Als die verheißungsvollen Zwischenergebnisse der Oktoberrevolution 1918 von der vereinigten Weltreaktion zertreten werden sollten, schrieb Wladimir Majakowski ein Gedicht mit dem Titel „Linker Marsch“, zu dem man tatsächlich marschieren kann. Pazifistische Muskeln kriegen hier einen Krampf. Aber ein Krampf hindert beim Kämpfen. Und es gibt Lebenswichtiges, das man nicht geschenkt bekommt, sondern erkämpfen muss. An Krämpfen krankt Majakowskis (von Hanns Eisler kraftvoll vertontes) Gedicht so wenig wie an Mehrdeutigkeit: Er lobt darin zum Beispiel den „Genossen Mauser“ (das ist eine Schusswaffe) und spricht vom erreichbaren Ziel der Kämpfe: „Dort/hinter finsterschwerem Gebirg/liegt das Land der Sonne brach./Quer durch die Not/und Elendsbezirk/stampft euren Schritt millionenfach!/Droht die gemietete Bande/Mit stählerner Brandung rings, –/Russland trotzt der Entente/Links!/Links!/Links!/“
Klartext war allerdings nicht Majakowskis einziger Tonfall.
Auch auf poetische Farben und Sprachbilder, die der Intuition zuwiderlaufen, damit das alltagsmüde Gewohnheitshirn aufwacht, verstand er sich; sogar in elegischem Zusammenhang: Nachdem Lenin am 21. Januar 1924 gestorben war, setzte sich Majakowski an einen Text, den er selbst „das Ernsthafteste, was ich je gemacht habe“ nannte und am 18. Oktober 1924 im Haus der Presse in Moskau vorstellte. Es heißt darin, Lenin sei lebendiger als die Lebenden. Das kann man rätselhaft finden. Gesagt war damit, dass man nur vom Nichtsterben allein noch lange nicht lebt. Leben heißt wirken, und da Lenin weiterwirkte, nannte ihn Majakowski lebendig und mahnte die Lebenden, Wirkung zu suchen.
Im selben Gedicht steht, Lenin habe Schach geschätzt und dafür gesorgt, dass „die Bauern“ nicht mehr nur herumgeschobene Spielfiguren sind. Dass hier mit Doppelsinn gespielt wird – die Bauern auf dem Schachbrett, die Bauern auf dem Land –, kann man kapieren, ohne vorher zwanzig Semester Literaturwissenschaft studieren zu müssen. Vom Schachspieler Lenin sagt Majakowski: „Kapital, den König,/die Gefängnistürme/schlug er/mit der menschlichsten/der Diktaturen.“ Es zeigt sich: Der Vergleich des Klassenkampfes mit einem Spiel muss keine Verniedlichung sein. Er ist eingängig, das macht ihn einprägsam. Eingängigkeit stellt indes keineswegs die einzige Technik dar, mit der man zur Einprägsamkeit kommt. Sachen, die man sofort begreift, kann man sich leicht merken, weil sie an Vertrautes anschließen, aber umgekehrt kann Sperriges, das schwer in den Kopf geht, dafür länger drin bleiben. Wenn Majakowski von einer „Wolke in Hosen“ oder einer „Wirbelsäulenflöte“ schreibt, vereint er Anschaulichkeit mit Abstraktion; man „hat sowas noch nie gesehen“ und kann es sich dennoch vorstellen, sofern man aus Begriffen, also aus Abstraktem, innere Anschauung zu gewinnen weiß.
Majakowskis großer Sowjetschriftstellerkollege Maxim Gorki, den niemand verdächtigen kann, ein verblasener Ästhet gewesen zu sein, der das Durchgeknallte um seiner selbst willen geschätzt hätte, mochte Majakowskis schrägere, wildere Werke, darunter die erwähnte Hosenwolke, sehr gern. Dass sie avantgardistisch vorwegnahmen, was niemand bislang gedacht, gesagt, geschrieben hatte, hieß ja nicht, dass man sich auf ihren Urheber nicht hätte verlassen können, wenn’s um die Gegenwart ging.
1921 gab Majakowski seinen schönen „Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee“ aus, der ruppig mit der Avantgarde spricht: „papierkostümierte Mystiker,/verrunzelter Stirnen Faselgedünst,/Futuristiker,/Imaginistiker,/Akmeistiker,/ganz verspinnwebt im Reimwerk-Gespinst.“ Diesen Leuten teilt der Text mit, sie sollten aufhören, wirr in ihren kognitiven und sprachlichen Eingeweiden herumzuwurmen, und sich eine neue Anrede verdienen: „Genossen,/schafft eine neue Kunst,/geeignet,/die Republik aus dem Unrat zu heben!“ Ein „Futurist“ ist Majakowski selbst gewesen, das weiß auch die bürgerliche Literaturkunde, die sonst so wenig weiß. Sie lehrt, der Dichter sei 1917 vom Futurismus zum Realismus übergelaufen. Was unter „Futurismus“ und „Realismus“ dabei zu verstehen sei, klärt man in diesen Kreisen philologisch, genealogisch, formal. Die marxistisch-leninistisch erzogene Kunstbetrachtung aber kann mehr sagen über diese beiden Richtungen und über viele weitere (Naturalismus, Absurdismus, Expressionismus …): Die Formeigenheiten solcher Schulen sind statistisch korreliert mit Haltungen in der realen ökonomischen, politischen, sozialen Geschichte. So gestaltet beispielsweise das in den Fünfzigerjahren im Imperialismus beliebte sogenannte „absurde Theater“ mit seinen Chiffren von Stillstand, gefrorenem Handeln, ergebnislosem Im-Kreis-Humpeln, lebendig toten Charakteren und deren leeren Worten ein historisches dreiseitiges Patt zwischen den Mächten a.) des Fortschritts, b.) der Reaktion und c.) träger Beharrungskräfte. Die verbreitetste Haltung im Patt heißt: „Man kann nichts tun“, die passende Kunst dazu sagt: „Die Welt ist sinnlos“.
Im scharfen Gegensatz dazu hieß „Futurismus“ ein bis zwei Generationen vorher: „Der Moment, in dem man etwas tun kann, liegt in der nahen Zukunft.
.So wurde eine revolutionäre Situation zwar formuliert, aber nicht verstanden.
Der Unterschied des Futurismus zum Realismus besteht darin, dass Realismus in der revolutionären wie in der nichtrevolutionären Situation sagt: „Ob du etwas tun kannst, lässt sich herausfinden.“
In der imperialistischen Gesellschaft wird auf allen Kanälen von der Macht ununterbrochen signalisiert, „man“ (nämlich der besitzlose Mensch, der machtlose und so weiter) könne nichts tun; es müsse alles so sein, wie es ist. Der Futurismus verhält sich zu dieser Bedröhnung wie ein ehrenwerter Spaltungsirrer: Er denkt, der Umsturz des Bestehenden rase automatisch und unausweichlich auf uns zu und veranstaltet deshalb ein erregtes, fuchtelndes Warten. Aber eben doch ein Warten. Missverstanden wird vom Futurismus dabei eine Einsicht, die der dialektische Materialismus von Hegel geerbt hat: dass Zustände die Keime ihrer Beseitigung in sich ausbrüten. Der Futurismus setzt auf diese Keime, macht sich aber gemein mit einer fatalen Eigenschaft großer Teile der Weltgeschichte, die Marx „Naturwüchsigkeit“ nannte und nicht mochte. Stammesgesellschaft, Sklavenhalterei, Feudalismus, Kapitalismus: all das ist „naturwüchsig“ aus Älterem hervorgegangen, hat es überwunden und gesprengt.
Aber dazu haben nicht Kollektive mit Willen und Bewusstsein diese Überwindung und Sprengung organisiert, wie Marx das für die Abschaffung der Klassengesellschaft insgesamt empfahl. Nicht nur der einzelne Mensch sollte nach dem Willen dieses Denkers kein Idiot sein, dem sein Leben halt irgendwie passiert, sondern für die Menschheit sollte dasselbe gelten. Planvolle und willentliche Eingriffe ins Schicksal sind jedoch für den Papst wie für den Ultraliberalen Marke Friedrich August von Hayek oder Ludwig von Mises die pure Sünde. Der Wolkenherrscher oder der Markt sollen alles zu Regelnde regeln. Missachtet wird das, was Marx den „subjektiven Faktor“ nannte. Es fehlt Klassenbewusstsein. Im Grund fehlt Bewusstsein überhaupt. Bewusstlose Überwindungsräusche dieser Art gebiert der Imperialismus immer wieder; der Futurismus war nur ein besonders markanter. Heute heißt etwas Nahverwandtes „Akzelerationismus“ (von „Akzeleration“, also: Beschleunigung), worin behauptet wird, man solle die Zuspitzung der Widersprüche im Unrechtssystem wünschen, weil es daran verrecken müsse. Wie schon im Futurismus ergeben sich zwei Richtungen, erstens eine rechte, die den Widerspruch zwischen den mächtigen und den machtlosen Menschen zugunsten techno-transzendentaler Un- oder Transmenschlichkeit auflösen will (dafür steht der Brite Nick Land und einiges, was aus der „kalifornischen Ideologie“ des letzten Jahrhunderts in den Deppenköpfen von Peter Thiel und Elon Musk wurde) und zweitens eine linke, die aus den erwarteten Trümmern des Gegebenen die freie, von Illusionen befreite Sicht auf vorläufig unbeschreibliche neue Lebensweisen hervorgehen sieht (das war die Hoffnung des brillanten Kulturkritikers Mark Fisher, der unter Anfeindungen von allerlei Internet-Linksradikalen zu leiden hatte und seinem Leben, wie übrigens Majakowski, selbst ein Ende setzte).
Ohne sozialistische Perspektive kommt aber nach dem, was heute jeden Tag Menschen zwischen Widersprüchen zerquetscht, wohl nur das, was Engels, Luxemburg und überhaupt die ganze klassische sozialistische Theorie völlig richtig „Barbarei“ genannt haben und worauf wir gerade mit akzelerationistischem Affenzahn zutrudeln.
Wenn man Majakowskis Übergang von futuristischen zu realistischen Schreibweisen durchschauen will (und dabei auch nicht übersieht, dass hier kein totaler Verzicht auf die Techniken der Avantgarde stattfand, die er vielmehr für Neues umrüstete), muss man sich davor hüten, die Sache zu vereinfachen, also etwa zu sagen: Erst hat er schwer verständlich geschrieben, dann leicht verständlich.
Auf das bürgerliche Urteil „Das ist schwer verständlich, also etwas Schlechtes“ (so denkt der verspießerte Volksmusik-Fan) reagiert man besser nicht anders als auf das ebenso bürgerliche „Das ist schwer verständlich, also besonders wertvoll“ (so denkt der lediglich etwas anders verspießerte Adorno-Leser).
Majakowski hat die Sache in dem Aufsatz „Die Arbeiter und Bauern verstehen Sie nicht“ aus dem Jahr 1928 hilfreich durchdrungen. Ein Buch, das „ausschließlich Konsumartikel für wenige“ sei, dürfe man, heißt es da, zwar gewiss „unnütz“ nennen; wenn jedoch ein Buch sich an wenige wendet, dies aber auf die gleiche Weise tut, wie etwa auch die Energie eines Kraftwerks manchmal „wenige Relaisstationen beliefert, um diese Zwischenglieder in die Lage zu versetzen, die transformierte Energie an die vielen elektrischen Lampen weiterzuleiten, so ist es ein notwendiges Buch. Dieses Buch ist an wenige adressiert, aber nicht an Verbraucher, sondern an Erzeuger.“
Das bedeutet: Jemand kann sperrige neue Formen ausprobieren, die andere später neuen Anwendungen zuführen, an die bei ihrer Einweihung noch gar nicht zu denken ist. Es kommt eben nicht, wie ein dummer Antiformalismus manchmal muht, der dem dümmsten Formalismus an Einfalt nicht nachsteht, „nur auf den Inhalt an“, sondern darauf, wie ein Gedanke jeweils zur Sprache gebracht ist. Manche Gedanken sind neu, da ist man froh, wenn es auch neue Sprachgestalten dafür gibt. Man darf aber nicht erwarten, dass diese beiden, Gestalt und Gedanke, jedes Mal passgenau paarweise zur Welt kommen.
Der Test, ob’s passt, ist die Wirklichkeit, etwa bei einer Stellungnahme der Literatur in Kriegszeiten. Von Majakowski ist das weise Wort überliefert, er habe im Ersten Weltkrieg gedacht, die Front sei widerlich, aber das Hinterland noch viel widerlicher. Das ist eine sehr viel klügere Feststellung als die, dass man Schützengraben oder Giftgas beklagen kann. Majakowskis Gedanke steht inhaltlich wie formal (als Epigramm nämlich) über geschwätzigen naturalistischen Wortpanoramen der Schrecken der Front, denn diese berühren keine Analyse, die das Kriegsgeschehen auf seine Ursachen beziehen kann.
Das soll den Einsatz von Leuten der Generation Majakowskis im Dadaismus oder im Expressionismus gegen imperialistische Schweinereien nicht kleinreden, zumal wir in letzter Zeit sehr viel schäbigere Verhaltensweisen der lesenden und schreibenden Intelligenz kennengelernt haben, die es etwa nicht verschmäht, sich in Berlin und sonstwo zu Vereinen zusammenzurotten, damit die NATO nicht so allein ist bei ihrem schweren Geschäft. Majakowski wollte die Welt nicht lassen, wie er sie vorfand. Das macht alles begreiflich, was er geschrieben und getan hat, auch das Kühne, das Um- oder Abwegige. Schon 1908 war der 1893 geborene Dichter Jungbolschewist und wurde im selben Jahr in einer Geheimdruckerei verhaftet. Was ihn interessierte, war: Wie schreibt und verbreitet man die Wahrheit? Wie stellt man sie dar? Er redigierte Zeitschriften, betätigte sich als Grafiker, eroberte die neuesten Medien (schrieb also zum Beispiel für den Film), bereiste Deutschland und die USA. Breite Interessen trafen auf ein erstaunliches Vermögen, weite Felder in knappen Feststellungen zusammenzufassen, verwickelte Programme auf den Punkt zu bringen. Das ist heute nötiger denn je. Wir brauchen Leute wie den Schriftsteller Ted Chiang, der jüngst die Jobvernichtungs- und Ausbeutungsintensivierungsoffensive im Zeichen der sogenannten Künstlichen Intelligenz auf die starke Formel brachte, man habe es da nicht mit maschinellem Superbewusstsein zu tun, sondern mit verschärften Formen der „Unternehmensberatung“ (also, sagt man marxistisch: des Klassenkampfs der Monopole). Technikbegeisterung, neofuturistisch oder nicht, hilft da so wenig weiter wie Technikverteufelung. Die Waffen der Monopole müssen beim richtigen Namen genannt werden, ohne dass man vergisst, welchen Gebrauchswert Technik für eine bessere Gesellschaft hätte. Das malte sich Majakowski noch 1929 in „Der fliegende Proletarier“ aus, ein Jahr vor seinem Tod. Statt in „urban nachverdichteten“ Wohngefängnissen („für den Klimaschutz“) leben die Menschen in diesem Gedicht an einem Ort, wo man morgens per Lift „zur Dachplattform mit ihrer Blumenwelt“ fährt, um sich von gut organisiertem Nahverkehr zur Arbeit bringen zu lassen. Hier gilt, wie Majakowski schreibt: „Es braucht keinen Diener!“
Dazu, dass das wahr wird, hilft kein futuristisches Fieber. Man muss die Herrschaft zerschlagen; nur das kann auch die Maschinen emanzipieren.