Energetische Freundschaft

Günter Pohl zur russisch-türkischen Annäherung

Einen Monat nach dem Putschversuch gegen die türkische AKP-Regierung um Präsident Recep Tayyip Erdogan ist noch immer offen, wer dahinter steckt. Ungeachtet dessen geht die Verfolgung und Bestrafung der Leute der rechten Gülen-Bewegung, von Erdogan als Drahtzieher festgelegt, weiter. Zudem stehen Kemalisten, aber auch Linke, Kurden und Aleviten aus dem In- und Ausland, unter physischem Druck von AKP-Leuten, die sich „Demokratiewächter“ nennen, aber deren ohnehin dünne Basis in der Türkei beseitigen wollen.

Fetullah Gülens Bewegung „Hizmet“ ist Fleisch vom Fleisch der AKP, mit der es nach Korruptionsvorwürfen gegen Erdogan vor drei Jahren zum Bruch kam; Fetullah Gülen tauchte in den USA unter.

Also beschuldigt Erdogan mit Gülen die USA. Mit denen teilt sich die Türkei die NATO-Mitgliedschaft genauso wie mit EU-Türsteher Deutschland; beide haben Soldaten und Kriegsgerät in der Türkei stationiert. Wenn nun die USA beschuldigt werden, über die Bande Gülen auf Putsch gespielt zu haben, und wenn der EU und Deutschland Angst mit einer Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens gemacht wird, wobei damit fast mehr deren Mitwisser- oder -täterschaft suggeriert denn das visumfreie Einreisen in die EU angemahnt wird – dann haben sich tatsächlich ein paar Koordinaten nachhaltig verschoben.

Bislang konnte die Türkei in jedwede Provokation geschickt werden, ob gegen den Irak, Syrien oder zuletzt die Russische Föderation; immer hätte bei entsprechender Antwort der NATO-Verteidigungsfall ausgerufen werden können, gar müssen. Der Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs im vergangenen Jahr konnte Europa also einen Krieg zwischen Russland und der NATO bringen. Da das nicht ernsthaft das Ziel war und man in Brüssel von Besonnenheit bei der russischen Regierung ausgehen konnte, reichte es den Provokateuren vielmehr einen Keil in sich entwickelnde Bezugspunkte zwischen den beiden Ländern zu schlagen.

Denn obwohl doch beide Seiten in ihrer Haltung zur Rechtmäßigkeit der syrischen Regierung eklatante Unterschiede haben und auf entgegengesetzten Seiten der Barrikaden stehen, sind andere Interessen groß genug, um sich angesichts gemeinsamer Feinde einer – solange die AKP regiert, gewiss temporären – Zweckfreundschaft zuzuwenden. Auch wenn Russland eine säkulare Türkei, die sich nicht gegen den Zusammenhalt Syriens engagiert, selbstverständlich lieber sähe.

Wem also nutzt es? Kriege „brechen“ nicht einfach „aus“, sondern haben politökonomische Interessen zur Grundlage. So ist das auch mit Aufständen gegen Regierungen. Daher ist das gemeinsame Gaspipeline-Projekt durch das Schwarze Meer unter mehreren Faktoren offensichtlich das Element, das die verschobenen Koordinaten gleichermaßen für die einen verursacht wie für die anderen trägt: gut für die Türkei und die Russische Föderation wegen der Gewinnbeteiligung am Transport, schlecht für die EU wegen der von Russland jetzt auch noch auf die Türkei erweiterten Energieabhängigkeit.

Freundschaften taugen nicht ohne ihre Antithese, und Feindschaften gebären regelhaft Zweckfreundschaften. Es wird nicht die letzte Wendung gewesen sein. Keile liegen genug herum.

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"Energetische Freundschaft", UZ vom 19. August 2016



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