UZ: Sie engagieren sich im Düsseldorfer Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus. Wie würden Sie die aktuelle Situation in den Kliniken beschreiben?
Melanie Stitz: Seit den 90er Jahren wurde das Gesundheitssystem in Deutschland massiv umgebaut. 2003/2004 wurden Festpreise für bestimmte Behandlungen eingeführt, sogenannte Fallpauschalen. So wird
die Behandlung mancher Erkrankungen gewinnbringend, andere lohnen sich dagegen für die Krankenhausgesellschaften nicht. Kaiserschnitte und Hüftgelenke lohnen sich, weniger invasive Behandlungen und langfristige Therapien sind unrentabel. Über- und Unterversorgung sind zwei Seiten derselben Medaille. Unter dem Druck, Profit zu generieren, wird am Personal gespart. Seit den 90er Jahren hat sich die Zahl der Pflegekräfte um 50 000 reduziert, demgegenüber stehen 30 Prozent mehr Patientinnen und Patienten. Pflegekräfte, die den Beruf mal mit Herzblut gelernt haben, reduzieren Arbeitszeit, brennen aus oder geben aus ethischen Gründen auf. So hat sich die durchschnittliche Verweildauer im Beruf von zehn Jahren seit 1990 auf siebeneinhalb Jahre reduziert. Küche, Reinigung, Sterilisation usw. werden als Tochterfirmen ausgelagert, um Personalkosten zu sparen und Mitbestimmung zu verhindern. Auch in diesen Bereichen wächst der Arbeitsdruck. Das geht auf Kosten aller – die Aktionäre ausgenommen.
UZ: „Die Politik“ hat versprochen, diese Missstände zu beheben. Hat sich etwas getan?
Melanie Stitz: Unter dem Druck von Streiks und öffentlicher Stimmung wurden die Pflegekosten aus den Fallpauschalen herausgenommen. Eine Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) für vier sogenannte pflegesensitive Bereiche wurde verabschiedet. Das ist natürlich nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Ohne betriebliche Kämpfe und weitere Volksbegehren für eine gesetzliche Personalbemessung und ohne Abschaffung des Systems der Fallpauschalen wird es keine wirkliche Behebung der Missstände geben.
UZ: Am letzten Freitag fanden bundesweit Aktionen zum Frauentag statt. In vielen Städten wurde gar zu einem Frauenstreik mobilisiert. Was war Ihnen persönlich bei den Protesten wichtig?
Melanie Stitz: Unter dem Motto „Wenn wir die Arbeit niederlegen, steht die Welt still!“ und mit dem Aufruf zum Streik ging es nicht nur um den notwendigen Protest gegen Benachteiligungen und Gewalt, sondern auch um die zentrale Bedeutung sogenannter Frauenarbeit, um Ausbeutung, Sichtbarmachung und um die Frage, wie wir alle Tag für Tag dazu beitragen, die Verhältnisse am Laufen zu halten. Da gab es gute Diskussionen, auch Selbstkritik und ein Erkennen: Hauptsächlich verantwortlich zu sein für Sorgearbeit wendet sich oft gegen uns. Wir können und wir wollen sie nicht einfach liegen lassen. Zugleich liegt darin auch unsere Stärke. Die Einsicht, dass wir einander brauchen, ist Basis einer solidarischen Gesellschaft. So müssen wir Gesellschaft bauen. Und das heißt auch, zu streiten für entsprechende Bedingungen für alle und die Verfügung über unsere Zeit: um für uns selbst und andere zu sorgen, um uns politisch einzumischen, um Kunst zu machen, um sinnvoll zu produzieren, was wir zum guten Leben brauchen. Die Vier-in-Einem-Perspektive ist eine solche Utopie.
UZ: Wurden Ihre Erwartungen erfüllt?
Melanie Stitz: Der Frauenstreik war hierzulande erst ein Auftakt – mit langer Vorgeschichte an Streiks zuletzt in Island, Schweiz, 1994 auch in Deutschland, Liberia, Polen, Argentinien, Spanien … In 177 Ländern streikten Frauen letztes Jahr am 8. März. Die Aktionen am Freitag waren vielfach auch symbolisch. Es gab kämpferische Mittagspausen, Demos, Verschönerungen im öffentlichen Raum… Ganz wichtig war der Austausch: Mich hat erstaunt, wie viele neu zusammenkamen, aus verschiedenen Milieus und Generationen. Immer wieder hieß es: Wie machen wir danach zusammen weiter? Was planen wir fürs nächste Jahr? Viele von uns kamen mit Menschen in der Nachbarschaft ins Gespräch, die sich gar nicht als feministisch verstehen, die Streik-Idee aber verstanden und bejahten. Das macht mir Mut.
UZ: Hat auch das Thema Gesundheit und Pflege eine Rolle gespielt?
Melanie Stitz: Meiner Kenntnis nach gab es überall einen Bezug zum Thema, im Aufruf, in Reden, bei Veranstaltungen, bei manchen Demos gab es den Aufruf zu einem Pflegeblock. Was in diesem Feld geschieht, ist in vieler Hinsicht auch als „Feminisierung von Arbeitskämpfen“ zu studieren. Darin liegt großes Potential, wie Ingrid Artus schreibt. Manche Aktivistin ist zudem mehrfach engagiert: im Frauenstreik, bei Care Revolution, im lokalen Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus usw. All das hängt ja zusammen. Hier werden unsichtbare Frauenarbeit, Ausbeutung, Profitlogik usw. besonders deutlich. Zugleich drängt sich von hier aus auch die Frage auf nach vorn: Wie wollen wir leben? Was sollten Leitprinzipien von Gesellschaft sein? Vielleicht ja auch kein Zufall: Just am 8. März streikten Kolleginnen in der Altenhilfe Wetter in Mittelhessen – die Einrichtung hatte sich gerade erst der Diakonie angeschlossen, vermutlich um das Betriebsverfassungsgesetz zu umgehen und vor einem Tarifvertrag zu flüchten …
UZ: Zu einem anderen Thema: Derzeit wandert ein sogenannter „Olympischer Brief“ durch die Republik. Was muss man sich darunter vorstellen und wer sind die Initiatoren?
Melanie Stitz: Die Idee entstand in Hamburg, bei einem Treffen diverser Bündnisse für mehr Personal in Krankenhaus. Bundesweit gibt es bereits mehr als 20 solcher Zusammenschlüsse von Menschen, die nicht zwingend selbst auch in der Pflege arbeiten, aber die Arbeitskämpfe unterstützen, Öffentlichkeit schaffen und klar sagen: Mehr von euch ist besser für alle, Profite pflegen keine Menschen und Gesundheit darf keine Ware sein!
Es entstand ein Brandbrief, der im Juni bei der Konferenz der Gesundheitsminister übergeben werden soll und derzeit in Krankenhäusern überall Station macht, flankiert von Aktionen. Dieser Koffer auf einem Fahrgestell, darin aufgespannt eine Rolle mit Papier zum Unterschreiben, hat große Wirkung. Nach vier Wochen waren schon 40 Meter mit Unterschriften voll. Auf der Facebook-Seite „Olympischer Brief“ sind die Aktionen anzusehen. Ob Pflege- oder Servicekraft, Ärztin, Hebamme, Reinigungskraft, Logopädin usw. – so werden die Kämpfe der verschiedenen Berufsgruppen, in Häusern jedweder Trägerschaft, sichtbar miteinander verbunden. Es geht nicht um vereinzelte Probleme. Betriebliche Kämpfe, wachsende gewerkschaftliche Organisierung, mehr als 20 Bündnisse, derweil Volksbegehren in Hamburg, Bayern, Berlin und Bremen, dazu die Präsenz des Themas in Medien und Alltag zeigen: Die Bewegung wächst und es geht kein Weg an ihr vorbei.