Am 11. Februar 1935 wurde Max Liebermann auf dem jüdischen Friedhof an der Berliner Schönhauser Allee beigesetzt. Etwa zwei Jahre zuvor, am 8. Mai 1933, hatte er eine Erklärung unterschrieben, mit der er seinen Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste erklärte und seine Ehrenpräsidentschaft niederlegte. Die Faschisten hatten ihn aus dieser Akademie vertrieben, der er seit 1920 vorgestanden hatte. Ein kleiner Kreis von Freunden und Bewunderern begleitete ihn trotz der Bespitzelung durch die Gestapo auf dem letzten Weg. Zu denen, die ihre Erinnerungen an dieses in der offiziellen Presse verschwiegene Ereignis überlieferten, gehörten Käthe Kollwitz und Peter Edel. Der Kunsthistoriker Adolf Goldschmidt hielt nach der Trauerfeier im Jüdischen Kulturbund eine Gedenkrede, deren Inhalt erst 1954 bekannt wurde. Darin sagte er über Liebermann: „Er hat einmal, als man ihn im Kunstgeschichtlichen Institut der Berliner Universität um ein Autogramm bat, geschrieben: Es gibt keine alte und neue Kunst – es gibt nur gute und schlechte Kunst. Und so gab es für ihn – das ist auch meine Meinung – keine speziell jüdische Kunst, sondern nur künstlerisch dargestellte jüdische Objekte, jüdische Historien, Porträts oder kunstvoll jüdische Kultgegenstände; ihr Stil aber hat sich stets dem allgemeinen angepasst; und ebenso hat Liebermann die Menschen beurteilt, nicht danach, ob sie Juden waren oder nicht, sondern danach, ob sie rechtschaffene, anständige, tüchtige Menschen waren.“
Lügen von heute
Das sind allgemeingültige Wahrheiten: Es ist ein Irrtum zu glauben, neue Kunst sei automatisch die bessere. Und für in der DDR lebende jüdische Künstler – Herbert Sandberg, Lea Grundig, Leo Haas, Ingeborg Hunzinger und andere, die den Holocaust überlebt hatten oder aus der Emigration zurückgekehrt waren – spielte ihre Herkunft keine Rolle. Geachtet wurden ihr Können, ihre künstlerischen Botschaften, ihr Engagement. Nach ihrer „Rasse“ fragte niemand; sie wurden ebenso angesehen und geehrt wie alle anderen. Auch in der DDR war das Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur groß. Gegenwärtige Vergangenheitsfälscher leugnen das. Sie bezweifeln lautstark nicht nur den „verordneten“ antifaschistischen Grundcharakter dieses Staates, sie unterstellen ihm auch Antisemitismus. Wenn in der DDR die Annexionspolitik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern konsequent abgelehnt wurde, so hatte das jedoch nichts mit Antisemitismus zu tun.
In seinem 2010 im Verlag Das Neue Berlin erschienenen Buch „Die DDR und die Juden“ beschäftigte sich der Jurist Detlef Joseph gründlich mit den Lebensbedingungen jüdischer Mitbürger in der DDR und ließ dabei auch Kritik an Fehlern und Schwachstellen nicht aus. Die ehemalige Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in der Berliner Oranienburger Straße, Renate Kirchner, erarbeitete für diesen Band eine Bibliografie aller zwischen 1945 und 1990 in DDR-Verlagen erschienenen Publikationen zu jüdischer Geschichte und Kultur. Es waren mehr als tausend. Solche Wahrheitssuche wird von DDR-„Aufarbeitern“ in den Schmutz gezogen. Man will auf diese Weise von erneut auflebendem Judenhass ablenken, der sich in der deutschen Gegenwart beängstigend ausbreitet, so dass mancher Betroffene wieder an Auswanderung denkt.
Ein Vergessener
Im Heft 6/1986 der „Bildenden Kunst“, deren Chefredakteur ich war, erschien ein von Alexander Haeder verfasster Beitrag über den jüdischen Maler und Grafiker Jankel Adler, der bis dahin in der DDR nicht bekannt war. Haeder hatte die Jankel-Adler-Ausstellung gesehen, die ab 1985 in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf, im Tel Aviv Museum und im Muzeum Sztuki w Łódźi gezeigt worden war. 30 Jahre zuvor hatte in der BRD 1955 zum ersten Mal eine Werkschau mit Adlers Arbeiten im Von-der-Heydt-Museum Wuppertal stattgefunden. Und es dauerte weitere 30 Jahre, bis am 17. April 2018 im selben Museum wieder eine große Retrospektive unter dem Titel „Jankel Adler und die Avantgarde Chagall, Dix, Klee, Picasso“ eröffnet wurde, die sehr bald, am 12. August 2018, wieder schloss.
In den zwanziger Jahren und im Pariser Exil befand sich Jankel Adler mit Marc Chagall, Otto Dix, Paul Klee und Pablo Picasso auf Augenhöhe. Doch er wird bis heute im Unterschied zu ihnen kaum wahrgenommen. Weil er polnischer Jude war und 1933 aus Deutschland fliehen musste, geriet er in Vergessenheit. Seine Bilder verschwanden mit der Aktion „Entartete Kunst“ aus den Museen und bald auch aus dem Gedächtnis. Eigentlich war ihm, der aus einem streng chassidischen Elternhaus stammte, das figürliche Malen und Zeichnen nicht gestattet, doch er entwickelte sich zu einem besessenen Menschendarsteller.
Am 26. Juli 1895 wurde er in Tuszyn bei Łódźi als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. 1912 begann er eine Lehre als Graveur bei seinem Onkel in Belgrad. 1913 siedelte er nach Deutschland über und wohnte zunächst bei seiner Schwester in Barmen. Dort begann er 1916 ein Studium an der Kunstgewerbeschule in der Malklasse von Gustav Wiethüchter, der ein führender Vertreter des Rheinischen Expressionismus war und 1933 diese Schule verlassen musste. Von 1917 an suchte Adler erste Kontakte zur Rheinischen Künstlerszene, unter anderem zu Arthur Kaufmann, einem der Gründer der Gruppe „Das Junge Rheinland“. In den folgenden Jahren ging er zurück nach Łódźi, wo er Mitinitiator der Künstlergruppe „Jung Jiddisch“ war und sich erstmals an einer Ausstellung beteiligte. 1920 kehrte er nach Deutschland zurück, hielt sich zunächst für kurze Zeit in Berlin auf, hatte dort Kontakte zu revolutionären Künstlergruppen um die Zeitschrift „Die Aktion“, ging wieder nach Barmen, wurde dort Mitglied der Künstlergemeinschaft „Die Wupper“ und suchte – immer im Streben nach künstlerischer Gemeinschaft – Begegnungen im Düsseldorfer „Aktivistenbund“. Dort lernte er seine spätere Lebensgefährtin, die Kunststudentin Betty Kohlhaas, kennen. Auch mit Else Lasker-Schüler war er befreundet. 1922 siedelte er nach Düsseldorf über und wurde Mitglied der Gruppe „Das Junge Rheinland“. Gemeinsam mit Paul Klee unterrichtete er an der dortigen Kunstakademie und beteiligte sich aktiv an der Arbeit rheinischer und Berliner Künstlergruppen, so der „Novembergruppe“, der „Union fortschrittlicher internationaler Künstler“ und der „Gruppe progressiver Künstler“. Am „Kongress der internationalen Künstler“ 1922 in Düsseldorf nahm er ebenso teil wie 1924 an der „Ersten Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung“ in der UdSSR, die von Otto Nagel und Hannah Höch organisiert worden war und Arbeiten von mehr als 100 Künstlern zeigte, darunter auch von Käthe Kollwitz, Heinrich Zille, George Grosz und Max Pechstein. 1926 malte Otto Dix das bekannte Porträt seines Freundes Jankel Adler. Als 1928 in Düsseldorf die repräsentative Ausstellung „Deutsche Kunst“ stattfand, war Jankel Adler neben weiteren jüdischen Künstlern mit drei Bildern vertreten – darunter mit seinem Gemälde „Soldaten“ (1928), einem Ganzkörper-Doppelporträt zweier Verwundeter in russischen Uniformen. 1931 bezog Adler in der Düsseldorfer Akademie ein eigenes Atelier. Im selben Jahr zeigte er sein Ölgemälde „Frau mit krankem Arm“ in der Berliner Ausstellung „Frauen in Not“, die von Käthe Kollwitz eröffnet wurde. Bis zum Machtantritt Hitlers und seiner Gefolgsleute nahm er an etwa 40 Ausstellungen im In- und Ausland teil.
Im Exil
1933 verließ er auf Anraten seiner Freunde Deutschland. Während des Wahlkampfes zur Reichstagswahl hatte er einen dringenden Appell gegen die Politik der Nazis und für den Kommunismus veröffentlicht. Jankel Adlers kommunistische Haltung war stark vom Gefühl geprägt und hatte anarchische Züge. Durch seine Flucht nach Paris entging er der Verhaftung. Sein Exil fasste er als bewussten Widerstand gegen das faschistische Regime in Deutschland auf. 1935 fuhr er noch einmal in das noch nicht besetzte Polen. In Warschau und Łódźi konnte er eine große Einzelausstellung zeigen, weil seine Bilder von Freunden aus Düsseldorf nach Polen gebracht worden waren. Die Reisen, die er von Polen aus unternahm, führten ihn auch in die Sowjetunion. 1937 kehrte er nach Paris zurück. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges meldete er sich 1939 als Freiwilliger zur polnischen Exilarmee in Frankreich und wurde Artillerist. Nach der Schlacht von Dünkirchen verließ er mit der polnischen Armee über den Hafen von St. Nazaire Frankreich und blieb zunächst in Glasgow. Dort wurde er 1941 aus gesundheitlichen Gründen entlassen und lebte anschließend für kurze Zeit in der Künstlerkolonie des kleinen schottischen Ortes Kirkcudbright. 1943 übersiedelte er nach London, wo er unter anderem mit Oskar Kokoschka und Ludwig Meidner zusammentraf. Nach dem Krieg erfuhr er, dass von seinen neun Geschwistern und ihren Kindern nur eine Nichte und ein Neffe den Holocaust überlebt hatten. Im Alter von 54 Jahren starb er am 25. April 1949 in seinem Haus in Aldbourne bei London an einem Herzanfall.
Entartet
Jankel Adlers Bilder enthielten alles, was den faschistischen Kulturideologen missfallen musste: Er war polnischer Jude, gestaltete in seinen Werken meist jüdische Menschen und ihre Lebenswelt und bediente sich einer modernen Formensprache mit Elementen des Expressionismus, Kubismus und Konstruktivismus. Schon in der ersten Femeausstellung „Kulturbolschewistische Bilder“ von 1933 in der Mannheimer Kunsthalle zeigte man zwei von Adlers Werken. 1937 wurden 25 seiner Arbeiten auch aus der Berliner Nationalgalerie und dem Folkwang-Museum Essen beschlagnahmt und vier davon in der Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“ an den Pranger gestellt. Auch in der Schand-Schau „Der ewige Jude“ im Münchener Deutschen Museum hingen zwei Bilder von ihm. Wichtige Werke wurden zerstört oder sind verschollen.
Das Werk
Während er in Deutschland vor allem Anregungen aus der Arbeitsweise von Marc Chagall, Paul Klee und Otto Dix aufnahm und auf unverwechselbare, eigene Weise nutzte, waren es in den Pariser Jahren Pablo Picasso und Fernand Léger, die ihn beeindruckten. Das Erlebnis von Picassos „Guernica“ bestärkte ihn sicher auf seinem Weg zu stärker abstrahierten Gestaltungen. 1948, ein Jahr vor seinem Tod, schuf er in London sein Ölgemälde „Treblinka“ in abstrakten Formen und in der Überzeugung, dass es nicht möglich ist, das Grauen der Gaskammern illustrativ darzustellen. Sein Lebenswerk aber wird vom Figürlichen bestimmt. Die Formen sind kompakt, fest gefügt, füllen den Bildraum, bestimmen die Strenge der Bildkomposition. Er war experimentierfreudig, mischte den Ölfarben manchmal Sand bei, um eine raue, samtige Oberflächenwirkung zu erzielen und trug die Farben oft pastos auf.
Die meisten seiner Werke sind jüdischen Bildstoffen gewidmet. Wie Marc Chagall, Anatoli Kaplan und Heinrich Sussmann liebte und bewahrte er die Welt des jüdischen „Schtetls“, die von der deutschen Wehrmacht und der SS so gründlich und unwiederbringlich vernichtet wurde. Er stellte einfache jüdische Menschen dar, ihr soziales Milieu, ihre Lust am Leben, ihre Leiden, die Pogrome, das jüdische Musikantentum, den eigentümlichen, melancholischen Humor.
„Der Geigenspieler“
Dieses Bild malte Jankel Adler 1928 und fand darin eine charakteristische Verbindung von Alltagsnähe und Stilisierung. Sein kleiner Maestro präsentiert sich trotz sichtbarer Armut selbstbewusst, ein wenig verträumt. Sein Gesicht ist rund, seine Hände grob, seine Locken sind unter einem Hut versteckt, der Schal ist wirkungsvoll drapiert. Er müht sich um würdevolle Haltung, hat sich – vielleicht für eine bevorstehende Hochzeit, auf der er spielen will – die teuersten Sachen angezogen. Ob er Noten kennt? Die ganze Sympathie des Malers steckt in diesem fest gefügten, klar gebauten Bild. Man kann seine Freude daran haben. Doch Jankel Adler verschweigt auch hier die Probleme nicht, die das jüdische Leben dieser Zeit bestimmen. Es ist seine eigene Welt. Zeit seines Lebens behielt er immer ein Gefühl für seine ostjüdischen Wurzeln. Die Dichterin und Zeichnerin Else Lasker-Schüler nannte ihn in einem Gedicht den „hebräischen Rembrandt“.
Aus seinem Werk sprechen prophetische Träume von Frieden und Gerechtigkeit, die heute aktueller denn je sind. Wir reihen ihn ein in die große Zahl jüdischer Künstler, die einen festen Platz in der Geschichte der bildenden Künste haben: Camille Pissarro, Max Liebermann, Lesser Ury, Amedeo Modigliani, Marc Chagall, El Lissitzky, Chaim Soutine, Anatoli Kaplan, Felix Nussbaum, Heinrich Sussmann, R. B. Kitaj, Richard Serra, Herbert Sandberg, Lea Grundig, Leo Haas, Ingeborg Hunzinger und viele, viele andere. Müssen wir weitere 30 Jahre warten, ehe Jankel Adler wieder mit einer Ausstellung die Ehren erfährt, die ihm zustehen?
Dieser Text erschien in längerer Form in dem Band:
Peter Michel
Vor und hinter den Kulissen. Essays zur bildenden Kunst 2018 – 2020
Verlag Wiljo Heinen, 10,00 Euro
Erhältlich im UZ-Shop
Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung.