Der alte wird der neue: Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Stichwahl in der Türkei gewonnen. Im 100. Jahr der türkischen Republik ist der Chef der islamistischen AKP am Sonntag auf 52,14 Prozent der Stimmen gekommen, sein Herausforderer Kemal Kiliçdaroğlu von der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP und unterstützt von einem Wahlbündnis aus sechs Parteien bis weit ins rechte Lager, auf 47,86 Prozent. Die ersten Glückwünsche erreichten Erdoğan am Wahlabend aus dem Emirat Katar, Sponsor der Muslimbrüder, gefolgt von den Vereinigten Arabischen Emiraten und den Taliban in Afghanistan – und das lange vor einer offiziellen Bestätigung des Wahlergebnisses.
Bei seiner Siegesrede auf dem Balkon seines Tausend-Zimmer-Palastes in Ankara machte Erdoğan da weiter, wo er vor der Wahl aufgehört hatte: Mit der Beschwörung der Einheit des Landes bei gleichzeitiger Hetze gegen die Opposition und Drohungen gegen Andersdenkende. Den Oppositionsführer verhöhnte Erdoğan als „Bye-bye-Kemal“ und behauptete einmal mehr, Kiliçdaroğlu werde von Terroristen unterstützt – weil auch die prokurdische HDP zu dessen Wahl aufgerufen hatte. Eine Freilassung der früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, die seit 2016 inhaftiert sind, und der vielen Tausenden anderen politischen Gefangenen wird es mit der von ihm angeführten islamistisch-faschistischen Regierungsallianz aus AKP und MHP nicht geben, das machte Erdoğan klar.
Der Autokrat kündigte vor Zehntausenden Anhängern an, dem Wiederaufbau der vom Erdbeben im Februar zerstörten Gebieten Priorität einzuräumen, die Inflation zu senken und darauf hinzuarbeiten, dass die syrischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren, „freiwillig“ und in „ehrbarer Weise“. Die Türkei will er zu einem Drehkreuz für russische Energielieferungen machen – das Land beteiligt sich im Unterschied zu den anderen NATO-Mitgliedern nicht an den einseitigen EU-Sanktionen.
Mit dem neuerlichen Wahlsieg Erdoğans habe sich fürs Erste das Thema EU-Beitritt erledigt, urteilte die „FAZ“ am Montag. Selbst bei einem Sieg Kiliçdaroğlus wäre das „kein Selbstläufer“ gewesen. „Wenn die Stichwahl aber wirklich ein Referendum über Erdoğan war, dann hat die Türkei sich am Sonntag auch gegen Europa entschieden. Das Land schaut nach Osten, nicht nach Westen.“ Mit überschwänglichen Ergebenheitsadressen versuchen Berlin, Brüssel und Washington die Türkei auf Westkurs zu halten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gratulierte via Twitter: „Deutschland und die Türkei sind enge Partner und Alliierte – auch gesellschaftlich und wirtschaftlich sind wir stark miteinander verbunden. Gratulation an Präsident Erdoğan zur Wiederwahl. Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben.“ Bundespräsident Steinmeier schrieb, er wünsche Erdoğan eine glückliche Hand für die neue Amtsperiode – ein Hohn für unzählige Verhaftete und geschlossenen Medien der vergangenen 20 Jahre Erdoğan-Herrschaft. Auch US-Präsident Joseph Biden, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und EU-Ratspräsident Michel gratulieren ohne jedes Wort der Kritik an der Verfolgung der Opposition und den wiederholten Völkerrechtsbrüchen bei den militärischen Überfällen auf die Nachbarländer Syrien und Irak. Erdoğan soll im Lager des kollektiven Westens gehalten werden, koste es, was es wolle.
Neben weiteren Spitzenpolitikern aus Europa übersandte auch Russlands Präsident Wladimir Putin seine Glückwünsche nach Ankara, verbunden mit der Feststellung, Erdoğans Wahlsieg demonstriere die Unterstützung des türkischen Volkes für den Kurs nationaler Souveränität und unabhängiger Außenpolitik. Auch der ukrainische Präsident Wladimir Selenski gratulierte Erdoğan zum Wahlsieg. Er zähle auf die weitere Zusammenarbeit im bilateralen Bereich sowie bei der Stärkung der Sicherheit Europas.
Der unterlegene Kiliçdaroğlu trat vor seine Unterstützer als „euer Großvater, Onkel und Ältester“. Er rief dazu auf, den Kampf für Demokratie fortzusetzen. Die Wahl bezeichnete er – zu Recht – als „mehr als unfair“. Erdoğan habe eine „Atmosphäre der Angst“ geschaffen und „alle Ressourcen“ des Staates für den Wahlkampf missbraucht. In den faktisch gleichgeschalteten Medien war der Staatschef dauerpräsent. Auch internationale Wahlbeobachter kritisierten einen unfairen Wahlkampf und mangelnde Transparenz. Vereinzelt gab es Berichte über Angriffe auf Wahlhelfer und Beobachter.