Vor 500 Jahren erhoben sich die Bauern in Deutschland. Aus diesem Anlass drucken wir in UZ Friedrich Engels’ Werk „Der deutsche Bauernkrieg“ in Auszügen ab. In den ersten beiden Teilen (UZ vom 6. September und 18. Oktober) ging es um die soziale Lage zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte hatte sich das feudalistische System ökonomisch überlebt. Seinen widersprüchlichen Ausdruck fand dies in der Stärkung der Fürsten und der katholischen Kirchen, die ihren Reichtum vermehrten, indem sie den Rest der Gesellschaft ausplünderten und im Überfluss lebten. Die Rolle der Städte und der dortigen Produktion gewann immer mehr Bedeutung. Es bildete sich das Bürgertum und mit ihm die Spaltung der städtischen Gesellschaft heraus. Die Bauern waren als Leibeigene oder Hörige dem Adel und der Kirche, teilweise auch den Städten, vollkommen ausgeliefert. Sie trugen die gesamte Last der Gesellschaft auf ihren Schultern. In den Städten bildeten die reichen Kaufleute und Handwerker die Oberschicht. Sie gewannen zunehmend ökonomische Macht. Sie vereinten in ihren Händen auch die politische Macht der Städte und wollten diese ausdehnen.
Dem standen vor allem die Kirche mit ihren Privilegien und die Fürsten entgegen. Gegen die Patrizier standen sowohl die gemäßigten Bürger als auch die städtischen Unterschichten, die Plebejer. Im Interesse der ersten lag ebenfalls eine Zurückdrängung der Kirche. Zusätzlich forderten sie ihren Anteil an der städtischen Macht. Für die Bauern und Plebejer war durch den Übergang der politischen Macht von einer herrschenden Klasse an eine andere nichts zu gewinnen. Trotz der sich erst gerade entwickelnden kapitalistischen Produktionsverhältnisse blickten sie schon über diese hinaus. Das hatte auch mit der einzig möglichen ideologischen Verarbeitung der gesellschaftlichen Widersprüche zu tun: Die Bibel war die einzig zur Verfügung stehende weltanschauliche Grundlage. So erscheinen die Klassenkämpfe zu dieser Zeit als theologische Auseinandersetzungen. Bei der sich der Reformator Luther auf die Bibel berief, wie der Revolutionär Müntzer, der jene Stellen der Bibel hervorhob, mit denen sich ein Herauswachsen der frühbürgerlichen Revolution in eine soziale Revolution begründen ließ. Die Produktivkräfte waren allerdings noch nicht reif für die Gütergemeinschaft.
Die revolutionäre Opposition gegen die Feudalität geht durch das ganze Mittelalter. Sie tritt auf, je nach den Zeitverhältnissen, als Mystik, als offene Ketzerei, als bewaffneter Aufstand. Was die Mystik angeht, so weiß man, wie abhängig die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts von ihr waren; auch Müntzer hat viel aus ihr genommen.
Die Ketzerei der Städte – und sie ist die eigentlich offizielle Ketzerei des Mittelalters – wandte sich hauptsächlich gegen die Pfaffen, deren Reichtümer und politische Stellung sie angriff. Wie jetzt die Bourgeoisie ein gouvernement à bon marché, eine wohlfeile Regierung fordert, so verlangten die mittelalterlichen Bürger zunächst eine eglise à bon marché, eine wohlfeile Kirche. Der Form nach reaktionär, wie jede Ketzerei, die in der Fortentwicklung der Kirche und der Dogmen nur eine Entartung sehen kann, forderte die bürgerliche Ketzerei die Herstellung der urchristlichen einfachen Kirchenverfassung und Aufhebung des exklusiven Priesterstandes. Diese wohlfeile Einrichtung beseitigte die Mönche, die Prälaten, den römischen Hof, kurz alles, was in der Kirche kostspielig war. Die Städte, selbst Republiken, wenn auch unter dem Schutz von Monarchen, sprachen durch ihre Angriffe gegen das Papsttum zum ersten Male in allgemeiner Form aus, dass die normale Form der Herrschaft des Bürgertums die Republik ist. Ihre Feindschaft gegen eine Reihe von Dogmen und Kirchengesetzen erklärt sich teils aus dem Gesagten, teils aus ihren sonstigen Lebensverhältnissen.
Gemeine Ketzerei
Einen ganz verschiedenen Charakter hatte die Ketzerei, die der direkte Ausdruck der bäurischen und plebejischen Bedürfnisse war und sich fast immer an einen Aufstand anschloss. Sie teilte zwar alle Forderungen der bürgerlichen Ketzerei in Betreff der Pfaffen, des Papsttums und der Herstellung der urchristlichen Kirchenverfassung, aber sie ging zugleich unendlich weiter. Sie verlangte die Herstellung des urchristlichen Gleichheitsverhältnisses unter den Mitgliedern der Gemeinde und seine Anerkennung als Norm auch für die bürgerliche Welt. Sie zog von der „Gleichheit der Kinder Gottes“ den Schluss auf die bürgerliche Gleichheit und selbst teilweise schon auf die Gleichheit des Vermögens. Gleichstellung des Adels mit den Bauern, der Patrizier und bevorrechteten Bürger mit den Plebejern, Abschaffung der Frondienste, Grundzinsen, Steuern, Privilegien und wenigstens der schreiendsten Vermögensunterschiede waren Forderungen, die mit mehr oder weniger Bestimmtheit aufgestellt und als notwendige Konsequenzen der urchristlichen Doktrin behauptet wurden.
Die Plebejer waren damals die einzige Klasse, die ganz außerhalb der offiziell bestehenden Gesellschaft stand. Sie befand sich außerhalb des feudalen und außerhalb des bürgerlichen Verbandes. Sie hatte weder Privilegien noch Eigentum; sie hatte nicht einmal, wie die Bauern und Kleinbürger, einen mit drückenden Lasten beschwerten Besitz. Sie war in jeder Beziehung besitzlos und rechtlos; ihre Lebensbedingungen kamen direkt nicht einmal in Berührung mit den bestehenden Institutionen, von denen sie vollständig ignoriert wurden. Sie war das lebendige Symptom der Auflösung der feudalen und zunftbürgerlichen Gesellschaft und zugleich der erste Vorläufer der modern-bürgerlichen Gesellschaft.
Ferne Zukunft
Aus dieser Stellung erklärt es sich, warum die plebejische Fraktion schon damals nicht bei der bloßen Bekämpfung des Feudalismus und der privilegierten Pfahlbürgerei stehenbleiben konnte, warum sie, wenigstens in der Phantasie, selbst über die kaum empordämmernde modern-bürgerliche Gesellschaft hinausgreifen, warum sie, die vollständig besitzlose Fraktion, schon Institutionen, Anschauungen und Vorstellungen in Frage stellen musste, welche allen auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaftsformen gemeinsam sind. Die chiliastischen Schwärmereien des ersten Christentums boten hierzu einen bequemen Anknüpfungspunkt. Aber zugleich konnte dies Hinausgehen nicht nur über die Gegenwart, sondern selbst über die Zukunft, nur ein gewaltsames, phantastisches sein und musste beim ersten Versuch der praktischen Anwendung zurückfallen in die beschränkten Grenzen, die die damaligen Verhältnisse allein zuließen.
Der Angriff auf das Privateigentum, die Forderung der Gütergemeinschaft, musste sich auflösen in eine rohe Organisation der Wohltätigkeit; die vage christliche Gleichheit konnte höchstens auf die bürgerliche „Gleichheit vor dem Gesetz“ hinauslaufen; die Beseitigung aller Obrigkeit verwandelt sich schließlich in die Herstellung vom Volke gewählter republikanischer Regierungen. Die Antizipation des Kommunismus durch die Phantasie wurde in der Wirklichkeit eine Antizipation der modernen bürgerlichen Verhältnisse.
Revolutionär und …
Diese gewaltsame, aber dennoch aus der Lebenslage der plebejischen Fraktion sehr erklärliche Antizipation auf die spätere Geschichte finden wir zuerst in Deutschland, bei Thomas Müntzer und seiner Partei. Erst bei Müntzer sind diese kommunistischen Anklänge Ausdruck der Bestrebungen einer wirklichen Gesellschaftsfraktion, erst bei ihm sind sie mit einer gewissen Bestimmtheit formuliert, und seit ihm finden wir sie in jeder großen Volkserschütterung wieder, bis sie allmählich mit der modernen proletarischen Bewegung zusammenfließen; geradeso wie im Mittelalter die Kämpfe der freien Bauern gegen die sie mehr und mehr umstrickende Feudalherrschaft zusammenfließen mit den Kämpfen der Leibeigenen und Hörigen um den vollständigen Bruch der Feudalherrschaft.
Luther und Müntzer repräsentieren nach ihrer Doktrin wie nach ihrem Charakter und ihrem Auftreten jeder seine Partei vollständig.
… Reformator…
Luther hat in den Jahren 1517 bis 1525 ganz dieselben Wandlungen durchgemacht, die die modernen deutschen Konstitutionellen von 1846 bis 1849 durchmachten und die jede bürgerliche Partei durchmacht, welche, einen Moment an die Spitze der Bewegung gestellt, in dieser Bewegung selbst von der hinter ihr stehenden plebejischen oder proletarischen Partei überflügelt wird.
Als Luther 1517 zuerst gegen die Dogmen und die Verfassung der katholischen Kirche auftrat, hatte seine Opposition durchaus noch keinen bestimmten Charakter. Ohne über die Forderungen der früheren bürgerlichen Ketzerei hinauszugehen, schloss sie keine einzige weitergehende Richtung aus und konnte es nicht. Im ersten Moment mussten alle oppositionellen Elemente vereinigt, musste die entschiedenste revolutionäre Energie angewandt, musste die Gesamtmasse der bisherigen Ketzerei gegenüber der katholischen Rechtgläubigkeit vertreten werden. Geradeso waren unsere liberalen Bourgeois noch 1847 revolutionär, nannten sich Sozialisten und Kommunisten und schwärmten für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Die kräftige Bauernnatur Luthers machte sich in dieser ersten Periode seines Auftretens in der ungestümsten Weise Luft.
„Wenn ihr“ (der römischen Pfaffen) „rasend Wüten einen Fortgang haben sollte, so dünkt mich, es wäre schier kein besserer Rat und Arznei, ihm zu steuern, denn dass Könige und Fürsten mit Gewalt dazutäten, sich rüsteten und diese schädlichen Leute, so alle Welt vergiften, angriffen und einmal des Spiels ein Ende machten, mit Waffen, nicht mit Worten. So wir Diebe mit Schwert, Mörder mit Strang, Ketzer mit Feuer strafen, warum greifen wir nicht vielmehr an diese schädlichen Lehrer des Verderbens, als Päpste, Kardinäle, Bischöfe und das (ganze) Geschwärm der römischen Sodoma mit allerlei Waffen und waschen unsere Hände in ihrem Blut?“
Während sich in dem ersten der drei großen Lager, im konservativ-katholischen, alle Elemente zusammenfanden, die an der Erhaltung des Bestehenden interessiert waren, also die Reichsgewalt, die geistlichen und ein Teil der weltlichen Fürsten, der reichere Adel, die Prälaten und das städtische Patriziat, sammeln sich um das Banner der bürgerlich-gemäßigten lutherischen Reform die besitzenden Elemente der Opposition, die Masse des niederen Adels, die Bürgerschaft und selbst ein Teil der weltlichen Fürsten, der sich durch Konfiskation der geistlichen Güter zu bereichern hoffte und die Gelegenheit zur Erringung größerer Unabhängigkeit vom Reich benutzen wollte. Die Bauern und Plebejer endlich schlossen sich zur revolutionären Partei zusammen, deren Forderungen und Doktrinen am schärfsten durch Müntzer ausgesprochen wurden.
Aber dieser erste revolutionäre Feuereifer dauerte nicht lange. Der Blitz schlug ein, den Luther geschleudert hatte. Das ganze deutsche Volk geriet in Bewegung. Auf der einen Seite sahen Bauern und Plebejer in seinen Aufrufen wider die Pfaffen, in seiner Predigt von der christlichen Freiheit das Signal zur Erhebung; auf der andern schlossen sich die gemäßigteren Bürger und ein großer Teil des niederen Adels ihm an, wurden selbst Fürsten vom Strom mit fortgerissen. Die einen glaubten den Tag gekommen, wo sie mit allen ihren Unterdrückern Abrechnung halten könnten, die andern wollten nur die Macht der Pfaffen, die Abhängigkeit von Rom, die katholische Hierarchie brechen und sich aus der Konfiskation des Kirchengutes bereichern. Die Parteien sonderten sich und fanden ihre Repräsentanten. Luther musste zwischen ihnen wählen. Er, der Schützling des Kurfürsten von Sachsen, der angesehene Professor von Wittenberg, der über Nacht mächtig und berühmt gewordene, mit einem Zirkel von abhängigen Kreaturen und Schmeichlern umgebene große Mann zauderte keinen Augenblick. Er ließ die populären Elemente der Bewegung fallen und schloss sich der bürgerlichen, adligen und fürstlichen Seite an. Die Aufrufe zum Vertilgungskampfe gegen Rom verstummten; Luther predigte jetzt die friedliche Entwicklung und den passiven Widerstand. Auf Huttens Einladung, zu ihm und Sickingen auf die Ebernburg, den Mittelpunkt der Adelsverschwörung gegen Pfaffen und Fürsten, zu kommen, antwortete Luther:
„Ich möchte nicht, dass man das Evangelium mit Gewalt und Blutvergießen verfechte. Durch das Wort ist die Welt überwunden worden, durch das Wort ist die Kirche erhalten, durch das Wort wird sie auch wieder in den Stand kommen, und der Antichrist, wie er Seines ohne Gewalt bekommen, wird ohne Gewalt fallen.“
Von dieser Wendung, oder vielmehr von dieser bestimmteren Feststellung der Richtung Luthers, begann jenes Markten und Feilschen um die beizubehaltenden oder zu reformierenden Institutionen und Dogmen, jenes widerwärtige Diplomatisieren, Konzedieren, Intrigieren und Vereinbaren, dessen Resultat die Augsburgische Konfession war, die schließlich erhandelte Verfassung der reformierten Bürgerkirche. Es ist ganz derselbe Schacher, der sich neuerdings in deutschen Nationalversammlungen, Vereinbarungsversammlungen, Revisionskammern und Erfurter Parlamenten in politischer Form bis zum Ekel wiederholt hat. Der spießbürgerliche Charakter der offiziellen Reformation trat in diesen Verhandlungen aufs Offenste hervor.
… und deren Zusammenstoß
Dass Luther, als nunmehr erklärter Repräsentant der bürgerlichen Reform, den gesetzlichen Fortschritt predigte, hatte seine guten Gründe. Die Masse der Städte war der gemäßigten Reform zugefallen; der niedere Adel schloss sich ihr mehr und mehr an, ein Teil der Fürsten fiel zu, ein anderer schwankte. Ihr Erfolg war so gut wie gesichert, wenigstens in einem großen Teile von Deutschland. Bei fortgesetzter friedlicher Entwicklung konnten die übrigen Gegenden auf die Dauer dem Andrang der gemäßigten Opposition nicht widerstehen. Jede gewaltsame Erschütterung aber musste die gemäßigte Partei in Konflikt bringen mit der extremen, plebejischen und Bauernpartei, musste die Fürsten, den Adel und manche Städte der Bewegung entfremden und ließ nur die Chance entweder der Überflügelung der bürgerlichen Partei durch die Bauern und Plebejer oder der Unterdrückung sämtlicher Bewegungsparteien durch die katholische Restauration. Und wie die bürgerlichen Parteien, sobald sie die geringsten Siege erfochten haben, vermittelst des gesetzlichen Fortschritts zwischen der Scylla der Revolution und der Charybdis der Restauration durchzulavieren suchen, davon haben wir in der letzten Zeit Exempel genug gehabt.
Wie unter den allgemein gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der damaligen Zeit die Resultate jeder Veränderung notwendig den Fürsten zugute kommen und ihre Macht vermehren mussten, so musste die bürgerliche Reform, je schärfer sie sich von den plebejischen und bäurischen Elementen schied, immer mehr unter die Kontrolle der reformierten Fürsten geraten. Luther selbst wurde mehr und mehr ihr Knecht, und das Volk wusste sehr gut, was es tat, wenn es sagte, er sei ein Fürstendiener geworden wie die andern, und wenn es ihn in Orlamünde mit Steinwürfen verfolgte.
Als der Bauernkrieg losbrach, und zwar in Gegenden, wo Fürsten und Adel größtenteils katholisch waren, suchte Luther eine vermittelnde Stellung einzunehmen. Er griff die Regierungen entschieden an. Sie seien schuld am Aufstand durch ihre Bedrückungen; nicht die Bauern setzten sich wider sie, sondern Gott selbst. Der Aufstand sei freilich auch ungöttlich und wider das Evangelium, hieß es auf der andern Seite. Schließlich riet er beiden Parteien, nachzugeben und sich gütlich zu vertragen.
Aber der Aufstand, trotz dieser wohlmeinenden Vermittlungsvorschläge, dehnte sich rasch aus, ergriff sogar protestantische, von lutherischen Fürsten, Herren und Städten beherrschte Gegenden und wuchs der bürgerlichen, „besonnenen“ Reform rasch über den Kopf. In Luthers nächster Nähe, in Thüringen, schlug die entschiedenste Fraktion der Insurgenten unter Müntzer ihr Hauptquartier auf. Noch ein paar Erfolge, und ganz Deutschland stand in Flammen, Luther war umzingelt, vielleicht als Verräter durch die Spieße gejagt, und die bürgerliche Reform weggeschwemmt von der Sturmflut der bäurisch-plebejischen Revolution. Da galt kein Besinnen mehr. Gegenüber der Revolution wurden alle alten Feindschaften vergessen; im Vergleich mit den Rotten der Bauern waren die Diener der römischen Sodoma unschuldige Lämmer, sanftmütige Kinder Gottes; und Bürger und Fürsten, Adel und Pfaffen, Luther und Papst verbanden sich „wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“.
„Man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muss!“, schrie Luther. „Darum, liebe Herren, loset hie, rettet da, steche, schlage, würge sie, wer da kann, bleibst du darüber tot, wohl dir, seligeren Tod kannst du nimmermehr überkommen.“
Reaktionäre Wendung
Man solle nur keine falsche Barmherzigkeit mit den Bauern haben. Die mengen sich selber unter die Aufrührischen, die sich derer erbarmen, welcher sich Gott nicht erbarmt, sondern welche er gestraft und verderbet haben will. Nachher werden die Bauern selber Gott danken lernen, wenn sie die eine Kuh hergeben müssen, auf dass sie die andre in Frieden genießen können; und die Fürsten werden durch den Aufruhr erkennen, wes Geistes der Pöbel sei, der nur mit Gewalt zu regieren.
„Der weise Mann sagt: Cibus, onus et virga asino ‚Der Esel braucht Futter, Bürde und Stockschläge‘ – in einen Bauern gehört Haberstroh, sie hören nicht das Wort und sind unsinnig, so müssen sie die virgam, die Büchse, hören, und geschieht ihnen recht. Bitten sollen wir für sie, dass sie gehorchen; wo nicht, so gilt‘s hier nicht viel Erbarmens. Lasset nur die Büchsen unter sie sausen, sie machen‘s sonst tausendmal ärger.“
Geradeso sprachen unsere weiland sozialistischen und philanthropischen Bourgeois, als das Proletariat nach den Märztagen seinen Anteil an den Früchten des Siegs reklamieren kam.
Luther hatte der plebejischen Bewegung ein mächtiges Werkzeug in die Hand gegeben durch die Übersetzung der Bibel. In der Bibel hatte er dem feudalisierten Christentum der Zeit das bescheidene Christentum der ersten Jahrhunderte, der zerfallenden feudalen Gesellschaft das Abbild einer Gesellschaft entgegengehalten, die nichts von der weitschichtigen, kunstmäßigen Feudalhierarchie wusste. Die Bauern hatten dies Werkzeug gegen Fürsten, Adel, Pfaffen, nach allen Seiten hin benutzt. Jetzt kehrte Luther es gegen sie und stellte aus der Bibel einen wahren Dithyrambus auf die von Gott eingesetzte Obrigkeit zusammen, wie ihn kein Tellerlecker der absoluten Monarchie je zustande gebracht hat. Das Fürstentum von Gottes Gnaden, der passive Gehorsam, selbst die Leibeigenschaft wurde mit der Bibel sanktioniert. Nicht nur der Bauernaufstand, auch die ganze Auflehnung Luthers selbst gegen die geistliche und weltliche Autorität war hierin verleugnet; nicht nur die populäre Bewegung, auch die bürgerliche war damit an die Fürsten verraten.
Brauchen wir die Bourgeois zu nennen, die auch von dieser Verleugnung ihrer eignen Vergangenheit uns kürzlich wieder Beispiele gegeben haben?
Gegenspieler
Stellen wir nun dem bürgerlichen Reformator Luther den plebejischen Revolutionär Müntzer gegenüber.
Thomas Müntzer war geboren zu Stolberg am Harz, um das Jahr 1498. Sein Vater soll, ein Opfer der Willkür der Stolbergschen Grafen, am Galgen gestorben sein. Schon in seinem fünfzehnten Jahre stiftete Müntzer auf der Schule zu Halle einen geheimen Bund gegen den Erzbischof von Magdeburg und die römische Kirche überhaupt. Seine Gelehrsamkeit in der damaligen Theologie verschaffte ihm früh den Doktorgrad und eine Stelle als Kaplan in einem Nonnenkloster zu Halle. Hier behandelte er schon Dogmen und Ritus der Kirche mit der größten Verachtung, bei der Messe ließ er die Worte der Wandlung ganz aus und aß, wie Luther von ihm erzählt, die Herrgötter ungeweiht. Sein Hauptstudium waren die mittelalterlichen Mystiker, besonders die chiliastischen Schriften Joachims des Kalabresen. Das Tausendjährige Reich, das Strafgericht über die entartete Kirche und die verderbte Welt, das dieser verkündete und ausmalte, schien Müntzer mit der Reformation und der allgemeinen Aufregung der Zeit nahe herbeigekommen. Er predigte in der Umgegend mit großem Beifall. 1520 ging er als erster evangelischer Prediger nach Zwickau. Hier fand er eine jener schwärmerischen chiliastischen Sekten vor, die in vielen Gegenden im Stillen fortexistierten, hinter deren momentaner Demut und Zurückgezogenheit sich die fortwuchernde Opposition der untersten Gesellschaftsschichten gegen die bestehenden Zustände verborgen hatte und die jetzt mit der wachsenden Agitation immer offener und beharrlicher ans Tageslicht hervortraten. Es war die Sekte der Wiedertäufer, an deren Spitze Niklas Storch stand. Sie predigten das Nahen des Jüngsten Gerichts und des Tausendjährigen Reichs; sie hatten „Gesichte, Verzückungen und den Geist der Weissagung“. Bald kamen sie in Konflikt mit dem Zwickauer Rat; Müntzer verteidigte sie, obwohl er sich ihnen nie unbedingt anschloss, sondern sie vielmehr unter seinen Einfluss bekam. Der Rat schritt energisch gegen sie ein; sie mussten die Stadt verlassen, und Müntzer mit ihnen. Es war Ende 1521.
Er ging nach Prag und suchte, an die Reste der hussitischen Bewegung anknüpfend, hier Boden zu gewinnen; aber seine Proklamation hatte nur den Erfolg, dass er auch aus Böhmen wieder fliehen musste. 1522 wurde er Prediger zu Allstedt in Thüringen. Hier begann er damit, den Kultus zu reformieren. Noch ehe Luther so weit zu gehen wagte, schaffte er die lateinische Sprache total ab und ließ die ganze Bibel, nicht bloß die vorgeschriebenen sonntäglichen Evangelien und Episteln, verlesen. Zu gleicher Zeit organisierte er die Propaganda in der Umgegend. Von allen Seiten lief das Volk ihm zu, und bald wurde Allstedt das Zentrum der populären Antipfaffenbewegung von ganz Thüringen.
Noch war Müntzer vor allem Theologe; noch richtete er seine Angriffe fast ausschließlich gegen die Pfaffen. Aber er predigte nicht, wie Luther damals schon, die ruhige Debatte und den friedlichen Fortschritt, er setzte die früheren gewaltsamen Predigten Luthers fort und rief die sächsischen Fürsten und das Volk auf zum bewaffneten Einschreiten gegen die römischen Pfaffen.
„Sagt doch Christus, ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Was sollt ihr“ (die sächsischen Fürsten) „aber mit demselben machen? Nichts anders, denn die Bösen, die das Evangelium verhindern, wegtun und absondern, wollt ihr anders Diener Gottes sein. Christus hat mit großem Ernst befohlen, Luc. 19,27, nehmt meine Feinde und würget sie vor meinen Augen … Gebet uns keine schalen Fratzen vor, dass die Kraft Gottes es tun soll ohne euer Zutun des Schwertes, es möchte euch sonst in der Scheide verrosten. Die, welche Gottes Offenbarung zuwider sind, soll man wegtun, ohne alle Gnade, wie Hiskias, Cyrus, Josias, Daniel und Elias die Baalspfaffen verstöret haben, anders mag die christliche Kirche zu ihrem Ursprung nicht wieder kommen. Man muss das Unkraut ausraufen aus dem Weingarten Gottes in der Zeit der Ernte. Gott hat 5. Mose 7 gesagt, ihr sollt euch nicht erbarmen über die Abgöttischen, zerbrecht ihre Altäre, zerschmeißt ihre Bilder und verbrennet sie, auf dass ich nicht mit euch zürne.“
Aber diese Aufforderungen an die Fürsten blieben ohne Erfolg, während gleichzeitig unter dem Volk die revolutionäre Aufregung von Tag zu Tag wuchs. Müntzer, dessen Ideen immer schärfer ausgebildet, immer kühner wurden, trennte sich jetzt entschieden von der bürgerlichen Reformation und trat von nun an zugleich direkt als politischer Agitator auf.
Worterklärungen:
Mystik: Hier verwendet im Sinne von Geheimlehre oder auch Geheimbund, einer abweichenden Auslegung des Christentums im Sinne der Herrschenden.
Ketzerei: Offener Widerspruch zu kirchlich-religiösen Glaubensgrundsätzen
Urchristentum: Bezugnahme auf die ersten christlichen Gemeinden, die in Gütergemeinschaft und ohne Hierarchie gelebt haben sollen
Prälaten: Inhaber eines hohen Kirchenamts
Dogma: Lehrsatz, dem Aufgrund kirchlicher Autorität Wahrheit zugeschrieben wird
Pfahlbürger: Inhaber von Bürgerrechten, die außerhalb der Städte wohnten
Chiliasmus: Glauben an die Wiederkehr von Jesus und die anschließende Errichtung eines Tausendjährigen Reichs. Joachim von Fiore aus Kalabrien ist ein prominenter Vertreter der Lehre. Er lehrte, dass vor dem neuen Friedensreich der Antichrist durch eine kirchliche Persönlichkeit besiegt werden müsse.
Patriziat: Städtische Oberschicht
Konfiskation: Entschädigungslose Enteignung
Ulrich von Hutten: Dichter und Kirchenkritiker. Zusammen mit dem Ritter Franz von Sickingen zog er ab 1522 bewaffnet gegen das Kurfürstentum Trier als auch gegen die Kriche.
Konzedieren: Zugestehen
Scylla und Charybdis: Meeresungeheuer der griechischen Mythologie, die gegenüber an einer Meerenge hausen. Ein Hindurchmanövrieren ist unmöglich.
Steinwürfe von Orlamünde: In dem thüringischen Ort predigte Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt. Er stand mit Müntzer in Verbindung. 1522 reiste Luther nach Orlamünde und verwies Karlstadt aus der Kirche, um die Ordnung wieder herzustellen. Wilhelm Zimmermann schreibt in seiner Chronik des Bauernkriegs: „Luther (schuf sich), durch hochfahrende Feindseligkeit gegen Karlstadt und durch ungeschicktes Benehmen gegen die Bürger zu Orlamünde, solche Kränkung (…), dass er nur durch schnelle Abfahrt den Scheltworten und den Steinwürfen des Volks sich entzog“.
Durch die Spieße jagen: Spießrutenlaufen. Todesstrafe, die nur gegen einfache Soldaten verhängt wurde.
Virgam: Rute, auch im Sinne von Bestrafung gemeint.
Dithyrambus: Loblied
Ritus: Festgelegte religiöse Bräuche und Zeremonien
Hussiten: Reformatorisch-revolutionäre Bewegungen in Böhmen im 15. Jahrhundert.