Endkampfstimmung

Klaus Wagener über den Brexit

Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Die Brexit-Gegner hoffen, den britischen Ausstieg aus Deutsch-Europa auf der Zielgeraden doch noch abfangen zu können. In diesem mit Finten und taktischen Finessen reich gespickten Spiel steigen die Chancen der „Remainer“, nun auch Boris Johnsons Brexit-Versuch torpedieren zu können. Nach der Verschiebung der Abstimmung am Samstag letzter Woche hat der „Speaker“ des Parlaments, John Bercow, am Montag keine weitere Abstimmung über den mit der EU ausgehandelten Vertrag zugelassen. Bis zum 31. Oktober sind es nur noch wenige Tage. Ob es am Donnerstag eine Abstimmung gab und sie ausging, ist zu Redaktionsschluss völlig unklar. Doch so viel ist sicher: Die heiße Phase des Kampfs um den Brexit hat begonnen.

Die Kräfte sind dabei reichlich ungleich verteilt. Das komplette EU-Establishment vermint das Brexit-Gelände ebenso wie das britische Parlament. Die Bevölkerung der britischen Insel hat zwar mehrheitlich für den Brexit gestimmt, aber demokratische Voten interessieren bekanntlich nur, wenn die Ergebnisse den Herrschenden in den Kram passen. Und das ist hier ganz offensichtlich nicht der Fall.

In der letzten Woche hatte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker verkündet. „Wir haben einen Deal.“ Vor allem für die deutsche Industrie ist Großbritannien ein wichtiges Exportziel. Deutschland erzielt hier große Handelsüberschüsse, deshalb darf dieser Markt nicht verloren gehen. Um einen drohenden No-Deal-Brexit zu verhindern, war man in Brüssel dann doch zu Zugeständnissen bereit.

Ambivalent macht den Brexit, dass es sich um einen Krieg an der falschen Front handelt. Die sozialökonomischen Probleme Großbritanniens sind nur begrenzt durch die Mitgliedschaft in der EU verursacht. Britannien leidet unter der neoliberalen Offensive von Margaret Thatcher, Tony Blair und den anderen Ausverkäufern. Das zu sagen traut sich niemand. Auch Labour hat seit Blair seinen Frieden mit der neoliberalen Gegenreformation gemacht. Stattdessen wird um den Austritt Großbritanniens aus der EU mit den falschen Argumenten gestritten.

Das Märchen von der EU als europäischer Friedensmacht war immer verlogen. Mit der ausgemauschelten EU-Chefin von der Leyen wird die Militarisierung Deutsch-Europas massiv voranschreiten. Wer eine „strategische Autonomie“ Europas fordert, will in Zukunft eigenständig bomben und schießen können – das bestätigt aktuell auch Frau Kramp-Karrenbauer. Der Brexit schwächt dieses Projekt des europäischen, aber vor allem des deutschen Expansionismus. Die Briten sind eine starke, wenn nicht die stärkste Militärmacht Europas. Sie nicht dabei zu haben, schränkt die deutsch-europäischen Möglichkeiten deutlich ein. Unter dieser Prämisse kann man Boris Johnson nur Erfolg wünschen.

Dazu kommt, dass die ökonomischen Perspektiven, welche die EU zu bieten hat, eher zum Abgewöhnen sind. Seit der Krise 2007 ff. gibt es brutale Austeritätsprogramme und die Wirtschaft hängt am Geldtropf der Zen­tralbanken. Nun kehrt die Krise zurück. Europa steht vor einer Rezession. In dieser Lage wehrlos an den notorischen Merkantilisten Deutschland gekoppelt zu sein ist auch nicht das, was man sich so wünscht.

Schließlich könnte mit dem Brexit – ungewollt – auch der jahrhundertealte Kolonialismus auf der irischen Insel überwunden werden. Zumindest tendenziell. Wie Boris Johnson richtig erkannt hat, ist die Herrschaft über die nordirische Bevölkerung von 1,8 Millionen mit einem BIP von 43 Milliarden Dollar für Britannien nicht wirklich wichtig. Mit der Verlegung der Zollgrenze in die Irische See und der Annäherung der Standards würden sich die Verhältnisse auf der irischen Insel aufeinander zu und zwischen Irland und Britannien voneinander weg entwickeln. Es ist eine Perspektive, die, nach 800 Jahren, ein vereinigtes, souveränes Irland zumindest als denkbar erscheinen lässt.

Das wäre ja schon mal was.

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"Endkampfstimmung", UZ vom 25. Oktober 2019



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