In Afghanistan haben NATO und USA mehr verloren als einen Krieg

Ende der Überlegenheit

Es ist eine Niederlage von epischen Dimensionen. In Afghanistan ist weit mehr für den „Westen“ verlorengegangen als der 40-jährige Krieg um das Land. Das Chaos beim fluchtartigen Abzug der Truppen, bei der Evakuierung der Botschaften und der Mitnahme der Kollaborateure ist nur das äußere Anzeichen eines tiefen Verfalls. Dieser Verfall umfasst, neben dem der operativen militärischen Macht des „Westens“ auch einen Verfall der Integrität seiner politischen Eliten, ihrer strategischen Fähigkeiten sowie den der Erzählung von der Überlegenheit der liberalen, wertebasierten Ordnung, von Demokratieexport und Nation-Building. Der Sieg der Taliban in nur elf Tagen macht überdeutlich: Die Afghanen, die Menschen der gesamten Region, haben vom hochgepriesenen „Wertewesten“ mit seinen Drohnenattacken, den Bombenkampagnen, den nächtlichen Razzien, den „extralegalen Tötungen“ und der CIA-Heroin-Rattenlinie wortwörtlich „die Schnauze voll“.

Die Bundeswehr war von Anfang an dabei. Unvergessen der damalige Kriegsminister Peter Struck, der sich nicht entblödete, die „Sicherheit Deutschlands“ auch „am Hindukusch“ verteidigen zu wollen. Das war natürlich ebenso Unsinn wie das Bohren von Brunnen, der Bau von Mädchenschulen oder die anderen PR-Plattitüden. Hätte man Afghanistans Weg in die Moderne unterstützen wollen, hätte man 1979 nicht das islamistische Mittelalter, sondern, wie die Sowjetunion, die Saur-Revolution unterstützen müssen. In dieser kurzen Phase gab es tatsächlich so etwas wie einen Lichtblick: Die Hoffnung, die postfeudalen Machtstrukturen hinter sich zu lassen und in ein neues demokratisches, modernes, prosperierendes Gesellschaftssystem mit Gleichberechtigung der Geschlechter, mit einer wirklichen Landreform und der Vergesellschaftung der Infrastruktur und Basisökonomien aufbrechen zu können. Diese Chance ist in den 1980er Jahren durch die CIA-Operation „Cyclone“ zerstört worden – in Zusammenarbeit mit den Erzreaktionären Pakistan, Saudi-Arabien und Israel. Der US-Krieg gegen Afghanistan begann nicht 2001, sondern 1979. „Operation Cyclone“ hat nicht nur die Saur-Revolution zerstört, sondern auch die Taliban, Al-Kaida und den IS produziert und hochgerüstet. Sie wurden überall dorthin exportiert, wo der islamistische Terror gebraucht wurde, wie in Syrien, Libyen, Irak oder Bosnien-Herzegowina. Zwischen US-Terrorbekämpfung und US-Terrorförderung besteht ein zynisches Doppelspiel.

Nicht nur die Kriegsverbrecher Ronald Reagan, George W. Bush, Barack Obama und Tony Blair haben massenhaft Blut an den Händen, auch Gerhard Schröder und Angela Merkel stecken knietief im afghanischen Kriegssumpf. Hunderttausende sind ermordet worden. Auch Frauen, auch Kinder, deren unglückliche Zukunft nun mit Krokodilstränen beweint wird. Das Morden am Hindukusch hat nicht mit dem Einzug der Taliban in Kabul vor wenigen Tagen begonnen, wie die „westliche“ Propagandamaschine uns nun glauben machen will, sondern vor vierzig Jahren mit der Erschaffung des islamistischen Monsters.

Die imperiale Kriegsmaschine hat ein Leichen- und Trümmerfeld hinterlassen. Was Afghanistan, was die gesamte vom „War on Terror“ gebeutelte Region braucht, ist ein konstruktives Aufbauprogramm. Russland und China bemühen seit geraumer Zeit intensiv um einen pragmatischen Neuansatz, der verhindern soll, dass Afghanistan zerfällt und wieder einen Rückzugsraum für den Terror bietet. Dieser Ansatz bietet die Chance auf Einbeziehung des Landes in die eurasische Integration, die Shanghai-Kooperation, in das Seidenstraßenprojekt und in viele andere Aufbau- und Sicherheitsstrukturen. Ökonomische, technologische und soziale Entwicklung ist immer noch die beste Möglichkeit, für Sicherheit und Fortschritt am Hindukusch zu sorgen.

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"Ende der Überlegenheit", UZ vom 27. August 2021



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