dem trauernden Vater das zurück, was am meisten zählt: die Würde, seinen Sohn begraben zu können.

Die dritte Strophe erkundet die wachsende Nähe und Gleichwertigkeit zwischen den beiden Männern. Wendungen wie „gemeinsam“, „zwei“ und „einander“ betonen ihre geteilte Menschlichkeit. Eine einzelne Zeile – „Achill göttlich gebaut, herrlich noch Priam“ – bringt ihre Gleichwertigkeit ins Gleichgewicht, wie eine Waage. Dieser Moment fängt ihre gegenseitige Anerkennung und ihren Respekt ein und deutet auf eine Versöhnung hin, selbst angesichts tiefen Verlusts.

Longley bleibt Homer treu und spiegelt Achills Halbgott-Status und Priams gottähnliche Präsenz wider. Der flüchtige Moment der Gemeinsamkeit deutet darauf hin, dass selbst Feinde durch geteilte Trauer Hass überwinden können.
Doch das Gedicht endet nicht allein auf dieser harmonischen Note. Das abschließende Couplet erinnert an die vorangegangene Sorge Priams: „Ich falle auf die Knie und tu’, was tun ich muss/Und küss Achill die Hand, dem Mörder meines Sohns.“

Dieses Couplet unterstreicht den monumentalen Schritt, den Priam unternimmt, indem er vor Achill niederkniet. Dieses ergreifende Ende hebt die Gleichheit ihrer Trauer hervor – Achill trauert um Patroklos, Priam um Hektor. Die Hand, die Hektor tötete, ist dieselbe, die seinen Leichnam und Priam mit Würde behandelte – Trauer spiegelt Trauer wider, Verlust antwortet auf Verlust.

Jenny Farrell ist Autorin des kürzlich im Verlag Neue Impulse erschienenen Buches „Widerstand und Befreiung: Essays über irische Literatur“.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Erforscher von Herkunft und Menschlichkeit", UZ vom 31. Januar 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Schlüssel.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit