Gut einen Monat nach dem vereitelten Militärputsch in der Türkei dauert der unmittelbar danach gestartete Gegenputsch von Präsident Recep Tayyip Erdogan an. Der autoritäre Staatschef des NATO-Mitgliedslandes lässt seine Kritiker gnadenlos verfolgen, der kurdischen Bevölkerung sagt er den Krieg an. Mehr als 81 000 Staatsbedienstete sind seit dem 15. Juli suspendiert oder entlassen worden, darunter auch 3 000 Soldaten. Wie der Erdogan total ergebene Ministerpräsident Binali Yildirim am 14. August im Sender CNN Türk erklärte, sitzen mehr als 17 000 Menschen in Untersuchungshaft. Die Gefängnisse des Landes sind hoffnungslos überbelegt. Es wird eine Zeit dauern, bis Prozesse gegen die Verhafteten durchgeführt werden, sind doch auch 3 000 Staatsanwälte und Richter entlassen worden, denen Ankara mangelnde Erdogan-Gefolgschaft unterstellt.
Wenn nach den Sommerferien die Schulen wieder öffnen, wird ein guter Teil der Heranwachsenden mit neuem Lehrpersonal konfrontiert sein. Erdogan hat zehntausende Lehrerinnen und Lehrer privater wie staatlicher Bildungseinrichtungen gefeuert. Man kann sich an fünf Fingern abzählen, dass die Neueingestellten voll auf Kurs der islamistischen AKP-Regierung liegen werden – und wer im Dienst verbleiben konnte, dürfte sich mit Kritik zurückhalten, um nicht ebenfalls in die Arbeitslosigkeit zu geraten. Auch alle Rektoren der Hochschulen sind zum Rücktritt aufgefordert worden. Die „Säuberung“, wie Erdogan die Massenentlassungen und Massenverhaftungen in faschistischer Diktion nennt, umfasst bis hin zu Kultur und Sport alle gesellschaftlichen Bereiche und zielt auf den Umbau des kompletten Staatsapparats.
Erdogan ist beim Ausbau seiner Macht so erfolgreich, weil die Opposition zum großen Teil übergelaufen ist. Auf einer Großkundgebung in Istanbul mit mehr als einer Million türkische Fahnen schwenkenden Teilnehmern, nahmen Anfang August neben der herrschenden AKP auch die kemalistisch-sozialdemokratische Oppositionspartei CHP und die rechte MHP teil. Explizit nicht eingeladen zu der nationalistischen Einheitsfront war die zweitgrößte Oppositionspartei in der Großen Nationalversammlung, die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). Deren Führung will Erdogan den Prozess machen. Wie am 12. August bekannt wurde, sollen zunächst der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas und seine Parteikollegin Sirri Süreyya Önder wegen „Terrorpropaganda“ angeklagt werden. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft fordert den Angaben zufolge jeweils fünf Jahre Haft. Den beiden Abgeordneten wird vorgeworfen, bei einer Veranstaltung im Jahr 2013 positive Aussagen über die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK und deren inhaftierten Vorsitzenden Abdullah Öcalan getroffen zu haben. Das Absurde an der Anklage: Zu jener Zeit befand sich die regierende AKP in Friedensverhandlungen mit der PKK, Ministerpräsident Erdogan hatte seinen Geheimdienstchef Hakan Fidan auf die Gefängnisinsel Imrali zu Öcalan geschickt.
Erdogan hatte den Friedensprozess und einen Waffenstillstand im vergangenen Jahr aufgekündigt. Die türkische Armee, Polizei und paramilitärische Verbände starteten einen Feldzug gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes. Deren politische Vertretung HDP blockierte nämlich die vom Staatschef gewünschte Verfassungsänderung und den offiziellen Umbau der Türkischen Republik in ein autoritäres Präsidialsystem. Über Monate wurden ganze Städte abgeriegelt, der Ausnahmezustand sicherte brutales Vorgehen der „Sicherheitskräfte“ und ein Unterbinden kritischer Berichterstattung ab. Nach Erdogans Putsch in diesem Sommer gilt das für das ganze Land. Den Kurden soll jede Perspektive genommen werden, sich politisch-demokratisch zu betätigen. Nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von mehr als 50 HDP-Politikern im Mai dieses Jahres hatte Demirtas bereits angekündigt, mit den Justizbehörden nicht zusammenzuarbeiten.
Ein weiterer prominenter Erdogan-Gegner, der türkische Journalist Can Dündar, erhebt mit seinem Buch „Lebenslang für die Wahrheit“ seine Stimme gegen die Diktatur am Bosporus. Der Chefredakteur der regierungskritischen Tageszeitung Cumhuriyet berichtet in dem Band, der am 8. September auf Deutsch erscheint, von seiner Zeit im Gefängnis und darüber, „was es heißt, heute als Journalist in der Türkei zu arbeiten und dabei seinen Grundsätzen treu zu bleiben“. Can Dündar war im Mai zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt worden, sein Kollege Erdem Gül zu fünf Jahren. Von Erdogan-hörigen Richtern in Istanbul waren sie des Geheimnisverrats für schuldig befunden worden, weil sie 2015 illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien enthüllt hatten.
Die US-Regierung lässt sich von den autoritären Zuständen in Ankara nicht abschrecken. Ende August wird Vizepräsident Joe Biden mit großem Tross in der Türkei erwartet. Es wäre der erste offizielle Türkei-Besuch eines ranghohen Regierungsvertreters aus dem NATO-Lager seit Erdogans totaler Machtergreifung.