Vor wenigen Tagen erschien im Mangroven-Verlag das Buch „Die Sanktionsmaschine“. Der UZ-Autor Manfred Sohn beleuchtet darin die völkerrechtswidrigen Sanktionen der westlichen Staaten als Teil ihrer Kriegsführung zur Absicherung ihrer Hegemonie. In Kapitel 5 verdeutlicht Sohn die brutale Praxis des Imperialismus an den Beispielen Kuba und Syrien. Aus aktuellem Anlass drucken wir hier mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag einen Auszug zu Syrien ab. Wir haben den Text leicht redigiert.
Im Jahr 2022 hatte Syrien 22 Millionen Einwohner und ist mit 185.000 Quadratkilometern halb so groß wie Deutschland. Seine drei wichtigsten Städte sind in ihrer Größe mit den drei größten Städten Deutschlands gut vergleichbar: Damaskus zählt gut 4 Millionen, Aleppo gut 2,5 Millionen und Homs gut 1,1 Millionen Einwohner.
Syrien teilt mit vielen Ländern außerhalb Europas die geschichtliche Erfahrung von Größe, Reichtum und beeindruckenden Kulturleistungen im Altertum und Mittelalter und Entwürdigung, Unterdrückung und Armut nach der Errichtung der Kolonialherrschaft durch westeuropäische Mächte. Für Syrien bedeutete das vor allem Unterdrückung durch Frankreich.
Seit der 1946 erreichten Unabhängigkeit kämpft das Land um die Souveränität seiner Regierung in den ihm seit der Kolonialzeit zugebilligten Grenzen. Aktuell leidet das Land nicht nur unter Bürgerkriegszuständen und den Sanktionen des Westens, sondern auch unter den Auswirkungen der von den alten Industrienationen zu verantwortenden Erwärmung des Erdklimas. Die Getreideernten der Jahre seit 2006 sind gegenüber denen in den jeweiligen vorherigen Jahrzehnten um fast die Hälfte geschrumpft, was grob geschätzt einer knappen Million Menschen unabhängig von den politischen Auseinandersetzungen (aber sie zum Teil erklärend) die ökonomische Lebensgrundlage entzogen hat.
Zwei Jahrzehnte
Der Sicherheitsrat der UN befasste sich in diesem Jahrhundert mehrfach mit Syrien. Im Oktober 2005 wurde dort der Mord an Rafiq al-Hariri, von 2000 bis 2004 libanesischer Ministerpräsident, mit der syrischen Regierung in Verbindung gebracht. Der Antrag der USA und der beiden anderen NATO-Mitglieder im Sicherheitsrat, diese bis dahin nicht aufgeklärte Tat mit Sanktionen gegen Syrien zu ahnden, scheiterte am Nein Russlands und Chinas. Die syrische Regierung sagte Kooperation zu; Libanon und Syrien nahmen zum Jahreswechsel 2008 zu 2009 diplomatische Beziehungen auf. Damit war dieser erste Anlauf des Westens, Syrien mit UN-Sanktionen zu überziehen, gescheitert.
Der zweite Anlauf fand im Gefolge bürgerkriegsähnlicher Erhebungen ab dem Jahre 2011 statt, die bis heute andauern und zwischenzeitlich dazu führten, dass die Regierung in Damaskus über einen Großteil des Landes die Kontrolle verloren hatte.
Auch die damit verbundenen Versuche, UNO-gestützte Sanktionen durchzusetzen, scheiterten an der von der UNO-Charta vorgeschriebenen Einstimmigkeit im Sicherheitsrat.
Mit allen Mitteln
Die daraufhin einseitig von den USA und der EU verhängten Sanktionen schnüren die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Landes erheblich ein. Sie gehen einher mit offen militärischen Maßnahmen und sind ein Beispiel dafür, dass die Grenze zwischen Wirtschafts- und Schießkrieg-Maßnahmen fließend und durchlässig ist.
Die Website des OFAC (siehe Kasten unten) führt knapp 650 „Treffer“ aus, die als Individuen oder Unternehmen oder Regierungsstellen dem Sanktionsregime der USA unterworfen sind. Allein die Liste der „Frequently asked Questions“ (FAQ) zu den hinsichtlich Syrien zu beachtenden Sanktionen umfasst knapp 30 solcher „häufig gestellten Fragen“, die beispielsweise exakt bestimmen, mit welchen Banken, die möglicherweise mit Syrien kooperieren, keinerlei Zahlungsverkehr abgewickelt werden darf, wenn nicht Milliardenstrafen zugunsten des US-Finanzministeriums riskiert werden sollen, das federführend in der Pflege dieser Sanktionsinstrumente ist.
Die US-amerikanische Sanktionsmaschine wird seit Anfang dieses Jahrhunderts in Brüssel nachgebaut.
Dies ist umso bemerkenswerter, als auch Russland und China im Sicherheitsrat Maßnahmen billigten, die zwar die Souveränität der dortigen Regierung einschränkten, aber das Ziel verfolgten, den Not leidenden Menschen zu helfen. Karin Leukefeld schreibt dazu in „junge Welt“ vom 6. Juli 2023: „Grenzüberschreitende Hilfslieferungen nach Syrien wurden erstmals im April 2012 vom UN-Sicherheitsrat beschlossen und seitdem jährlich und halbjährlich verlängert. Die Maßnahme ist eine Ausnahmeregelung. Sie entzieht dem betroffenen Staat, Syrien, das souveräne Recht, seine Grenzen und Territorien zu kontrollieren, wie es in der UN-Charta für alle Mitgliedstaaten verankert ist.“
Zwei der fünf Vetomächte des Sicherheitsrates wirken dafür, diese Ausnahmeregelungen zu beenden und die staatliche Einheit Syriens wieder herzustellen – drei arbeiten dagegen. Leukefeld weiter: „In der Aussprache (UN-Sicherheitsrat Juni 2023 – M. S.) forderten die westlichen Vetomächte und andere die Verlängerung der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen aus der Türkei nach Idlib. Russland bezeichnete dagegen dieses immer wiederkehrende Thema als ‚scheinheilige westliche Propaganda‘. Ihnen sei sehr wohl bekannt, dass die Hilfe über die innersyrischen Kontaktlinien geleistet werden könnte, erinnerte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja. Der chinesische UN-Botschafter Geng Shuang sprach von einer ‚außergewöhnlichen Maßnahme‘, die zu Ende gehen müsse. Es sei unverständlich, dass einige Staaten so besorgt über die humanitäre Lage in Syrien seien, gleichzeitig aber selbst Sanktionen gegen das Land verhängt hätten. Das sei, als ‚würde man einen Patienten wiederbeleben, ohne den Würgegriff am Hals des Patienten zu lockern‘.“
Gegen die Menschen
Die Folgen des seit über einem Jahrzehnt anhaltenden Sanktionsregimes gegen Syrien sind gravierend. Die Staaten des Wertewestens waren noch nicht einmal angesichts des katastrophalen Erdbebens von September 2023 bereit, das Sanktionsregime fallen zu lassen: „Auf der Pressekonferenz des US-Außenministeriums am Tag des Erdbebens fragte ein Journalist den Sprecher Edward Price, ob es nicht eine ‚großartige Geste‘ wäre, wenn die US-Regierung Damaskus Hilfe anböte, und ob es nicht auch eine Geste wäre, ‚die Sanktionen aufzuheben, die Syrien im Grunde ersticken‘. Price antwortete, es wäre ‚ziemlich ironisch, wenn nicht sogar kontraproduktiv (…), wenn wir einer Regierung die Hand reichten, die ihr Volk seit nunmehr einem Dutzend Jahren brutal behandelt hat – sie hat es vergast und abgeschlachtet und ist für einen Großteils des Leids verantwortlich, das es ertragen musste‘“, schreibt Leukefeld am 16. Februar 2023 in „junge Welt“.
Die verbale Heftigkeit, bei der Worte wie „brutal“ und „abgeschlachtet“ eingesetzt werden, lenkt – wie häufig – ab von einem anderen wichtigen Aspekt dieses Sanktionsregimes: Es verknüpft sich eng mit offener Verletzung der staatlichen Souveränität eines Landes bis hin zu unverhohlenen militärischen Maßnahmen auf dessen Territorium. Fast 1.000 bewaffnete Männer und Frauen hat die US Army in Syrien stationiert. Dazu kommen in unbekannter Höhe Bewaffnete von US-Sicherheitsfirmen. Diese Truppen befinden sich dort gegen den erklärten Willen der von der UNO anerkannten Regierung. Sie sind Invasionstruppen. Ihr Wirken ist ein offener Bruch aller völkerrechtlichen Bestimmungen. Im Schatten der Bewaffneten wird Diebstahl begangen. Fares Schehabi, der Vorsitzende der Industriekammer der 2,5-Millionenstadt Aleppo, formuliert es so: „Wir haben eine anhaltende Depression mit steigender Inflation. Ja, das liegt auch an falschen Regierungsentscheidungen, aber die Folgen davon sind gering im Vergleich zu unserem Hauptproblem. Und das sind die Sanktionen des Westens, die seit 2011 gegen uns in Kraft sind. Der zweite Grund ist, dass wir nicht an unsere Ressourcen östlich des Euphrat kommen. Unsere Öl- und Gasfelder, unser Weizen und unsere Baumwolle liegen außerhalb unserer Reichweite. Seit 50, 60 Jahren sind Weizen und Baumwolle die Basis der syrischen Ökonomie. Alle sozialistischen Wirtschaftsprogramme der syrischen Regierungen schon vor Assad basierten auf der Weizen- und Baumwollproduktion. Beide Rohstoffe können wir nicht erreichen und das ist eine Katastrophe.“
Gegen die UNO
Bereits im September 2022 – also ein halbes Jahr vor der Verschärfung der Lage durch das Erdbeben – erklärte die UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechte und einseitige Zwangsmaßnahmen, Alena Douhan: „Ich fordere die sofortige Aufhebung aller einseitigen Sanktionen, die den Menschenrechten ernsthaft schaden und jegliche Bemühungen um eine baldige Erholung verhindern.“
Die Nichtregierungsorganisation „Christian Solidarity International“ (CSI) appellierte sogar an US-Präsident Joseph Biden mit besonderem Hinweis auf die Lage der Christen in Syrien:
„Der Bericht der UNO-Sonderberichterstatterin hält mit Blick auf die humanitäre Katastrophe unmissverständlich fest: Die Sanktionen gegen Syrien spielen in der derzeitigen Krise eine bedeutende Rolle. Die Sanktionen machen es beispielsweise extrem schwierig, Infrastruktur zu reparieren oder Ersatzteile für das Stromnetz oder medizinische Geräte zu bestellen. Die Sanktionen gegen die syrische Zentralbank verunmöglichen den Syrern den freien Handel mit dem Ausland. Auch hindern die Sanktionen die Syrer daran, Treibstoff zu importieren. Dadurch werden Brennstoffe und Strom knapp, was wiederum die Bewässerung von Feldern, den Transport von Lebensmitteln, die Kühlung von Impfstoffen oder die Beleuchtung in Schulen erschwert. (…)
Zwar ist der Bürgerkrieg in Syrien seit 2018 praktisch zum Erliegen gekommen. Doch die humanitäre Lage im Land ist heute schlimmer als zuvor. Grund ist die Verschärfung der Wirtschaftssanktionen durch die USA im Jahr 2018. Die Schlussfolgerung von UNO-Sonderberichterstatterin Douhan ist ungewöhnlich deutlich formuliert: ‚Die Aufrechterhaltung einseitiger Sanktionen angesichts der derzeitigen katastrophalen und sich weiter verschlechternden Lage in Syrien kann auf ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen das gesamte syrische Volk hinauslaufen.‘ (…)
Die Krise trifft alle im Land. Die Sanktionen zerstören die letzten Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Für die christliche Minderheit könnte die gegenwärtige Lage sogar zu einer Existenzfrage werden. Im Januar 2021 unterzeichneten neun syrische Kirchenleiter einen offenen Brief von CSI an US-Präsident Biden mit der Aufforderung, die Sanktionen aufzuheben. Zwei Drittel aller Christen in Syrien haben seit Ausbruch des Krieges das Land verlassen – und der Aderlass geht weiter. (…)
Washington und seine Verbündeten behaupten, die Sanktionen würden die syrische Regierung für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Doch nach elf Jahren des Sanktionsregimes ist klar und von der UNO-Sonderbeauftragten nun bestätigt: Die Sanktionen bewirken nichts anderes als die Verarmung des syrischen Volkes.“
Sie wissen, was sie tun
Im Mai 2023 veröffentlichte das europäische Ifo-Institut eine Studie über die Wirkung von Sanktionen auf die Bevölkerung der betroffenen Länder. Die Kernschlussfolgerung bildet die Überschrift einer entsprechenden Pressemitteilung: „Wirtschaftssanktionen erzeugen hohe Kosten vor allem für ärmere Bevölkerung in den Zielländern.“ Weiter heißt es dort: „Einseitige Sanktionen durch die USA führen zu einem jährlichen Rückgang des Wachstums um knapp einen Prozentpunkt in den betroffenen Ländern. Langfristig entspricht dies einem Einbruch der Leistung der Wirtschaft pro Kopf um 13 Prozent. (…) Wirtschaftssanktionen treffen regelmäßig den Teil der Bevölkerung in den sanktionierten Ländern am stärksten, der in oder nahe der Armut lebt. Dies war in der Vergangenheit vor allem bei US-Sanktionen der Fall. (…) Die Zahlen basieren auf Auswertungen von 160 Ländern. Davon waren 67 im Zeitraum von 1976 bis 2012 von Wirtschaftssanktionen betroffen. ‚In der Vergangenheit wurden Sanktionen meist gegen kleinere Volkswirtschaften verhängt. Aus den Analysen können wir daher nicht ableiten, wie die aktuellen Sanktionen auf große Volkswirtschaften wie Russland wirken‘, ergänzt Neumeier“, Leiter der dreiköpfigen Forschungsgruppe.
In der Tat: Mit dem Loslassen der Sanktionsmaschine gegen Staaten ganz anderer Kaliber als Syrien, insbesondere gegen die beiden Sicherheitsrats-Mitglieder Russland oder möglicherweise sogar China schlagen die USA und die ihnen hörigen westlichen Regierungen ein neues Kapitel ihrer Sanktionspolitik auf.
OFAC
Das „Office of Foreign Asset Control“ (OFAC) untersteht dem US-Finanzministerium. Es ist zuständig für die Überwachung der US-Handels- und Wirtschaftssanktionen. Im Oktober 2023 führte die Behörde Sanktionslisten für 25 Staaten und 13 Listen zu Kategorien wie „Transnationale terroristische Organisationen“. Die EU führt ebenfalls entsprechende Listen. Für Unternehmen ist es fast unmöglich, den Überblick über die Bestimmungen aus Washington und Brüssel zu behalten. Schon die bloße Erwähnung im Zusammenhang mit Sanktionen wirkt sich deshalb negativ auf den Handel der betroffenen Länder aus.
Manfred Sohn
Die Sanktionsmaschine – Eine Einführung
Mangroven-Verlag, Kassel 2024, 131 Seiten, 25 Euro
Erhältlich im UZ-Shop