Die 78. Generaldebatte der UN-Vollversammlung ist zu Ende. Sechs Tage dauerte das Treffen am Sitz der Vereinten Nationen in New York, das in diesem Jahr unter dem Motto stand: „Vertrauen wiederherstellen und globale Solidarität neu entfachen: Beschleunigung der Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer Ziele für nachhaltige Entwicklung in Richtung Frieden, Wohlstand, Fortschritt und Nachhaltigkeit für alle“. Anders als in den hiesigen Medien dargestellt, war der Stellvertreterkrieg in der Ukraine nicht das zentrale und alles bestimmende Thema. Und auch dem eigens angereisten ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenski ist es nicht gelungen, die vielbeschworene Weltgemeinschaft auf ein geschlossenes Vorgehen gegen Russland einzuschwören. Im Gegenteil: Der bei Auftritten im Westen wie ein Popstar gefeierte Kiewer Staatschef warb in New York vor lichten Reihen um Unterstützung. Wie üblich trug er keinen Anzug, sondern Kleidung in olivgrünen Tarnfarben – anders beim anschließenden Treffen mit CEOs des US-Hedgefonds BlackRock, Wall-Street-Bankern und Tech-Oligarchen: Der als Investorenwerbung für den Wiederaufbau nach dem Krieg umschriebene Ausverkauf der Ukraine an US-Großkonzerne erfolgte in zivilem Schwarz.
Wie Selenski rief auch US-Präsident Joseph Biden am Sitz der Vereinten Nationen zu weiterem Beistand für die Ukraine auf. Die UNO müsse die „blanke Aggression“ Russlands in der Ukraine stoppen, um künftige Aggressoren abzuschrecken. Beim Besuch im Weißen Haus im Anschluss erhielt Selenski neue US-Waffenpakete, wenn auch nicht die erhofften ATACMS-Kurzstreckenraketen. In den von Washington dirigierten Chor der Diplomatieverweigerer stimmte Bundeskanzler Olaf Scholz mit ein: In seiner vor praktisch leerem Saal gehaltenen Rede warnte der deutsche Staatschef vor „Schein-Lösungen“, die „Frieden“ lediglich im Namen trügen.
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte in seiner Eröffnungsrede zur UN-Generaldebatte bereits zu einer Beendigung des Ukraine-Kriegs durch „Dialog“ aufgerufen und bemängelt, es sei „viel in Waffen und wenig in Entwicklung investiert worden“. Die Förderung einer „Kultur des Friedens ist unser aller Pflicht“, so Lula, der zudem zu einem entschlossenen Kampf gegen den Klimawandel und eine wachsende soziale Ungleichheit aufrief: „Die Menschen in den armen Ländern leiden besonders stark unter dem Klimawandel, der maßgeblich von den Industriestaaten verursacht wurde.“ Der Staatschef des größten lateinamerikanischen Landes forderte zudem mehr Einsatz im Kampf gegen die Gewalt gegen Frauen sowie eine Stärkung der Rechte von Homosexuellen und Behinderten. Ausdrücklich kritisierte Lula die Verfolgung des Journalisten und Wikileaks-Gründers Julian Assange durch die USA und forderte dessen Freilassung – wie später auch die Staatschefin von Honduras, Xiomara Castro.
Kolumbiens Präsident Gustavo Petro kritisierte die Doppelmoral des Westens und wies die Versuche zurück, die Länder Lateinamerikas, die bekanntlich Opfer zahlreicher US-Invasionen in den vergangenen Jahrzehnten waren, jetzt am US-geführten NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu beteiligen. In seiner eindrücklichen Rede warnte er vor dramatischen Folgen des Klimawandels. Sein Land, das heute von üppigen Wäldern bedeckt ist, werde sich in eine Wüste verwandeln und die Einwohner würden massenhaft abwandern, so Petro. Sie würden nicht mehr von der Aussicht auf Wohlstand angezogen, „sondern von etwas Einfacherem und Lebenswichtigerem: Wasser“. Die Nationen müssten es schaffen, das Zusammenleben der Menschen auf der Erde neu zu gestalten. Die globale Erwärmung sei „die Mutter aller Krisen“, aber Kriege lenkten davon ab.
Der Präsident des sozialistischen Kuba, Miguel Díaz-Canel, forderte bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung im Namen von mehr als 100 Entwicklungsländern eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung ein. Die derzeitige sei irrational, für den Planeten unhaltbar und habe die enormen Ungleichheiten zwischen einer hoch entwickelten Minderheit der Nationen und dem Rest der Welt stetig vertieft. „Wir bitten nicht um Almosen oder flehen um Gefallen. Die G77 fordert Rechte ein“, betonte Díaz-Canel, der den jährlich wechselnden Vorsitz der sogenannten Gruppe der 77 innehat. Der 1964 gegründete Zusammenschluss, dem aktuell 134 Entwicklungsländer angehören, hatte vor der UN-Vollversammlung ein Gipfeltreffen in der kubanischen Hauptstadt Havanna abgehalten und dabei „Veränderungen gefordert, die sich nicht mehr aufschieben ließen“, so der kubanische Staatschef.
Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa kritisierte die westliche Fixierung auf Waffenlieferungen: „Es ist eine schwere Anklage gegen diese internationale Gemeinschaft, dass wir so viel Geld für Krieg ausgeben können, aber nicht Handlungen unterstützen können, die für die grundlegendsten Bedürfnisse von Milliarden von Menschen nötig sind.“ Der Präsident der Zentralafrikanischen Republik, Faustin-Archange Touadéra, erinnerte schließlich an die Verantwortung des Westens für die steigende Zahl an Flüchtlingen aus den Ländern Afrikas. Die Eskalation der Krise sei eine Konsequenz des „Plünderns natürlicher Ressourcen von Ländern, die durch Sklaverei, Kolonialismus und westlichen Imperialismus, Terrorismus und innere bewaffnete Konflikte arm gemacht wurden“, sagte Touadéra in New York. „Diese jungen Leute, die die Gegenwart und die Zukunft unseres Kontinents symbolisieren, versuchen verzweifelt, die Länder des europäischen Kontinents auf der Suche nach einem Eldorado zu erreichen.“ Die UNO müsse „afrikanische Länder bei der Suche nach globalen Lösungen miteinbeziehen“. Das gelte auch für die existenziellen Probleme, denen junge Menschen auf dem Kontinent gegenüberstehen.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow nannte in seiner Rede die westlichen Länder eigennützige Verteidiger einer schwindenden internationalen Ordnung und betonte, sein Land habe kein Interesse an einem großen Krieg. „Es liegt ganz bei uns, wie sich die Geschichte entwickeln wird. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, eine Abwärtsspirale in einen groß angelegten Krieg und den endgültigen Zusammenbruch der Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit zu verhindern“, so Lawrow. „Die USA und das ihnen untergeordnete westliche Kollektiv heizen weiterhin Konflikte an, die die Menschheit künstlich in feindliche Blöcke spalten und das Erreichen übergeordneter Ziele behindern. Sie tun alles, was sie können, um die Bildung einer echten multipolaren Weltordnung zu verhindern“, sagte er weiter. Sie versuchen, die Welt zu zwingen, nach ihren eigenen egozentrischen Regeln zu spielen“. Mit Verweis auf Militärausrüstung im Wert von Milliarden US-Dollar für Kiew sowie auf die Unterstützung der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste und die Präsenz westlicher Militärberater in der Ukraine konstatierte Moskaus Spitzendiplomat, der Westen „kämpft de facto gegen uns, nutzt die Körper von Ukrainern“.
Die Regierung der Volksrepublik China plädierte einmal mehr für eine Verhandlungslösung. „Die Einstellung der Feindseligkeiten und die Wiederaufnahme der Friedensgespräche sind die einzige Möglichkeit, die Ukraine-Krise zu lösen“, betonte Vizepräsident Han Zheng vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. China unterstütze alle Bemühungen, die einer friedlichen Lösung der Ukraine-Krise zuträglich sind, und wolle „weiterhin eine konstruktive Rolle“ spielen.
Praktisch allein steht dagegen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock da, wenn sie meint, Russland sei innerhalb der Vereinten Nationen isoliert. „Moskau hat in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat deutliche Kritik erfahren für seine andauernde Verletzung der UN-Charta“, ließ die Grünen-Politikerin gegenüber der Deutschen Presse-Agentur zum Ende ihrer USA-Reise ihrer Realitätsverweigerung freien Lauf. Und für Julian Assange hat Deutschlands oberste Diplomatin auch dieses Mal wieder keine Worte gefunden.