Behinderte Menschen in der jungen Sowjetunion

Erfolge trotz schwierigster Bedingungen

Daniel Horneber

Nach der Oktoberrevolution war die Revolutionsregierung bestrebt, das Gesundheitssystem wiederaufzubauen und die Ausbildung auf diesem Gebiet zu verbessern. Zunächst erhielten beeinträchtigte Menschen nur dann soziale Leistungen, wenn sie Kriegsinvaliden der Roten Armee waren. Ab 1921 führte die Revolutionsregierung das Kriterium der Arbeitsfähigkeit als Definition von Beeinträchtigung ein. Je nach Schweregrad der Beeinträchtigung wurden behinderte Menschen zunächst in fünf Gruppen eingeteilt. Großgrundbesitzer, Kapitalisten und hohe Beamte des Zaren waren von allen Sozialleistungen für Beeinträchtigte ausgeschlossen. In der Phase der „Neuen Ökonomischen Politik“ wurden die Renten für Menschen mit Beeinträchtigungen massiv erhöht. Darüber hinaus wurden die Behindertengenossenschaften eingerichtet, um Arbeitsgelegenheiten für diesen Personenkreis zu schaffen. Entsprechend ihren individuellen Möglichkeiten wurden dort behinderten Menschen planmäßig Ausbildung und Arbeit zugewiesen.

In die Behindertengenossenschaften wurden zuerst nur Kriegsinvaliden aufgenommen. Ab 1923 wurde der Kreis ausgeweitet. Eine Ärztekommission entschied darüber, ob ein behinderter Mensch der Genossenschaft beitreten durfte oder nicht. Zwischen den Jahren 1925 und 1927 zerfielen die Behindertengenossenschaften fast vollständig, da aufgrund zu harter Arbeit viele ihrer Mitglieder austraten.

Behinderte Menschen aus der Bauernklasse bekamen Geld über eine Rentenkasse, die von den Mitgliedern der Produktionsgenossenschaften finanziert wurde. Sie waren damit bis zur Einführung einer allgemeinen Arbeitsunfähigkeitsversicherung für Bauern im Jahr 1965 schlechter gestellt als Arbeiter.

Mit dem ersten Fünfjahresplan kam es im Jahr 1929 zur sogenannten „Großen Wende“. Zur Erreichung des Ziels der verstärkten Industrialisierung der sowjetischen Wirtschaft sollten auch die Behindertengenossenschaften beitragen: Sie wurden in die zentrale Planwirtschaft eingegliedert. Das hatte zur Folge, dass die Löhne auf feste Stundenlöhne umgestellt wurden, die sich am damaligen Durchschnittslohn orientierten – vorher waren sie vom Gewinn der einzelnen Genossenschaft abhängig. Diese Anpassungen führten in einigen Genossenschaften zu Lohnsenkungen. Auch die von den Genossenschaften betriebenen Läden wurden aufgelöst, die Waren durften nur noch auf Märkten verkauft werden. In den folgenden Jahren wuchs die Zahl der Beschäftigten in den Behindertengenossenschaften der Sowjetunion bis 1939 auf 230.000 beeinträchtigte Menschen.

In den 1930er Jahren wurde die Teilhabe behinderter Menschen an der gesellschaftlichen Arbeit stark propagiert. Sie sollten zum Aufbau des Sozialismus ihren Beitrag leisten. So waren Behinderte Teil der Stachanow-Bewegung, der Kampagne zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Auch in die vormilitärischen Übungen waren behinderte Menschen eingebunden, um mit der Waffe in der Hand den Sozialismus verteidigen zu können.

Der Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen war in der jungen Sowjetunion widersprüchlich. Systematische Vergehen an psychisch kranken Menschen gab es nicht. Allerdings war die materielle wie die personelle Ausstattung der Psychiatrien mangelhaft – auch wenn es Bemühungen der Behörden gab, die Situation zu verbessern. Dabei kam es immer wieder zu Problemen mit Ärzten, die das sozialistische System aufgrund ihres Klassenstandpunkts ablehnten. Einige dieser Ärzte führten auch eugenische Argumentationsmuster fort, die damals unter bürgerlichen Wissenschaftlern in den imperialistischen Ländern weit verbreitet waren. Es sollten Erkenntnisse der Humangenetik auf die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik angewandt werden, also Maßnahmen ergriffen werden zur Vermehrung „positiver“ und Reduzierung „negativer“ Erbanlagen. In allen imperialistischen Ländern war diese „Wissenschaft“ durchmischt mit rassistischen Vorurteilen – „rassenhygienische“ Vorstellungen waren weitverbreitet. Dazu gehörte auch immer die Debatte, beeinträchtigtes Leben zu verhindern. Ab Mitte der 1930er Jahre kam es zu einem Umdenken. Den Eugenikern wurde Kollaboration mit den deutschen Faschisten vorgeworfen, einige von ihnen wurden 1937 hingerichtet.

Etliche deutsch-jüdische Psychiater fanden in der Sowjetunion Schutz vor der Verfolgung in Nazideutschland. Das gab der psychiatrischen Forschung und Arbeit in der Sow-jetunion einen großen Schub.

Mit dem Überfall des deutschen Faschismus verschlechterte sich die Lage Behinderter oder psychisch Kranker erheblich. In den besetzten Gebieten fielen Tausende den faschistischen Massenmorden zum Opfer. Mit den allgemein sich ungünstig gestaltenden Lebensbedingungen wurde die Situation besonders für Beeinträchtigte schwieriger, da sie ja besondere Bedürfnisse hatten. Vor allem wuchs ihre Zahl durch Kriegsinvaliden massiv an. 1947 erhielten 16,3 Millionen Sowjetbürger eine Invalidenrente als Kriegsversehrte, was etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte.

Einer dieser Kriegsopfer war Alexej Maressjew. Er war Jagdflieger der Roten Armee. Im ersten Kriegsjahr gelang ihm der Abschuss von vier feindlichen Flugzeugen. Im April 1942 wurde seine Maschine getroffen und stürzte ab. 18 Tage lang schlug sich Maressjew verletzt durch Sümpfe und Wälder, bis er gerettet wurde. Seine Beinverletzungen hatten sich allerdings derart verschlimmert, dass beide Unterschenkel amputiert werden mussten. Er wollte dennoch unbedingt Jagdflieger der Roten Armee bleiben und übte fast ein Jahr lang, um sein Flugzeug mit Prothesen steuern zu können. Im Juni 1943 stieg er wieder zu einem Luftkampf auf. Er nahm an insgesamt 86 Luftkämpfen teil und schoss dabei elf deutsche Maschinen ab.

Maressjew wurde nach dem Krieg Sekretär des Sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen und stand dadurch im Rampenlicht der sowjetischen und internationalen Öffentlichkeit. Er nutzte seine Popularität, um sich für behinderte Kriegsveteranen einzusetzen. In seiner Funktion wurde er auch Mitglied des Obersten Sowjets.

Seine Geschichte wurde verfilmt und diente als Vorlage des Romans „Der wahre Mensch“ von Boris Polewoi sowie einer Oper von Sergej Prokofjew. Schulen, Sonderschulen und Jugendeinrichtungen in der Sowjetunion und auch in der DDR trugen seinen Namen.

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"Erfolge trotz schwierigster Bedingungen", UZ vom 24. März 2023



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