Für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanahu war es das perfekte Timing: Für den Samstagabend hatte Oppositionspolitiker und Minister ohne Portfolio Benjamin Gantz zur Pressekonferenz eingeladen, das Thema sollte vermutlich sein Rücktritt aus dem Kriegskabinett sein. Im Laufe des Tages jedoch konnte das israelische Militär die Befreiung von vier Geiseln melden. Mehr als 200 palästinensische Zivilisten wurden im Zuge der Aktion getötet. Netanjahus Politik, der Krieg bis zum totalen Sieg, erhielt Auftrieb. Gantz ließ die Pressekonferenz verschieben – am Sonntag erklärte er dennoch seinen Rücktritt aus dem Kriegskabinett.
Das Kriegskabinett war am 11. Oktober 2023 gebildet worden. Die Oppositionspartei der „Nationalen Einheit“ trat in die Regierung ein und schuf damit das Bild einer geschlossenen Front Israels gegen den Angriff der Hamas. Zugleich übernahmen Gantz und drei weitere als Beobachter vertretenen Politiker Mitverantwortung für die Regierungspolitik. Je länger der Krieg andauerte, umso lauter wurde aber die Kritik auch aus dem Kriegskabinett. Vor allem der frühere Generalstabschef Gadi Eizenkot – sein Sohn und ein Neffe waren in Gaza gefallen – widersprach Netanjahus Konzept des Krieges bis zum totalen Sieg.
Im Mai schließlich stellte Gantz ein Ultimatum. Entweder sechs Forderungen würden bis zum 8. Juni erfüllt, oder er würde das Kriegskabinett verlassen. Vier der Forderungen hätten von Netanjahu sein können: „Zerstörung der Hamas und Demilitarisierung des Gaza-Streifens“, „Rückkehr der Geiseln“, „Normalisierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien“, „Rückkehr der Einwohner in den Norden Israels“. Nur in zwei Punkten unterschieden sich die Forderungen von Gantz ernsthaft von der Politik Netanjahus: er verlangte ein Konzept für eine Regierungsbildung in Gaza „am Tag danach“, also nach der angestrebten Zerstörung der Hamas.
Und er verlangte die Pflicht zu einer nationalen Dienstpflicht für alle. Bisher gab es nur die allgemeine Wehrpflicht; Haredis – ultra-orthodoxe junge Männer – waren davon ausgenommen.
1.000 von ihnen dienten vor dem 7. Oktober als Freiwillige im Militär, danach stieg ihre Zahl auf 3.000. Viel zu wenige im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung (12 Prozent) und viel zu wenige angesichts des Personalbedarfs der Armee. Die Regierung, die auch auf die Stimmen der religiösen Rechten angewiesen ist, verweigerte jedoch die Umsetzung klarer Forderungen des Obersten Gerichtshofes.
Auch nach der Befreiung von vier Geiseln wandten sich Zehntausende in Demonstrationen in Tel Aviv, Haifa, Caesarea, Jerusalem und anderen Städten gegen Netanjahus Krieg bis zum totalen Sieg. Sie forderten Verhandlungen zur Befreiung der Geiseln – und Neuwahlen.
Oppositionsführer Yair Lapid verlangt ein Ende dieser „extremen Regierung“. Auch Gantz will Neuwahlen und fordert von Verteidigungsminister Joaw Gallant, „das Richtige“ zu tun. Also die Regierung zu verlassen, um Neuwahlen zu erreichen. Es wäre die sechste Wahl in Israel seit 2019.
Mit der Resolution des UN-Sicherheitsrates für einen Waffenstillstand kommt ein Ende der Kämpfe in greifbare Nähe. Sie gibt einen Rahmen vor, der zentrale Forderungen der Hamas berücksichtigt: Zunächst sollte die Rückkehr der Einwohner in alle Gebiete in Gaza ermöglicht werden, die israelische Armee sollte sich aus den Bevölkerungszentren zurückziehen. Wiederaufbau und andauernder Waffenstillstand wäre das Ergebnis eines Austauschs aller Geiseln in einer zweiten Phase der Umsetzung. Die Hamas begrüßt die Resolution, doch bleibt vieles im Ungefähren und muss noch verhandelt werden. Deshalb enthielt sich Russland nach eigenen Angaben bei der Abstimmung. Bis Redaktionsschluss gab es noch keine eindeutige Stellungnahme der israelischen Regierung. Sollte es zu einem Waffenstillstand kommen, erscheint auch ein baldiges Ende der Regierung Netanjahu möglich.