Es ist ein guter Brauch, sich am Ende einer unentschiedenen Schachpartie die Hand zu reichen und ein kurzes Wort der Anerkennung zu verlieren. Als das letzte Duell des Kandidatenturniers in Toronto am Montag der vergangenen Woche im Remis endete, hatten sich die Kontrahenten Ungewöhnliches zu sagen. Nicht „Good Game“, sondern „Sorry“ war das erste Wort, das der russische Großmeister Jan Nepomnjaschtschi, kurz Nepo genannt, an seinen italienisch-amerikanischen Kontrahenten Fabiano Caruana richtete. Minutenlang blieben die beiden Elitespieler am Brett sitzen und diskutierten die wichtigsten Züge der Partie, vor allem die eigenen Fehler. „Es tut mir sehr leid“, betonte Nepomnjaschtschi noch einmal. „Mein Fehler“, entgegnete Caruana knapp und stand auf. Die beiden hatten eine nervenaufreibende Runde hinter sich gebracht, in der Nepo immer wieder in Schwierigkeiten geraten war. Über 109 Züge lang sahen Schachfans auf der ganzen Welt dabei zu, wie Caruana den Sieg dennoch aus der Hand gab. Unter Zeitdruck gelang es ihm mehrfach nicht, die richtigen Züge zu finden und die komplizierte Stellung zu seinen Gunsten aufzulösen. „Ich fühle mich wie ein Idiot“, sagte Caruana in der anschließenden Pressekonferenz.
Das Remis zwischen Nepo und Caruana sicherte dem 17-jährigen Inder Dommaraju Gukesh den Turniersieg und damit das Recht, den kommenden Weltmeisterschaftskampf gegen Ding Liren aus China zu bestreiten. Gukesh war auf Platz 1 in die Finalrunde gestartet und rettete seinen halben Punkt Vorsprung auf Caruana, Nepo und den US-Amerikaner Hikaru Nakamura ins Ziel. Auf Letzteren traf er an diesem Tag im direkten Duell. Nakamura ist einer der populärsten Schachspieler der Welt. Hunderttausende verfolgen seine Schachstreams im Internet, schauen zu, wie der Großmeister spielt und zugleich kommentiert. Häufig geschieht das in atemberaubender Geschwindigkeit bei sogenannten „Bullet-Partien“ mit Bedenkzeiten von weniger als drei Minuten. Nun traf er mit seiner jahrelangen Erfahrung an der Weltspitze und einem risikofreudigen Angriffsstil auf den jungen Inder – und biss sich die Zähne aus. Der Amerikaner eröffnete mit dem Damengambit und versuchte danach, die Stellung kompliziert zu halten. Doch Gukesh behielt die Nerven, leistete sich keine Fehler und hinderte Nakamura die ganze Partie über daran, vorteilhafte Stellungen herauszuarbeiten. Am Ende stand ein ungefährdetes Remis.
Gukesh ist damit der jüngste WM-Herausforderer aller Zeiten. Schon mit zwölf Jahren erreichte er den Rang eines Großmeisters. Im vergangenen Jahr stieg er zum stärksten Schachspieler Indiens auf. Der spektakuläre Sieg in Toronto fügte seiner Karriere nun einen weiteren Höhepunkt hinzu. „Die stressigsten 15 Minuten des Turniers“, urteilte der junge Inder im Anschluss über die Zeit, in der er gezwungen war, sich das Auf und Ab zwischen Nepo und Caruana anzuschauen. Hätte einer der beiden gewonnen, wäre es zum Stechen gekommen. Doch das Remis beendete das Turnier, das seinen Teilnehmern über drei Wochen lang alles abverlangt hatte. Die Rekorde rund um seine bemerkenswerte Jugend, das machte Gukesh deutlich, spielen für ihn keine Rolle. „Ich freue mich jetzt darauf, das WM-Match zu spielen“, erklärte er im Anschluss an seinen Turniersieg.
Dennoch begannen sofort die „Wunderkind“-Gesänge in den deutschen Zeitungen, erschienen lange Artikel über die „kommende Supermacht im Schach“ Indien. Endlich hatte die Schachpresse hierzulande wieder eine Geschichte zu erzählen. Vorbei waren die trostlosen Monate nach dem Rückzug des ehemaligen Weltmeisters Magnus Carlson. Zur vergangenen WM, in der mit Nepo und Ding Liren ein Russe und ein Chinese gegeneinander spielten, fiel den westlichen Schreiberlingen nur wenig ein, trotz eines packenden und emotionalen Duells. Jetzt läuft die Narrativmaschine wieder. Doch auf das joviale Schulterklopfen sind weder Gukesh noch sein Land angewiesen. Indien gehört seit vielen Jahren zu den stärksten Schachnationen, stellte mit Viswanathan Anand schon einen äußerst populären Weltmeister.
Weitestgehend unterschlagen wurde bei all dem Jubel, dass in Toronto noch ein zweites großes Schachereignis stattfand: Das Kandidatenturnier der Frauen. Ein Blick in die Teilnehmerliste genügt, um das Schweigen der deutschen Presse zu erklären: der Großteil der Teilnehmerinnen kam aus Indien, China und Russland. Am Ende setzte sich die ehemalige Schachweltmeisterin Tan Zhongyi aus China durch. Tan blickt auf bemerkenswerte Erfolge zurück: Zweimal gewann sie die U10-Jugendweltmeisterschaft, einmal siegte sie in der Kategorie U12. Mit gerade einmal 17 Jahren spielte sie um ihre erste Frauenweltmeisterschaft, unterlag jedoch in der zweiten Runde. Sie wird im kommenden Jahr gegen die chinesische Weltmeisterin Ju Wenjun antreten. Auch sie war erst 17 Jahre alt gewesen, als sie China zum ersten Mal bei der Schacholympiade vertrat. Man sieht, die Schachwelt ist nicht arm an Wunderkindern – aber nicht alle werden gleichermaßen ins Rampenlicht gerückt.