Der revolutionäre englische Dichter Percy Bysshe Shelley ertrank 29-jährig im italienischen Exil. Anlässlich seines 200. Todestages am 8. Juli veröffentlichen wir Auszüge einer Rede Eleanor Marx’, die sie im April 1888 gemeinsam mit Edward Aveling vor der Shelley Society hielt. Diese Rede erschien Ende 1888in deutscher Übersetzung in der theoretischen Zeitschrift der SPD „Die neue Zeit“ . Dieser Artikel wird unseres Wissens erstmals wieder abgedruckt, eine gekürzte Fassung erschien in der Printausgabe vom 8. Juli 2022. Alle Anmerkungen entstammen der Originalfassung.
In vorliegender Abhandlung soll nicht untersucht werden, ob der Sozialismus richtig oder falsch ist, sondern ob Shelley ein Sozialist war oder nicht. Um keinen Zweifel über die Frage aufkommen zu lassen, sei vor allem kurz konstatiert, was wir unter Sozialismus verstehen. Das Kennzeichen des Sozialisten ist unseres Erachtens die Überzeugung: 1. dass Ungleichheit und Elend in der Gesellschaft bestehen; 2. dass diese soziale Ungleichheit, das Elend der Vielen und die günstige Lage der Wenigen, die notwendige Folge der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist; 3. dass das Wesen derselben darin besteht, dass die Masse des Volks, die Arbeiterklasse, alle Güter produziert und verteilt, indes die Minorität, die oberen Klassen, über dieselben verfügt; 4. dass das Lohnsystem die Grundlage aller heute bestehenden Herrschaftsverhältnisse bildet; 5. dass diese nur möglich sind, weil Land, Rohmaterial, Maschinen, Banken, Eisenbahnen, mit einem Wort, alle Mittel der Produktion und Verteilung der herrschenden Minorität gehören, die als Klasse in deren Besitz nicht in Folge größerer Intelligenz, Arbeitsamkeit oder Selbstbeherrschung gelangte; 6. endlich, dass die Gesellschaft einer gründlichen Änderung ihrer Verhältnisse entgegen geht, die darin besteht, dass an Stelle der verschiedenen Klassen ein einiges Gemeinwesen gesetzt wird, das die Mittel der Produktion und Verteilung besitzt, und in planmäßiger, genossenschaftlicher Arbeit anwendet.
Wir wiederholen es: wir untersuchen hier nicht, ob diese Grundsätze richtig sind oder nicht. Die Frage, die uns beschäftigt, ist nur die, ob Shelley sich zu ihnen bekannte oder nicht. Bei der Erörterung derselben wollen wir uns an folgenden Plan halten: 1. Eine oder zwei Bemerkungen über Shelley selbst und seine persönlichen Beziehungen zum Sozialismus; 2. Über diejenigen Personen, die in dieser Beziehung den größten Einfluss auf sein Denken ausübten; 3. seine Ausfälle gegen die Tyrannei und seine Verherrlichung der Freiheit im Allgemeinen; 4. im Besonderen 5. seine Erkenntnis des Klassenkampfes; 6. sein Verständnis der Bedeutung der Worte „Freiheit”, „Verbrechen”, „Eigentum” im heutigen Sinne 7. sein praktisches, ausnehmend praktisches Wesen in Beziehung auf die Mittel zur Heilung der kranken Gesellschaft; 8. seine Überzeugung, dass eine Umwandlung der Gesellschaft notwendig sei und nahe bevorstehe; 9. seine Bilder der Zukunft, „Illusionen, die keine Illusionen waren,” wie er sagt; 10. ein Blick auf die wichtigsten Werke, Ideen in denen seine sozialistischen Ausdruck fanden. In dem vorliegenden Artikel sollen nur die ersten sechs Punkte zur Behandlung kommen.
Über die folgenden vier werden wir hoffentlich bald Gelegenheit finden, uns auszusprechen.
1. Shelleys Persönlichkeit.
Er war ein Kind der französischen Revolution. Die „furchtbar blickenden Weiber”, die sich um Cythna drängten, als sie die große Stadt durchschritt („Laon und Cythna”) entstammten den Straßen von Paris und er kannte besser denn einer seiner Zeitgenossen die wirkliche Kraft und Schönheit dieser unbändigen Mutter seiner Gedankenwelt. Mit seinem außerordentlichen poetischen und historischen Verständnis erkannte er die wirkliche Bedeutung der revolutionären Kämpfe. Ein anderer Sänger dieser Zeit, Byron, war auch ein Kind der Revolution. Aber dieser stand auf den Schultern Voltaires und des Rousseau der „Neuen Heloise”, Shelley dagegen auf denen Babeufs und des Rousseau des „Gesellschaftsvertrags”. Shelley sah in der französischen Revolution eine Etappe in der Richtung zur Erneuerung der Gesellschaft. Marx, der die Dichter ebenso gut kannte und verstand, wie die Philosophen und Ökonomen, pflegte zu sagen: „Der wahre Unterschied zwischen Byron und Shelley liegt darin: Diejenigen, die sie verstehen und lieben, halten es für ein Glück, dass Byron in seinem sechsunddreißigsten Jahr starb denn er wäre ein reaktionärer Bourgeois geworden, hätte er länger gelebt; sie bedauern es dagegen, dass Shelley mit neunundzwanzig starb, denn er war durch und durch ein Revolutionär und hätte stets zur Vorhut des Sozialismus gehört.
Drei Jahre nach dem Ausbruch der Revolution wurde Shelley geboren. Als er anfing, selbständig zu denken, herrschte in ganz Europa unumschränkt die Reaktion. In England sah er Prozesse wegen Gotteslästerung und Hochverrat, die Aufhebung der Habeas-Corpus-Akte, allenthalben Elend. Er warf sich mitten in die Politik und hörte doch nie auf, ein Dichter zu sein.
Jedes Gedicht Shelleys trägt das Gepräge seiner kraftvollen Persönlichkeit. Die besten Beispiele für unseren Zweck bieten vielleicht die „Zeilen, geschrieben auf den Euganeischen Hügeln”, der Lionel in „Rosalinde und Helene” und „Prinz Athanasius”. Vergessen wir jedoch nicht Mary Shelleys Zeugnis über den besonderen Wert von „Peter Bell der Dritte” für die Erkenntnis der sozialen und religiösen Ansichten ihres Gemahls: „Kein Gedicht ist mehr von Shelleys eigentümlichen Anschauungen durchtränkt mit Bezug auf die Irrtümer, in die so viele der Klügsten verfallen und über den verderblichen Einfluss gewisser Meinungen auf die Gesellschaft … Obwohl es gleich dem burlesken Drama „Schwellfuß” als Spielerei betrachtet werden muss, so hat es doch … so viel von ihm an sich, dass es ungemein interessieren muss und mit Recht der Welt gehört, zu deren Belehrung und Erhebung es geschrieben worden.”
Nach Mary möge er selbst über sich selbst sprechen. Er hat vielleicht ganz unbewusst, vielleicht mit dem bescheidenen Selbstbewusstsein des Genies Verse geschrieben, die Wortporträts seines Ich sind. Nur zwei Beispiele seien hier gegeben. Er war einer
„Jener wenigen Auserlesenen, die sich
den Eroberern nicht beugten.”
In der Widmung von „Laon und Cythna” an seine Frau sagte er:
„Und händefaltend blickt ich rings umher –
Niemand war nah, der meiner Tränen spotte,
Die auf den Boden fielen, heiß und schwer. –
So fasst’ ich mich und sprach: Ja, wissend will ich werden,
Gerecht und frei und sanft, wenn mir gegeben
Dazu die Kraft; denn müd bin ich, zu schau’n
Wie Selbstsucht herrscht noch immer und Gewalt
Ganz ungehemmt. Mein Weinen war gestillt,
Mein Herz schlug ruhig, ich ward kühn und mild.
Und von der Stund’ an häuft’ ich unersättlich
Erkenntnis aus verbot’nen Wissenschaften;
Zwar was die Herrschenden für Weisheit achten,
Das lernt ich nicht; nur aus geheimem Rüsthaus
Nahm ich den Stoff zum Panzer, d’rin mein Geist
Dereinst zum Kampf sollt treten unters Volk!”
Er war einer von Jenen:
„… Die kämpfend stark und fest
Der Erde Stolz und Niedrigkeit besiegten,
Der Satzung Ketten sprengten und als Stern,
In ihrer Zeit erglänzten …”
Die Widmung der „Cenci” an Leigh Hunt kann als eine Erforschung seines eigenen Herzens aufgefasst werden: „Ich kenne keinen Liebenswürdigeren, Ehrenhafteren, Unschuldigeren und Tapferen; keinen Mann von einer großartigeren Duldsamkeit für alle, die schlecht handeln und denken; keinen, der selbst freier vom Schlechten wäre; keinen Mann, der besser zu empfangen und zu geben wüßte, obwohl er immer weit mehr zu geben hat, als er empfangen kann; keinen Mann, der ein einfacheres und im besten Sinne des Wortes, reineres Leben führte.”
Auch folgende Zeilen aus dem „Prinz Athanasius” dürfen als Selbstporträt betrachtet werden:
„Sein war ein Herz, das Bosheit nicht verstand,
Nur Zorn und Mitleid fühlt ob böser Taten;
Ruhmdurst wie Herrschsucht war ihm unbekannt. . . .
Sein Herz war rein wie keines, und gerecht;
Dem Guten hold, weil’s gut war; und von Nichts
Im Himmel noch auf Erden war er Knecht.
— — — — — —
Doch selbst als Jüngling hat er nie missbraucht
Reichtums nach Wissens Macht um auszubreiten
Den Lügenwahn, den protz’ger Reichtum predigt,
Die Welt zu lullen, die er ausgesaugt.
Das Seine gab er jedem. Seines Guts
Verwalter schien er, Eigner nicht; er teilte
Mit den Enterbten, denen Not und Last
Beschert ist, seinen Reichtum frohen Muts.
Furcht war ihm fremd und Heuchelei verhasst,
Was er gedacht — mochts auch die Leute schrecken —
Aussprach er’s milden aber festen Blicks.”
Er ist also ein reiner und selbstloser Lehrer und Dichter, Philosoph und Prophet. Um seine Bedeutung für eine politische Richtung, der er sich anschloss, voll würdigen zu können, muss man außerdem die schon erwähnte Tatsache seines großen politischen Verständnisses in Betracht ziehen: man darf wohl auch zur richtigen Schätzung des Werts seiner wissenschaftlichen Anschauungen auf die Tatsache hinweisen, dass er eine Ahnung der Rolle der Entwicklung in der Natur besaß, lange, bevor Darwin seine Theorie klar dargelegt hatte, oder deren Vorläufer in das Bereich ernsthafter wissenschaftlicher Diskussion gelangt waren. Von einem historischen Scharfblick haben wir bereits eine Andeutung in Bezug auf die französische Revolution gegeben. Ein anderes, weniger auffallendes, aber noch großartigeres Beispiel liefern seine Gedichte über Napoleon. Shelley war der erste, ja der einzige Mann seiner Zeit, der Napoleon durchschaute. Shelley erkannte in dem Mann, den ganz Europa zu seiner Zeit entweder für einen Helden oder ein Ungeheuer hielt, einen kleinen, gemeinen Charakter, ebenso gierig nach Geld als nach Macht. Sein Instinkt erriet in Napoleon „dem Großen” den Napoleon den Kleinen. Was Michelet annahm und Lanfrey bewies, empfand bereits Shelley, der „Träumer” jene Auffassung Napoleons, die von der herkömmlichen so verschieden ist, als ein Durchschnittsmensch von Shelley. 1816 schrieb er:
„Ich hasste Dich, Tyrann; ich sah mit Grauen,
Wie Du ganz ehrgeizloser Sklav den Stab
Des Siegers schwangest ob der Freiheit Grab.”
Und 1821, im Jahr von Napoleons Tod, schrieb er von diesem:
„Sein grimmer Geist fuhr einher
Durch Schrecken, Blut und Gold,
Ein verwüstender Sturm, von der Geburt
bis zum Tod!”
Aus Instinkt oder Sehergabe oder wie immer wir jene herrliche Fähigkeit nennen wollen, Wahrheiten zu empfinden ehe sie zum klaren Ausdruck gekommen waren, stand Shelley auf dem Standpunkt der Entwicklungstheorie. Er übersetzte in seine eigene pantheistische Sprache die Annahme, Stoff und Bewegung seien ewig, die verschiedenen Formen von Stoff und Bewegung seien in unaufhörlichen Verwandlungen begriffen, ohne Vermehrung oder Verminderung von Bewegung und Stoff. Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Grundsätze von ihm anerkannt wurden. Wir haben die Theorie, freilich in pantheistischer Form, in einem Brief an Miss Hitchener: „Wie die Seele die jetzt diesen Körper belebt, einst das belebende Prinzip des niedrigsten Glieds in der Kette des Seins war so ist sie bestimmt, schließlich zum Höchsten aufzusteigen.”8 In der „Königin Mab” sagt er:
„Geist der Natur! O hier,
In diesem unabsehbaren Gewimmel
Von Welten, deren Unermesslichkeit
Die kühnste Fantasie beschämt:
Hier ist dein schönster Tempel.
Doch ist das kleinste Blatt,
Das in dem Wind erbebt, nicht minder
Von deinem Geist erfüllt:
Doch teilt der nied’re Wurm,
Der tief in Grüften sich von Leichen nährt,
Nicht minder deinen ew’gen Hauch.”
— — — — — —
„Wie wunderbar, dass selbst
Gewinnsucht, Leidenschaft und Vorurteil,
Die in dem niedrigsten Geschöpf sich regen,
Ja selbst die leiseste Berührung
Des feinsten Nerven, die im Menschenhirn
Den flüchtigsten Gedanken weckt, ein Glied
Wird in der großen Kette der Natur.”
— — — — — —
„Wie seltsam ist des Menschen Stolz
Ich sag’ Dir: alle jene Wesen,
Für die des Grases schwacher Halm,
Der mit dem Morgen sprießt,
Und vor dem Mittag dorrt,
Ein unbegrenztes Weltall ist
Ich sag’ Dir: jene unsichtbaren Wesen,
Die in dem kleinsten Theil
Des freien Äthers wohnen,
Sie denken, fühlen, leben wie der Mensch;
Und ihre Liebe und ihr Hass erzeugt
Wie bei den Menschen, das Gesetz,
Das all ihr Tun beherrscht
Und die geringste Wallung,
Die ihren zarten Leib
Unmerklich fast durchzuckt,
Ist unerlässlich und bestimmt
Wie das erhabene Gesetz,
Das jene Sonnen lenkt.”
Er erkannte die beiden großen Prinzipien, welche die Entwicklung des Individuums und der Gattung bestimmen, die der Vererbung und Anpassung, trotzdem dieselben damals weder scharf bestimmt, noch auch nur genannt waren. Er nahm an, Menschen und Völker seien das Produkt der Vorfahren, denen sie entstammten, und der Verhältnisse, die sie umgaben. Zwei Fragmente in Prosa mögen das illustrieren. In dem einen heißt es: „Es ist weniger der Charakter des Individuums als die Lage, in der es sich befindet, die es ehrenhaft oder unehrenhaft macht.”
Die andere Stelle lautet: Unter allen Schriftstellern eines bestimmten Zeitalters muss eine gewisse Ähnlichkeit herrschen, die nicht von ihrem Willen abhängt. Sie können sich nicht einem für sie alle gemeinsamen Einfluss entziehen, der aus einer unendlichen Kombination von Umständen entsteht, die ihrer Zeit eigentümlich sind, wobei aber jeder bis zu einem gewissen Grade wieder der Urheber desselben Einflusses ist, der sein Wesen durchdringt. Das sehen wir an den tragischen Dichtern des perikleischen Zeitalters; den italienischen Wiedererweckern der antiken Bildung; an jenen mächtigen Geistern unserer Zeit, die der Reformation folgten, den Übersetzern der Bibel, Shakespeare, Spenser, den Dramatikern des Zeitalters der Elisabeth und Lord Bacon, an den geringern Geistern, die ihnen folgten; jeder in einer dieser Klassen ähnelt seinen Genossen in derselben Klasse und ist von allen anderen verschieden. Von diesem Standpunkt aus kann man Ford ebenso wenig einen Nachahmer Shakespeares nennen, als Shakespeare einen Nachahmer Fords. Zwischen Beiden bestand vielleicht wenig Übereinstimmung außer jener, die der allgemeine und unvermeidliche Einfluss ihres Zeitalters erzeugte. Das ist ein Einfluss, dem in jedem Zeitalter der geringste Skribent sich ebenso wenig entziehen kann, wie das erhabenste Genie; ich habe nicht versucht, mich ihm zu entziehen.
Diese außerordentliche Gabe, die Dinge klar und in ihren richtigen Beziehungen zueinander zu sehen, eine Gabe, die er nicht bloß auf dem künstlerischen Gebiet, sondern auch in seinen Anschauungen von der Natur und der Gesellschaft zeigte, ist eine Ermutigung für Jene, die Ansichten huldigen, die im Wesentlichen die seinen waren; sie lässt jeden Anhänger Shelleys stutzen und zaudern, wenn er findet, dass er sich in einer Fundamentalfrage von seinem Meister trennt.
2. Die Personen, die Shelley am meisten beeinflussten, in Beziehung auf seine politischen und sozialen Anschauungen.
Vor allem ein Wort über Byron. In diesem finden wir jene unklaren aber kühnen und aufrichtigen Tendenzen verkörpert, die ihren schließlichen Ausdruck in der bürgerlich-demokratischen Bewegung von 1848 fanden. In Shelley war mehr als jenes unbestimmte Sehnen nach abstrakter Freiheit; sein Ziel war im Grunde das der heutigen Sozialdemokratie. Shelley stellte sich auf die Seite der Bourgeoisie, wo diese für Erweiterung der politischen Freiheiten kämpfte; er wandte sich gegen sie, wenn der Gegensatz zwischen ihr und dem Proletariat zum Vorschein kam. Er sah deutlicher als Byron, der es kaum bemerkte, dass der Kampf zwischen den besitzenden und den produzierenden Klassen das große Epos des neunzehnten Jahrhunderts werden sollte. Durch dieses Verständnis für die Bedeutung des Klassenkampfs erhebt er sich über die utopistischen Sozialisten und wird ein Vorläufer des modernen Sozialismus.
Wir haben bereits auf den Einfluss von Babeuf (wahrscheinlich ein indirekter) und Rousseau hingewiesen. Ihnen müssen wir die französischen Philosophen des vorigen Jahrhunderts beigesellen, die Enzyklopädisten, namentlich Holbach, oder genauer gesagt, seinen „Geist” Diderot — Diderot, den „Geist”, der zu seiner Zeit in Jedermanns Kopfe spukte.
In erster Linie unter den Schriftstellern, die Shelleys Politik und Soziologie beeinflussten, muss Godwin genannt werden. Dowdens „Leben Shelleys” hat uns mit Godwins unangenehmen Seiten so bekannt gemacht, dass gerade jetzt eine Neigung zu bestehen scheint, seine besten Seiten zu übersehen. Wie immer es sich mit seiner außerordentlichen und anspruchsvollen Filzigkeit und ähnlichen Fehlern verhalten mag, wir müssen uns erinnern, dass er das Buch über „die politische Gerechtigkeit” schrieb, ein Buch von außerordentlicher Kraft und für uns von besonderer Bedeutung, weil es mehr als in anderes Shelleys Denken beeinflusste. Man hat den Einfluss von Godwins Schriften auf Shelley hoch angeschlagen, kaum zu hoch. Dagegen hat man den Einfluss von zwei Frauen auf ihn noch nicht genügend gewürdigt: Mary Wollstonecraft und Mary Godwin, später Mary Shelley. Es war eine von Shelleys „Illusionen, die keine Illusionen sind” dass Mann und Weib gleichgestellt und nicht gesellschaftlich getrennt sein sollten; und dies Ideal sah er nicht bloß in seinem Leben und dem seines Weibes verwirklicht, sondern er sah auch die Möglichkeit seiner Verwirklichung durch weniger kühne und starke Charaktere. Sein ganzes Wirken zeigt, wie er sich mit seinem Weibe ganz eins fühlte, am deutlichsten in der Widmung zu dem gedankenreichsten seiner Gedichte, „Laon und Cythna.” Laon und Cythna sind gleich und eins, Bruder und Schwester, Gatte und Gattin, Freund und Freundin, Mann und Weib. In der Widmung zur Geschichte ihrer Leiden, ihrer Tätigkeit, ihrer Kämpfe, ihres Triumphes und ihrer Liebe nennt er Mary das Heim seines Herzens, seine teure Freundin, „schön und ruhig und frei”
In der Widmung von „Laon und Cythna” redet er seine Frau an:
„Was bist Du? Was ich weiß, darf ich nicht sagen,
Mag doch dereinst die Zeit es wohl enthüllen.
Doch in der Blässe Deiner Jugendwange
Und in der lichtumwob’nen weiten Stirn,
Im süßen Lächeln wie in Deinen Zähren
Und leisem Wort wird eine Prophezeiung
Mir zugeraunt, der all mein Bangen weicht,
Und durch Dein Aug hindurch seh ich wie drinnen brennt
Vestal’schen Feuers reines Element.”
In der nächsten Strophe spricht er von ihrer Mutter Mary Wollstonecraft: (Bei Deiner Geburt) „ein Weib ward uns entrückt, Ein untergehnder, milder Wandelstern, Der mit dem reinen Glanze Dich geschmückt Seines vergehnden Lichts, und herrlich strahlt Auf Dich ihr Ruhm, durch all die dunklen wilden Stürme, Von denen unsre Zeit erbebt.”)
Dass man neben Godwins Einfluss den seiner ersten Frau und seiner Tochter nicht gebührend hervorhob, durfte man unter den heutigen Verhältnissen erwarten, wo nur Männer die Geschichte schreiben.
Es reifte wohl Shelleys Verständnis für die heutige Stellung der Frau in der Gesellschaft und für die Ursachen dieser Stellung, dass er so viel durch die Augen dieser zwei Frauen sah. Dies Verständnis war nur unbestimmt und dunkel, so lange er mit Harriet lebte; er würde sich auch allein früher oder später zu voller Klarheit durchgerungen haben; dass er sie aber so früh erlangte, ist wohl in großem Maße den beiden Marys zuzuschreiben. Wenigstens die eine der beiden hatte bereits vor ihm zum Teil erkannt, dass die soziale Stellung der Frau eine ökonomische Frage ist, nicht eine Frage der Religion oder des Gefühls. Das Verhältnis der Frau zum Mann gleicht heute vielfach dem der produzieren den zu den besitzenden Klassen. Ihre wirkliche wie ihre scheinbare Inferiorität ist die Folge der ökonomischen Macht, die der Mann über sie ausübt. Das verstand Shelley nicht bloß in Beziehung auf die unglücklichste Klasse von Frauen, sondern auf alle Klassen von Frauen. In der „Königin Mab” schreibt er sehr wahr:
„Verkauft wird Alles, selbst das Licht des Himmels
Ist feil — der Erde reiche Liebesgaben
— — — — — —
Sind käuflich, wie auf öffentlichem Markt,
Und unverhüllte Selbstsucht zeichnet Jedes
Mit seinem Preis, dem Stempel ihrer Herrschaft.
Die Liebe selbst ist käuflich; sie, der Trost
Für alles Wehe, wird zur Todesqual,
Das greise Alter bebt im schaudernden Arm
Selbstsücht’ger Schönheit. . . . . .”
In „Laon und Cythna” ist es das Weib (im Allgemeinen), das man „seit Langem vergewaltigt und befleckt.” Wie richtig er die Stellung der Frau verstand und wie klar er erkannte, dass in ihrer Erniedrigung der Mann auch sich erniedrigt, dass Gerechtigkeit für das Weib auch den Mann befreit, zeigt deutlich folgende Stelle aus „Laon und Cythna”:
„Kann frei der Mann sein, wo das Weib geknechtet?
Kannst Du den Lebenden, der Himmelsluft
Atmet, an dumpfe Grabesfäulnis ketten?
Kann Unterdrückung schütteln ab, wer selbst
Gepaart mit Wesen, die, dem Tiere gleich,
Verachtet und zertreten? Träf der Sieger nicht
Am eignen Herd den Fluch in Weibsgestalt,
Auf’s neu Verbrechen zu erzeugen, wieder
Zu baun des Glaubens eingestürzten Tempel?”
Man vergleiche diese und ähnliche kraftvolle Ausbrüche Shelleys mit den unsicheren Tönen und dem angehaltenen Atem des verwässerten, entnervten und verweichlichten Shelley unserer Tage, Tennyson. Dieser hält den Atem an, so oft er auf die Beziehungen der Geschlechter zu reden kommt, weil er zur „guten” „anständigen” Gesellschaft gehört; und seine Töne sind unsicher, da Lord Tennyson die wirkliche Bedeutung der Stellung von Mann und Weib in der heutigen Gesellschaft nicht begriffen hat.
3. Shelleys Verhältnis zu Tyrannei und Freiheit im Allgemeinen.
Mit der abstrakten Freiheit und der abstrakten Tyrannei haben sich die Dichter immer viel zu schaffen gemacht. Sie haben die letztere in wohlgemessenen Versen und ungemessenen Ausbrüchen angegriffen. Und doch hat mancher von ihnen es nicht einmal gewagt, eine Petition um Begnadigung von Männern zu unterzeichnen, die um ihrer politischen Überzeugung willen auf die Aussagen gekaufter Zeugen hin zum Tode verurteilt wurden. Sie haben in glühenden Worten die Freiheit im Allgemeinen oder im Ausland verherrlicht und sind gleichzeitig vor den Machthabern im eigenen Lande gekrochen. Shelleys Begeisterung für die Freiheit war dagegen mehr als eine poetische Phrase. Er schrieb, was er empfand, in seiner „Ode an die Freiheit”, in der „Ode für die Spanier” (1819), und in dem großartigen Gedicht „Freiheit” (1820).
Freiheit
„Die feurigen Berge donnern sich zu,
Es hallt ihr Krachen von Zone zu Zone;
Die Meere stürmen sich auf aus der Ruh,
Und es bebt des Nordpols eisige Krone,
Wenn erschallt des Typhons Trombone.
Einer einzigen Wolke der Blitz entwettert,
Der tausend Inseln in Glut entfacht;
Die Erde bebt — eine Stadt ist zerschmettert,
Und hundert beben und wanken; es kracht
Der Erde tiefunterster Schacht.
Doch heller Dein Blick als des Blitzes Schein
Ind wie Du, so dröhnet die Erde nimmer;
Des Meeres Getos, der Vulkane Schein
Übertönst, überstrahlst Du; der Sonne Schimmer
Ist vor Dir wie Irrlichtsgeflimmer.
Von Berg und Woge und jagender Wolke
Glänzt die Sonne durch Nebel und dunstigen Flor;
Von Seele zu Seele, von Volk zu Volke,
Von Stadt zu Dorf schwingt Dein Tag sich empor
Wie Schatten der Nacht fliehn Sklav’ und Tyrann
Wenn Dein Licht zu leuchten begann.”
Der Mann, der so die Freiheit besang, war der unversöhnliche Feind jeder Tyrannei, nicht bloß in der Abstraktion, sondern auch in ihren konkreten Formen.
Natürlich befehdete er im Allgemeinen jene Ideen, die den Geist des Menschen unterjochen und niederdrücken. Shelley hasste den Aberglauben und den Despotismus in allen ihren Formen und griff sie als Abstraktionen von diesen Formen immer und immer wieder an. Der Aberglaube oder die unbegründete Verehrung dessen, was nicht wert ist, verehrt zu werden, war in seinen Augen vor allem in der Religion verkörpert. In seiner Jugend erschien ihm zum Teil wie Voltaire, das Pfaffentum als der Feind, der vor allem zu vernichten sei. Und der Despotismus, gegen den er sich erhob, war in erster Linie der von Autotraten und überhaupt von einzelnen Personen. Aber gleichzeitig griff er auch die Klassenherrschaft, die Herrschaft des Kapitals an. Je weiter er sich entwickelte desto mehr traten die Angriffe letzterer Art in den Vordergrund. Und was er gegen den religiösen Aberglauben und den Despotismus Einzelner geschrieben, richtet sich auch gegen den ökonomischen Aberglauben und den Despotismus der Klassen. In seiner Vorrede zu „Julian und Maddalo” spricht er von „den unendlichen Verbesserungen, denen die menschliche Gesellschaft durch die Ausrottung gewisser abergläubischer Moralanschauungen entgegengeführt werden könnte.”
4. Shelleys Stellung zur Tyrannei in einigen ihrer konkreten Formen.
Wir können hier nur vorübergehend seine Gesänge zu Gunsten unterdrückter oder im Befreiungskampf begriffener Nationen erwähnen — für Mexiko, Spanien, Griechenland, Irland, England. Von seinen Ausfällen auf Napoleon haben wir bereits gesprochen. In der „Larve der Anarchie” werden Castlereagh, Sidmouth und Eldon, diese skrupellosen Gegner jeder freiheitlichen Regung, persönlich gebrandmarkt. In jedem dieser Fälle greift er nicht bloß die Niedertracht des Mannes, sondern auch die Niedertracht der Sache in, der er diente. Der Prinzregent, später Georg IV., der in Folge des Wahnsinns seines Vaters, Georg III., seit 1811 die königlichen Funktionen versah, ein charakterloser und brutaler Wüstling, war in Shelleys Augen die Verkörperung des Fürstentums, wie Napoleon die Verkörperung der Habsucht und Tyrannei. In gleicher Weise erschien ihm Castlereagh, der zuerst als erster Sekretär der irischen Verwaltung Irland durch die grauenhaftesten Bluttaten niedergehalten, dann als englischer Minister die Seele des Kriegs gegen Frankreich geworden war, als die Verkörperung des Kriegs und der Unterdrückung; Sidmouth, Minister des Innern zur Zeit des Massakers von Peterloo (gelegentlich der Sprengung einer Volksversammlung durch Militär) wurde zur Personifikation der Bürokratie; Eldon war das verkörperte „Gesetz”.
Staatsmänner und Priester griff Shelley bei jeder Gelegenheit an: sie schädigen „Der Menschheit Blüte schon in zarter Knospe, Es sickert durch die blutentleerten Adern
Der öden, wüstverkommenen Gesellschaft
Ihr Einfluss, feinem Gifte gleich.”
Aber er unterlässt selten, diese Faktoren in Verbindung mit der Grundlage zu bringen, auf der Politik und Gesellschaft heute ruhen, dem kapitalistischen System:
„Der Handel stempelt mit der Selbstsucht Marke,
Dem Siegel allbedrückender Gewalt,
Ein glänzendes Metall und nennt es Gold.
Vor seinem Bild neigt sich die niedere Größe,
Der eitle Reichtum, der gemeine Stolz,
Die Pöbelbrut der Bauern, Adligen,
Der Priester und der Mächtigsten; sie ehren
Verblendeten Sinnes allzumal die Macht,
Die sie hinabtritt in des Elends Staub.
Denn in dem Tempel ihres feilen Herzens
Ist ein lebendiger Gott das Gold, und
Herrscht ob allem Ird’schen, nur der Tugend nicht.
Seitdem Tyrannen durch Verkauf und Kauf
Von Menschenleben ihre Sinnenlust
Mit Pracht umgeben und den nimmersatten
Verwüster Stolz befriedigen mit Ruhm,
Hat der Erfolg die Schmach, das Weh, den Gräuel
Des Kriegs geheiligt der betörten Welt.
Die Heere blindergebener Betrogenen
Zählt der Despot; aus seinem Kabinett
Lenkt er nach Lust die Puppen seiner Pläne,
Wie Sklaven auf den Wink des rohen Herrn
Von Hunger oder von Gewalt getrieben
Ein Werk grausamer Plackerei verrichten,
Der Hoffnung bar, gefühllos gegen Furcht,
Die kaum lebend’gen Kloben einer toten
Maschine, Räder nur und Handelswaren,
Des Reichtums prahlerischem Pomp zur Fron.”
Nicht umsonst stellt in „Karl I.” der Hofnarr die Handelsläden und Kirchen zusammen. „Der Regenbogen hing ober der Stadt mit allen ihren Läden und Kirchen.”
5. Shelleys Verständnis für den Klassenkampf.
Mehr als alles andere berechtigt uns Shelleys besonderes Verständnis des Gegensatzes zwischen den besitzenden und den produzierenden Klassen und der Konsequenzen desselben, ihn einen Sozialisten zu nennen. Wenn die radikalen Bourgeois vergnügt seinen schneidigen Angriffen auf die höheren Schichten der besitzenden Klassen, namentlich die Aristokratie, zusehen, so vergessen sie, dass er die Klasse, der sie angehören, auch nicht ungeschoren lässt. Seine Abneigung gegen die Bourgeoisie ist so wichtig und so bezeichnend für ihn, dass wir zu ihrer Kennzeichnung eine größere Anzahl von Stellen zitieren müssen. Er schreibt von Edinburgh in seinen Flitterwochen: „Hätte er (Onkel Pilfold) uns nicht unterstützt, wir wären noch an den Schmutz und das Geschäftsleben (commerce) Edinburghs gefesselt. Wie elend auch die Aristokratie ist, der Handel — die protzenhafte Unwissenheit und Unbildung — ist noch verächtlicher.”
Aus Keswick schreibt er einige Monate später über den Seendistrikt: „Die Gegend ist lieblich, aber die Bevölkerung abscheulich. Die Fabrikanten haben sich in dieses Tal eingeschlichen, es besudelt und die Lieblichkeit der Natur durch den menschlichen Schmutz entstellt.”
Man vergleiche damit folgende Stelle aus der „Reform vom philosophischen Standpunkt”: Man rühmt als eine der Wirkungen des heutigen Systems, dass es den Gewerbfleiß vermehre: das heißt, es vermehrt die Arbeit der Armen und den Überfluss, den sie den Reichen liefern; es läßt den Fabrikarbeiter 16 Stunden arbeiten, wo er ehedem nur 8 arbeitete; es verwandelt Kinder in lebenslose und blutlose Maschinen in einem Alter, wenn sie sonst vor dem Häuschen ihrer Eltern zu spielen pflegten; es vermehrt unendlich die Zahl derjenigen, die von der Arbeit anderer leben, im
Verhältnis zu denen, welche diese Arbeit leisten.
Zustimmend zitierte er folgende Stelle aus Godwin: „Es war vielleicht notwendig, dass ein Zeitalter der Monopole und der Unterdrückung bestand, ehe ein Zeitalter kultivierter Gleichheit möglich war. Wilde wären vielleicht niemals zur Entdeckung der Wahrheit und der Erfindung der Kunst anders getrieben worden als durch jene engherzigen Motive, die solch eine Zeit erzeugt. Aber nachdem wir über die Wildheit hinaus sind und der Mensch seine glorreiche Laufbahn von
Entdeckungen und Erfindungen begonnen hat, sind Monopol und Unterdrückung sicherlich nicht mehr nötig, ihn vor dem Rückfall in die Barbarei zu bewahren.”
Einen Brief aus Keswick, 1811, an Miss Hitchener, schließt er mit folgenden Worten: „Die erbärmlichen Seelen von Kriegshelden (heroes), Aristokraten und Kapitalisten (commercialists)”. Auch gebraucht er das Wort „privilegierte Klassen” in der „Reform vom philosophischen Standpunkt” als Gegensatz zu der arbeitenden Klasse. Ein paar Zitate mögen noch zeigen, wie er diesen Gegensatz verstand. Der Chor der Priester (Schwellfuß, 2. Akt, 2. Szene) singt: „Die diese Früchte genießen, werden durch Dich (die Gottheit Hunger) fett; die sie erzeugen, magern
ab durch Dich.”
Marys Worte in einer ihrer kritischen Noten bezeichnen wohl am besten seinen Standpunkt: „Shelley liebte das Volk und achtete es, da es oft tugendhafter sei und stets mehr leide, also mehr Sympathie verdiene, als die Großen. Er war der Überzeugung, ein Zusammenstoß zwischen den beiden Klassen der Gesellschaft sei unvermeidlich, und entschieden stellte er sich auf Seiten des Volks.”
6. Shelleys Verständnis für die Bedeutung moderner Schlagworte.
Sein Scharfsinn bewies sich nicht bloß in seiner Teilung der Gesellschaft in zwei Gruppen, sondern auch in seinem Verständnis für die wirkliche Bedeutung von Worten, die für die Mehrzahl von uns gedankenlos gebrauchte Phrasen sind.
Die Denunzierung der „Anarchie” war zu Shelleys Zeiten ein beliebtes Mittel der reaktionären Regierungen und ihrer Helfershelfer, alle freiheitlichen Regungen zu verdächtigen. Shelley dagegen erklärte, die Anarchie, vor der man sich so sehr fürchte, sei mitten unter uns. In „Masken der Anarchie” zeigte er die Anarchie in der bestehenden Gesellschaft.
Auf der anderen Seite ließ er sich durch das selbstzufriedene Phrasengeklingel von der „britischen Freiheit” nicht täuschen: „Die weiße Küste Albions ist nicht mehr frei … Die Fehlgeburt, die ihm (England) krampfhafte Wehen verursacht, ist die zu Tod getroffene Freiheit.” Zeilen, geschrieben unter dem Ministerium Castlereagh. Und er sah die bezeichnende Tatsache, dass diejenigen, die von englischer Freiheit und dergleichen singen und sagen, sich dessen wohl bewusst sind, dass sie Unsinn schwätzen. Die Hohlheit des Schwindels, den Zeitungsschreiber, Parlamentsredner und ähnliche Leute mit dem Wort Freiheit treiben, war ihm völlig klar.
Nie wurde Shelley müde, das anzugreifen, was ihm als höchstes Gesetz entgegengehalten wurde, das Herkommen, oder wie man es lieber nannte, das „Sittengesetz”. Die Ketten, die eisigen Ketten der Sitte!” (Queen Mab.) „Der Feind, der älter ist als Gewalt und List, die alte Sitte” (Fall of Bonaparte, Works I, 27). Und gleichzeitig mit den Angriffen auf das Herkommen, an dem man hängt, bloß weil es herkömmlich ist, ging die Verherrlichung der Selbstherrlichkeit des Menschen; und der Dichter widersprach der Ansicht, als müssten unter dem neuen Regime die Menschen Maschinen werden, Uniformität herrschen und die Individualität ersticken.
Auch durch das Wörtchen „Gerechtigkeit” ließ sich Shelley nicht blenden. Er sah in Irland, wie sie eine Waffe der herrschenden Klassen gegen ein aufstrebendes Volk sein könne.
Im Juni 1817 erhoben sich einige Arbeiter in Derbyshire. Eine Schwadron Dragoner schlug die Insurrektion nieder, eine Insurrektion, die, wie man alle Ursache hat anzunehmen, von einem Agent provocateur der Regierung angezettelt war. Am 7. November wurden drei Männer, Brandreth, Turner und Ludlam „auf Schleifen zum Richtplatz geschleppt und in Gegenwart einer erregten und entsetzten Menge gehängt und geköpft.” (Dowden, Life, II, 157.) Gegen diese Hinrichtung erhob sich Shelley und erklärte sie für einen Justizmord.
So wenig er alles ruhig hinnahm, was im Namen der Gerechtigkeit geschah, so wenig war er bereit, ohne Weiteres im Verbrechen eine einseitige Schuld zu sehen. Er erkannte es als das natürliche Produkt der sozialen Verhältnisse. „Die Gesellschaft,” sagte er, „zerrt die armen Teufel so lange durch den Staub elender Armut, bis sie kaum noch menschlichen Wesen ähnlich sehen.” In seinen brieflichen Diskussionen mit Miss Hitchener fragte Shelley mehr denn einmal, ob eine gerechtere Verteilung von Wohlstand, von Arbeit und Muße nicht das Verbrechen und die Versuchung dazu fast völlig beseitigen würden. Und vieles, das andere Leute ein Verbrechen nannten, erschien ihm keineswegs als ein solches wie seine Vorrede zu „Laon und Cythna” bezeugt.
Bezeichnend ist endlich, wie er sich zum Eigentum stellte. Seine Ansicht darüber, was ein Mensch mit Recht und was er mit Unrecht als sein Eigentum betrachten dürfe, geht zum Teil aus folgender Stelle hervor: „Arbeit, Betriebsamkeit, Wirtschaftlichkeit, Geschicklichkeit, Genie und ähnliche Faktoren, ehrlich und in guter Absicht angewendet, sind die Grundlagen der einen Gattung von Eigentum. Alle wahren politischen Einrichtungen sollten jeden Menschen in der Ausübung seines Rechts mit Bezug auf so erworbenes Eigentum schützen … Aber da gibt es noch eine andere Art Eigentum, das eine Entstehung der Anmaßung, dem Betrug oder der Gewalt verdankt, Faktoren, ohne die, wie die Dinge liegen, ungeheure Mengen von Eigentum niemals hätten aufgehäuft werden können.”
Auf der anderen Seite ist Shelleys Auffassung des Reichtums in seinem „Lied an die Männer Englands” bemerkenswert: „den Reichtum, den ihr schafft, behält ein Anderer”.
Um zu zeigen, für wen die Arbeiter arbeiten, zitiert er folgende Stelle aus Godwin in seiner fünften Note zur „Königin Mab”: „Es gibt nur einen wahren Reichtum und das ist die menschliche Arbeit … Man setzt den Armen an die Arbeit, — wofür? Nicht, um sich Brot zu erwerben, nach dem er hungert, oder Decken, nach denen seine Kleinen sich sehnen, die in erbärmlichen Hütten frieren, nicht für jene Annehmlichkeiten der Zivilisation, ohne die der zivilisierte Mensch weit elender ist als der tiefststehende Wilde erdrücken ihn doch alle die tückischen Übel der Zivilisation, indes ihm täglich wie zum Hohn der Ausblick auf alle ihre unzähligen Wohltaten eröffnet wird — nein, er arbeitet für den Prunk der Macht, für die elende Überhebung des Stolzes, für die verlogenen Vergnügungen des hundertsten Teils der Gesellschaft.”
Als letztes Beispiel davon, wie er die Rolle des Reichtums auffasste, sei ein Zitat aus einem Brief an Miss Hitchener gegeben, vom 15. Dezember 1811. Shelley bespricht einen Vorschlag, sein Erbrecht unter gewissen Bedingungen fideikommissarisch zu beschränken: Man will, ich soll auf die freie Verfügung über 120 000 Pfund Sterling, auf Kommando über Arbeit verzichten, auf die Macht, sie zu erlassen oder zu nützlichen Zwecken anzuwenden, zu Gunsten Eines, den ich nicht kenne.”
Mit diesem Zitat wollen wir für diesmal schließen. Wir dürfen nicht erwarten, dass Shelley bereits die Bedeutung des Kaufs und Verkaufs der Arbeitskraft und des Prozesses ihrer Verwertung in Dienste des Kapitals, sowie dessen Konsequenzen klar erkannte. Das war damals selbst für sein Genie kaum möglich. Aber er fasste doch diese Verhältnisse ins Auge und stellte sich instinktiv bei ihrer Beurteilung auf die Seite der Arbeiterklasse. Schon um deswillen haben wir ein Recht, ihn einen Sozialisten zu nennen. Noch klarer wird dies werden, wenn wir untersuchen, durch welche praktischen Mittel er die Missstände der Gesellschaft heilen wollte, Wir hoffen, bald Gelegenheit zu haben, dies in einem besonderen Artikel zu zeigen.