Oppositionsbündnis in der Türkei kann sich nicht gegen Islamisten und Rechtsextreme durchsetzen

Erdogan bleibt vorn

Seit 20 Jahren ist Recep Tayyip Erdogan in der Türkei an der Macht, erst als Ministerpräsident, dann als Staatschef. Und wie es aussieht, bekommt der Islamist fünf weitere dazu. Aus der Präsidentschaftswahl am vergangenen Sonntag ging Erdogan mit 49,5 Prozent als Erster hervor. Weil er die absolute Mehrheit knapp verfehlte, kommt es am 28. Mai zur Stichwahl. Sein Herausforderer Kemal Kiliçdaroglu von der kemalistischen CHP erzielte in der ersten Runde 44,9 Prozent und damit weit weniger, als in Umfragen prognostiziert wurden. Er war als Kandidat einer Sechs-Parteien-Allianz angetreten, die in Deutschland als „Querfront“ bezeichnet würde. Trotz der Unterstützung etwa seitens führender SPD-Politiker und der Grünen-Spitze in Deutschland hat es nicht gereicht, den autoritären Staatschef aus dem Amt zu jagen. Die Wahlbeteiligung betrug 88,9 Prozent – und lag damit weit höher als bei Wahlen etwa in Deutschland. Für die Stichwahl könnte die Wahlempfehlung des Drittplatzierten ausschlaggebend sein. Der rechtsextreme Politiker Sinan Ogan kam auf 5,2 Prozent.

Erdogan zeigte sich noch in der Wahlnacht mit dem Vier-Finger-Gruß der Moslembrüder gut gelaunt vor jubelnden Anhängern in Ankara. Kiliçdaroglu trat mit den Parteichefs seines Sechser-Bündnisses vor die Presse: „Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte.“ Der Wille in der Gesellschaft zur Veränderung sei höher als 50 Prozent. „Wir werden die zweite Runde definitiv gewinnen“, übte er sich in Zweckoptimismus. Doch entgegen der Euphorie vor der Wahl sind viele Beobachter nach dem Urnengang der Ansicht, dass es für den CHP-Mann und sein Oppositionsbündnis schwierig wird, den Vorsprung Erdogans in den beiden Wochen bis zur Stichwahl aufzuholen. Dazu kommt, dass Erdogans islamistische AKP zusammen mit der faschistischen MHP im 600 Sitze umfassenden Parlament bei den Wahlen mit 323 Abgeordneten eine komfortable Mehrheit erzielt hat. Mit den fünf Abgeordneten der Erbakan-Partei Yeniden Refah Partisi stehen weitere neue islamistische Unterstützer bereit. Kiliçdaroglu ist ausdrücklich mit dem Versprechen angetreten, im Fall eines Wahlsieges das 2018 von Erdogan eingeführte autoritäre Präsidialsystem zurückzubauen und das Parlament wieder zu stärken.
Die Grüne Linkspartei (YSP) fiel mit landesweit 8,77 Prozent drei Prozentpunkte hinter das Ergebnis zurück, das die von einem Verbot bedrohte Vorgängerpartei HDP 2018 noch erzielen konnte. Die Vorsitzenden der YSP und HDP sprachen am Tag nach der Wahl denn auch von einem „Misserfolg“. Gerade die Stimmenverluste im Westen der Türkei seien ein Problem. Der CHP wiederum ist es kaum gelungen, in den Erdogan-Hochburgen in Anatolien zu punkten. Erdogan erhöhte vor der Wahl den Mindestlohn im Land und die Bezüge der Staatsbediensteten, gleichzeitig senkte er das Rentenalter ab. Kiliçdaroglus designierter Finanzminister Bilge Yilmaz von der rechten Iyi Parti, der zweitstärksten Kraft im Oppositionsbündnis, erklärte dagegen, im Fall eines Machtwechsels die Sozialprogramme auf den Prüfstand stellen zu wollen. „Wir brauchen eine evidenzbasierte Wirtschaftspolitik, nicht diesen Unsinn“, sagte er im besten neoliberalen Sprech. Wenn man weiß, dass 30 Millionen in der Türkei davon betroffen sind, bekommt man eine Ahnung, warum Erdogan am Ende vorne lag und die Gesichter der CHP-Spitze in der Wahlnacht „so grau waren wie die Betonwände der Parteizentrale“ („ZDF“).

Erdogan hat im ersten Wahlgang 26 Millionen Stimmen erhalten, 2,2 Millionen Stimmen mehr als der Kontrahent. Bei den Wählern in Deutschland hat er wieder überproportional hoch abgeschnitten und zwei Drittel Zustimmung erfahren, Kiliçdaroglu kam gerade einmal auf 32 Prozent. Die anhaltend hohe Zustimmung für Erdogan hierzulande müsse ein „Mahnzeichen“ sein „für die dringend notwendige 180-Grad-Wende in der deutschen Türkeipolitik“, erklärte Sevim Dagdelen, Obfrau der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. „Es rächt sich, dass die Bundesregierung wie ihre Vorgänger über Jahre das Erdog˘an-Netzwerk in Deutschland agieren ließ und in Teilen sogar mit öffentlichen Geldern förderte.“ Die Bundesregierung dürfe den Beschluss des Bundestages zum Verbot der Grauen Wölfe in Deutschland nicht länger aufgrund zynischer geopolitischer Erwägungen aussitzen. Ankara dürfe von der Bundesregierung „keine Carte blanche mehr für Völkerrechtsbruch“ erhalten, sagte Dag˘delen am Montag im „Deutschlandfunk“. „Angriffe des NATO-Mitglieds Türkei auf die territoriale Integrität und Souveränität der Nachbarstaaten Syrien und Irak sowie Bedrohungen der EU-Mitglieder Griechenland und Zypern mit Krieg dürfen nicht länger folgenlos bleiben.“

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"Erdogan bleibt vorn", UZ vom 19. Mai 2023



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