Peter Gingold schildert in seinem Buch „Paris – Boulevard St. Martin No. 11“ die Befreiung von Paris

Endlich Befreiung!

Peter Gingold

Die Befreiung von Paris 1944 beginnt Mitte August mit einem Generalstreik. Bald darauf kommen die französischen Widerstandskämpfer aus ihren Verstecken und wagen den offenen Kampf gegen die deutschen Truppen. Am 19. August erhebt sich die Bevölkerung gegen die deutschen Besatzer. Alliierte Truppen werden zur Unterstützung der Widerstandskämpfer nach Paris entsandt. Am 26. August findet eine große Siegesparade in Paris statt. Wir dokumentieren aus diesem Anlass einen Auszug aus Peter Gingolds „Paris – Boulevard St. Martin No. 11“, indem er seine Zeit in der Résistance schildert. Wir danken dem PapyRossa Verlag für die Nachdruckerlaubnis.

Ein Jubelschrei! Aus dem Rundfunk erfuhren wir von der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944. Endlich begann die so lang ersehnte Eröffnung der Zweiten Front. Ich kann unsere Gefühle nicht beschreiben. Welch eine Hoffnung, damit das Ende des Krieges, die Befreiung zu erleben! Wie fieberten wir dann mit jedem Tag: Schaffen sie es, den Brückenkopf zu halten? Über uns immer mehr Kampfflugzeuge, die Bomben abwarfen, die ganz in unserer Nähe einschlugen. Von unserem Häuschen aus konnte ich Otto Niebergalls (Verbindungsmann der KPD zur Résistance, Anm. d. Red.) illegales Quartier neben der Brücke über die Oise sehen. An einem Morgen flogen wieder die Bomber über uns. Ich beobachtete sie und sah zu meinem Entsetzen eine auf die Brücke gezielte Bombe direkt auf das kleine Häuschen unseres Chefs fallen. Mit der Schippe in der Hand lief ich wie verrückt zum Häuschen, nach wenigen Minuten war ich dort und dachte, ich müsste ihn ausgraben: Wie atmete ich auf, als ich sah, dass das Häuschen stand, Otto Niebergall unversehrt war und sich nur vom Schrecken erholen musste.

BBC-London meldete trotz großer Verluste bei der Eroberung des Brückenkopfs Erfolge, was immer die Wehrmacht entgegenzusetzen vermochte. Es ist nicht zu beschreiben, wie gespannt wir dem dumpfen Klopfen aus Beethovens 5. Symphonie, dem Erkennungszeichen von BBC-London, lauschten, wie wir die Meldungen über den Vormarsch der alliierten Truppen in der Normandie buchstäblich aufsaugten. Nun wurde mehr und mehr zur Wirklichkeit, was wir so sehnlichst erträumt hatten. Der Tag unserer Befreiung näherte sich. In unserer Zeitung „Volk und Vaterland“ war die Hauptlosung: „Macht jetzt Schluss mit Hitler und seinem Krieg! Rettet von Deutschland, was noch zu retten ist, vor allem Euer Leben!“ Und wir teilten die Wahrheit über die Kriegssituation mit. Gerade jetzt brauchten die Wehrmachtssoldaten unsere Informationen. Jetzt konnten diese ihre Wirkung entfalten, denn längst war der Nimbus der Unbesiegbarkeit der deutschen Wehrmacht verflogen. Von Otto Niebergall erfuhr ich von seinem Kontakt zu Oberstleutnant Caesar von Hofacker im Stab des in Paris ansässigen Militärbefehlshabers West der Wehrmacht. Er sei grundsätzlich einverstanden mit unserer Losung: Bewaffneter, geordneter Rückmarsch der deutschen Truppen aus Frankreich hinter die deutsche Reichsgrenze, um Hitler zu stürzen und allen mit Deutschland im Krieg befindlichen Ländern den Frieden anzubieten.

Das geheime Treffen zwischen Hof­acker und Otto Niebergall fand in einer Villa im Pariser Stadtteil Neuilly statt. Interessant ist, wie der Kontakt zwischen beiden eigentlich zustande kam. Es gehörte zu den wichtigsten Aufgaben der TA (Travail allemand, Sektor der Résistance, Anm. d. Red.), für die Résistance Kontakte mit Angehörigen der Wehrmacht herzustellen, die eventuell die Résistance unterstützen würden. Diese Aufgabe konnten nur unsere Frauen und Mädchen leisten. Für mich wäre es ein reiner Zufall gewesen, im Gespräch mit einem Soldaten oder Offizier auf einen Hitler-Gegner zu stoßen. Die deutschen Soldaten schauten sich nach Mädchen um, doch für eine Französin wäre es eine Schande gewesen, sich mit einem von ihnen einzulassen. So nahmen unsere Mädchen Kontakt auf und versuchten im Gespräch, seine Gesinnung herauszufinden. Gegenüber einem Mädchen machte ein Soldat aus seinem Herzen keine Mördergrube. Erst dann, wenn sie heraushörten, dass er kriegsmüde war und gegen den Krieg und Hitler eingestellt, haben sie sich mit ihm wieder verabredet und auch ein Flugblatt oder eine Zeitung von uns gezeigt, das sie angeblich auf der Straße gefunden hatten. Waren unsere Mädchen überzeugt, dass der deutsche Wehrmachtsangehörige tatsächlich gegen die Nazis war, dann haben sie sich offenbart und ihn aufgefordert, die Résistance zu unterstützen. Das war jetzt in der veränderten Kriegssituation möglich, wo der Glaube an den Endsieg geschwunden war, die Bomben auf die Heimatstädte fielen und sich die Niederlagen an der Ostfront häuften. Die Wehrmachtsangehörigen, die in diesem Land ein wunderschönes Leben wie „Gott in Frankreich“ geführt hatten, fürchteten nun nur eines, nämlich an die Ostfront und damit in den Tod geschickt zu werden. Da war objektiv die Situation gegeben, sie zu gewinnen. Und unsere Mädchen haben nicht wenige von ihnen gewinnen können.

3110 732px Peter Gingold - Endlich Befreiung! - Antifaschismus, Befreiung von Paris, Peter Gingold, Résistance - Theorie & Geschichte
Peter Gingold (Foto: TuPG / Wikimedia Commons / CC BY-SA 2.0 DE / Bearbeitung: UZ)

Ich singe das Hohe Lied auf unsere Frauen und Mädchen. Was sie unter ständigem Einsatz ihres Lebens geleistet haben! Eines unserer wunderschönen Mädchen, es war eine deutschsprachige Ungarin, fand auf diese Weise die Verbindung zu dem Fahrer von Oberstleutnant Cäsar von Hofacker. Alle unsere Flugblätter und Zeitungen, die er nun erhielt, gab er seinem Chef weiter, dessen Gesinnung er kannte. Über seinen Chauffeur ließ Hofacker mitteilen, dass er Kontakt mit dem Verantwortlichen der deutschen Gruppe in der Résistance wünsche. Er hatte Monate später am 20. Juli 1944, am Tag des Attentats der Offiziere auf Hitler, bereits in Paris die gesamte SS und Gestapo verhaften lassen und wollte den Rückmarsch beginnen – auch dann noch, als bereits klar war, dass das Attentat auf Hitler gescheitert war. Er hatte aber die Kommandantur gegen sich, die zunächst hierzu bereit gewesen war, sich aber feige zurückzog, als die Meldung kam, dass Hitler überlebt hatte. Oberstleutnant Cäsar von Hofacker wurde verhaftet und später hingerichtet. (…)

Dann kam, was wir seit der Landung der Alliierten und ihren Erfolgen täglich erwartet haben: Der Aufruf zum Aufstand. Otto Niebergall und ich schnappten unsere Fahrräder und rollten, so schnell wir konnten, nach Paris. Je mehr wir uns Paris näherten, umso mehr Aufständischen begegneten wir, gekennzeichnet mit einem blau-weiß-roten Armband mit den Buchstaben F. F. I. („Forces Françaises de l’Intérieure“ – Französische Streitkräfte des Innern). Und dann sahen wir schon die Trikolore aus Fenstern heraus flattern. Welch unbeschreibliches Gefühl! In Paris befanden wir uns mitten im Aufstand. In den wichtigsten Durchgangsstraßen, den Boulevards, waren Barrikaden errichtet, Männer, Frauen und Kinder hatten alles Mögliche zum Bau der Barrikaden herbeigeschleppt. Bäume wurden zum Errichten der Barrikaden gefällt, die voraussichtlich nicht den Panzern standhalten würden.

Otto Niebergall legte für uns Deutsche den Treffpunkt fest, wo wir uns regelmäßig treffen sollten, um unseren Einsatz zu besprechen. Jetzt lernte ich zahlreiche andere Genossen kennen, mit denen ich vorher nie Berührung gehabt hatte, und wir bildeten kleine Gruppen. Eine unserer wichtigsten Aufgaben war, in Absprache mit der Leitung des Aufstandes als Parlamentäre der FFI mit weißen Fahnen zu versuchen, zu den eingekesselten deutschen Streitkräften zu gelangen, um sie zur Aufgabe zu bewegen. Mit einer Ausnahme haben wir das jedoch nirgendwo geschafft. Meist waren unsere Parlamentäre froh, wieder heil aus dem Kessel zurückzukommen. Ich versuchte es am Palais du Luxembourg, kam aber nicht voran, weil keine Feuerpause eintrat, bis schließlich das Palais gestürmt wurde, so dass die Eingekesselten nun doch in Gefangenschaft gerieten. Fortwährend versuchten sie, mit Panzern auszubrechen, vorzustoßen und walzten dabei manche Barrikade nieder. Mehrere Panzer wurden mit Molotowcocktails in Brand gesetzt. Viele Soldaten fanden den Tod, es gab aber auch viele Tote unter den Aufständischen. Der Aufstand wurde besonders durch die französische Polizei unterstützt, die als erste den Aufruf zum Generalstreik befolgte.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, die ganze Geschichte des Pariser Aufstandes niederzuschreiben. Der Generalsekretär des „Komitees der Bewegung Freies Deutschland“, der spätere Schriftsteller Harald Hauser, den ich dort kennenlernte, wollte im Auftrag des Komitees einen Appell in deutscher Sprache über Radio Paris an die Eingekesselten richten. Mit unseren Fahrrädern, nur damit konnten wir uns in Paris bewegen, machten wir uns auf den Weg zum Radio. Ich begleitete ihn. Als wir die Seine überquerten, wurden wir von einem Panzer beschossen. Wir konnten uns nur dadurch retten, dass wir die Räder hinwarfen, in der Deckung der Brückenbrüstung auf die andere Seite hinüberkrochen, in einem Hauseingang Schutz suchten und abwarteten, bis der Panzer wieder abdrehte. Daraufhin habe ich kriechend die beiden Räder geholt und dann setzten wir den Weg fort. Noch bevor Harald Hauser seinen Aufruf verbreiten konnte, war Paris befreit. Die amerikanischen Truppen standen noch weit vor den Toren von Paris. Einer französischen Panzereinheit unter General Leclerc gelang es, von Süden her nach Paris einzudringen. Sie wurde mit Blumen überschüttet, bejubelt von der Bevölkerung, die Soldaten von den jungen Mädchen abgeküsst. Der Kommandant der deutschen Streitkräfte, General Dietrich von Choltitz, kapitulierte. Er wurde unter dem Siegesjubel der Bevölkerung von der FFI in Gefangenschaft genommen. Tags darauf nahm der Kommandant des Pariser Aufstandes, der Kommunist Henri Rol-Tanguy, die Kapitulationsurkunde entgegen.

Aber es fanden auch entsetzliche Szenen von Selbstjustiz gegenüber Kollaborateuren statt. Da entlud sich der Zorn gegen die Verräter. Das war grässlich. Mädchen, denen – umringt von Johlenden – auf der Straße die Haare abgeschnitten wurden, manche bekamen noch ein Hakenkreuz aufgemalt. Das taten in keinem Fall die Résistancekämpfer. Bei einem Volksaufstand kommt immer auch ein Teil des Pöbels hoch, der nach dem Sieg seinen Heldenmut bezeugen will.

Viele, die wir als „les résistants de la dernière minute“ bezeichneten, die Widerstandskämpfer der letzten Minute; und auch solche Offiziere, die jetzt in ihren Uniformen herumliefen, die wir „les naphtalines“ nannten. Damit meinten wir jene, die bis dahin nichts getan hatten, nun aber dabei sein wollten und aus ihren Schränken ihre Uniformen herausholten, die nach Mottenpulver rochen.

Dann kam der Einmarsch der amerikanischen Truppen. Sie wurden von den Massen jubelnd umarmt, fast erdrückt. Unbeschreiblich mein Hochgefühl, als ich mit Freudentränen am Straßenrand stand. Der Einmarsch von General de Gaulle. Und ich stand unter Hunderttausenden Jubelnden auf den Champs-Elysées. Paris libre! Paris libre!

Peter Gingold
Paris – Boulevard St. Martin No. 11. Ein jüdischer Antifaschist und Kommunist in der Résistance und der Bundesrepublik
6. Auflage, erschienen im Juli 2019, 14,90 Euro
Zu bestellen im UZ-Shop

Peter Gingold (1916 – 2006) war einer der profiliertesten jüdischen Widerstandskämpfer und Kommunisten in der Bundesrepublik. Besonders seit den 70er Jahren trat er als Redner auf politischen Kundgebungen gegen Naziaufmärsche und als Zeitzeuge in Schulen und bei Jugendgruppen auf. Er berichtete über die Zeit des aufkommenden Faschismus in Deutschland, Exil in Frankreich und Widerstand in den Reihen der Résistance (Illegalität, politische Agitation unter deutschen Besatzungssoldaten, Flucht aus den Fängen der Gestapo und Teilnahme am Aufstand zur Befreiung von Paris 1944). Den 8. Mai 1945 erlebte er in Turin mit der italienischen Resistenza. Zurückgekehrt nach Deutschland, gestaltete er dort den politischen Neuanfang aktiv mit, musste jedoch erleben, wie er und seine Familie danach fast zwei Jahrzehnte der erneuten Verfolgung, der Ausbürgerung und des Berufsverbots erlebten. Seine Maxime: „Nie aufgeben!“

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Endlich Befreiung!", UZ vom 30. August 2024



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit