Vor 75 Jahren erging in der Sowjetischen Besatzungszone der Befehl Nummer 201

Entnazifizierung in Ost und West

Klaus Emmerich

Nach dem Sieg über Nazideutschland im Mai 1945 stand für die Mächte der Antihitlerkoalition die Befreiung vom Faschismus auf der Tagesordnung – aktive Mitglieder, Unterstützer und Förderer der Nazipartei sollten aus allen Positionen entfernt werden. „Diese sind durch solche Personen zu ersetzen, die nach ihrer politischen und moralischen Einstellung für fähig erachtet werden, die Entwicklung wahrer demokratischer Einrichtungen in Deutschland zu fördern“, formulierten die Siegermächte in der Kontrollratsdirektive Nummer 24 vom 12. Januar 1946.

Dies geschah in den Besatzungszonen und danach in den beiden deutschen Staaten höchst unterschiedlich. In den westlichen Besatzungszonen wurde mit Fragebögen gearbeitet. Insgesamt 13 Millionen Deutsche mussten die darin enthaltenen 113 Fragen ausfüllen. Der Historiker Clemens Vollnhals wird vom „Deutschlandfunk“ (DLF) zitiert: „Im Laufe des Verfahrens hat sich der Säuberungswille an der Masse der Bagatellfälle verschlissen und über das abrupte Ende oder (den) Abbruch der Entnazifizierung mit dem beginnenden Kalten Krieg haben wir dann die paradoxe Situation, dass Minderbelastete anfangs härtere Folgen tragen mussten als wirkliche schwer Belastete im Jahre 1948.“

Im gleichen Artikel des DLF heißt es: „Das galt wiederum nicht für die Sowjetzone. Dort hießen die Spruchkammern ‚Entnazifizierungskommissionen‘ und dienten eher dazu, durch die Neubesetzung von Stellen mit Kommunisten einen Systemwechsel zu erzwingen.“ Aufschlussreich! In den ersten Jahren nach der Befreiung waren in ganz Deutschland Antifaschisten durch die Alliierten in Schlüsselpositionen eingesetzt worden. Dazu zählten auch im Westen Kommunistinnen und Kommunisten, die Verantwortung übernahmen. Dass diese wenig später aus ihren Ämtern entfernt wurden, lag nicht an schlechter Arbeit. Überhaupt, musste nach dem Faschismus nicht ein „Systemwechsel“ erzwungen werden?

„Nationalsozialistische Funktionäre erkannten schnell, dass sie in den westlichen Besatzungszonen weniger zu befürchten hatten. Viele sahen ihre einzige Chance darin, sich dem Westen mit antikommunistischen Argumenten anzudienen, was im Osten naturgemäß nicht möglich war. Wiederum waren die späteren Funktionsträger der SBZ (Sowjetischen Besatzungszone – UZ) häufig direkt vom NS-Regime Verfolgte und bewerteten die bloße Mitgliedschaft in der NSDAP als Vergehen“, steht in einem „Wikipedia“-Eintrag. Im selben Artikel kommen die Autoren hinsichtlich der SBZ zu dem Schluss: „Die Entnazifizierung (…) wurde schnell und konsequent durchgeführt.“

3210 Schlussstrich drunter FDP election campaign poster Germany 1949 1 - Entnazifizierung in Ost und West - BRD, DDR, Entnazifizierung - Theorie & Geschichte
Wahlplakat der FDP zur Bundestagswahl 1949 (Plakat: gemeinfrei)

Am 16. August 1947 erteilte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) ihren Befehl Nummer 201. Darin formulierte sie grundlegende „Richtlinien zur Anwendung der Direktiven Nummer 24 und Nummer 38 des Kontrollrats über die Entnazifizierung“.

Die grundlegenden Positionen der alliierten Großmächte zum Umgang mit dem befreiten Deutschland wurden im Potsdamer Abkommen festgelegt. Neben der Entmilitarisierung spielte die Entnazifizierung eine bedeutende Rolle. Die Vernichtung der faschistischen Partei, die – der Nazidemagogie auf den Leim gehend – noch heute oft als „nationalsozialistisch“ bezeichnet wird –, die Aufhebung faschistischer Gesetze, die Bestrafung der Kriegsverbrecher sowie die Demokratisierung des gesamten Lebens in allen Besatzungszonen gehörten zu den zentralen Zielen der Vereinbarung. Vorgesehen war überdies die Entfernung aller Mitglieder der Hitlerpartei, welche mehr als nominell an deren Aktivitäten teilnahmen, aus öffentlichen und halböffentlichen Ämtern und von wichtigen Posten in Privatunternehmen; ferner war die Entlassung der militaristischen und hitlerfaschistischen Lehrkräfte im gesamten Bildungswesen geplant.

In der Präambel des SMAD-Befehls hieß es: „In der Sowjetischen Besatzungszone wurde vom Augenblick der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands an eine große Arbeit geleistet zur Säuberung der öffentlichen Behörden, staatlichen und wichtigen Privatunternehmen von ehemaligen aktiven Faschisten, Militaristen und Kriegsverbrechern und zur Ersetzung dieser Personen durch Menschen, die fähig sind, bei der demokratischen Umgestaltung in Deutschland im Interesse des deutschen Volkes behilflich zu sein. Durch die Bodenreform wurde der Landbesitz der Junker und der Faschisten und Kriegsverbrecher in die Hände der Bauern übergeben. Kredit- und Bankeinrichtungen sowie Industrieunternehmen ehemaliger aktiver Faschisten und Militaristen gingen in das Eigentum des Volkes über. Somit wurde in der Sowjetischen Besatzungszone die Grundlage des Faschismus, des Militarismus und der Reaktion ernsthaft erschüttert.“ Diese Fakten machten es erforderlich, zwischen den ehemaligen aktiven und den nur nominellen – nicht aktiven – Nazis zu unterscheiden.

Der Befehl Nummer 201 bestimmte in zehn Unterpunkten die grundsätzlichen Aufgaben aufgrund „der Direktive Nummer 38 des Kontrollrats und der Wünsche der antifaschistischen demokratischen Parteien“. Die Ziffer 3 hat zum Beispiel folgenden Wortlaut: „Die deutschen Gerichtsorgane (sind) zu verpflichten, ihre Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren, dass die Kriegsverbrecher, Mitglieder der verbrecherischen Naziorganisationen und führenden Persönlichkeiten des Hitlerregimes zur gerichtlichen Verantwortung gezogen und ihre Angelegenheiten beschleunigt überprüft werden; zugleich ist eine allgemeine gerichtliche Belangung der nominellen, nicht aktiven Mitglieder der Nazipartei nicht zulässig.“
Der Befehl Nummer 201 wurde durch drei „Ausführungsbestimmungen“ vom 19. beziehungsweise 21. August 1947 ergänzt. Darin wurden im Detail das Wahlrecht, der Aufbau und die Zusammensetzung der Entnazifizierungskommissionen sowie einzelne Schritte und Maßnahmen zur Verwirklichung der Direktive Nummer 38 des Kontrollrats geregelt.

Die Deutsche Verwaltung des Innern (DVdI) der SBZ erließ drei „Ausführungsbestimmungen über die Regelung der Feststellung und Registrierung von Hauptverbrechern, Verbrechern und Minderbelasteten (Verbrecher der zweiten Stufe)“ aufgrund des Befehls Nummer 201.

In „Durchführungsbestimmungen“ der Ministerien des Innern der Landesregierungen und einem Erlass der Deutschen Justizverwaltung, der „Aufgaben der Gerichte und Staatsanwälte“ regelte, wurden zahlreiche weitere Details festgelegt.
Die Unterscheidung zwischen aktiven und nominellen Faschisten war in der Praxis der Entnazifizierungsarbeit gar nicht einfach zu verwirklichen. Die Kontrollratsdirektive Nummer 24 bezüglich der „Entfernung von Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen, aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen“ bestimmte im Einzelnen, welche Personen der Nazipartei „aktiv und nicht nur nominell angehört haben“.

  • Wozu war etwa ein 19-jähriger Volkssturmmann zu rechnen, der in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet?
  • War die betreffende Person ein bedeutendes Mitglied der Nazipartei? War sie hauptamtlich tätig oder nur eine winkende Person am Straßenrand?
  • Welchen Dienstgrad in Gliederungen der Nazipartei hatte die Person?

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und seine Vorläufer in der DVdI haben die Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen aktiv geführt.

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"Entnazifizierung in Ost und West", UZ vom 12. August 2022



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