In Mesut Bayraktars „Die Lage“ erobern die Ohnmächtigen den literarischen Raum

Empathie und Klassenbewusstsein

Dean Wetzel

Wo versteckt sich dieses oft beschworene Klassenbewusstsein? In der gegenwärtigen Lage, in der die allgemeinen Lebenserhaltungskosten steigen, die Reallöhne bei weitem nicht Schritt halten, das Recht diesen Zustand legitimiert und staatliche Repression jeglichen ernstzunehmenden Widerstand erstickt, müsste es doch florieren. Doch florieren vor allem die Ressentiments. Das deutet darauf hin, dass die Existenz in einer Klassengesellschaft noch kein Garant für ein emanzipatorisches Klassenbewusstsein ist. Der ungarische Philosoph Georg Lukács betonte in seinem bahnbrechenden Werk „Geschichte und Klassenbewusstsein“, dass es sich bei diesem weniger um den positivistischen Durchschnitt des Denkens und der Empfindungen derjenigen handelt, die die Klasse bilden, sondern viel eher um den „bewusst gewordene(n) Sinn der geschichtlichen Lage der Klasse“. Das Klassenbewusstsein verhüllt sich daher zunächst in einer „klassenmäßig bestimmten Unbewusstheit über die eigene gesellschaftlich-geschichtliche ökonomische Lage“ und muss sich dem Einzelnen erst noch offenbaren.

Diese von Lukács beschriebene Unbewusstheit, die die Grundlage des Bewusstseins darstellt, ist auch in Mesut Bayraktars neuem Erzählband „Die Lage“ zu spüren. In diesem kommen Menschen und ihre Geschichten zu Wort, die oftmals von der Literatur als uninteressant abqualifiziert werden – ein Urteil, dem Bayraktar vehement widerspricht.

So erzählt er vom persönlichen Schicksal der Frau eines türkischen Gastarbeiters und den Hürden, die sich ihrem Wunsch nach einem neuen Leben in den Weg stellen. Denn die Trennung von ihrem Mann bedeutet nicht nur das Wegbrechen des sozialen Umfelds, sondern zieht auch den Verlust der finanziellen Absicherung nach sich. Auf den einen Hürdenlauf folgt der nächste. Das persönliche wird zum politischen Schicksal. Die Sachbearbeiter, Antragsformulare und Voraussetzungen stellen nämlich – im Gegensatz zur Suggestion des Ausdrucks „Sozialstaat“ – alles andere als eine soziale Unterstützung für einen Neuanfang dar. Und da sie von diesem Staat keine Hilfe zu erwarten hat, erzählt Bayraktar von Freundschaft und den teils ambivalenten Erscheinungsformen der Emanzipation. Und er erzählt von der Wut.

Wie ein roter Faden zieht sich die Wut, die sich als vielschichtiges Gefühl erweist, durch die Geschichten. Wo einerseits auf ihren Exzess „die Ebbe der inneren Leere“ folgt, kann sie andererseits in Freiheit umschlagen, selbst befreiend wirken. Wo sie sich wie die Wolkendecke eines Gewitters zuzieht, kann sie im nächsten Moment vom Leben wie von einem Sonnenstrahl durchbrochen werden. So steht der Wut die Liebe, das Begehren, die Sehnsucht und ein schier unaufhaltsames Streben gegenüber. Da Wut und Sehnsucht sich aber auch gegenseitig begründen können, schreibt Bayraktar von all den Grautönen, in denen sich die Geschichte der Menschen fortschreibt.

Er erzählt von den „Geprellten“ der kapitalistischen Vereinzelung in den Betrieben, die trotz des Wunsches nach einem gemeinschaftlichen Zusammenhalt in die Konkurrenz eines jeden gegen jeden gezwängt werden. Doch wer die Logik des Kapitals am eigenen Körper spürt, kann erkennen, dass, selbst wenn man den einen Tag verschont bleibt, die nächste Kündigungswelle im Namen der Rendite schon wartet: „Wenn ich heute Glück hatte, bin ich vielleicht morgen dran.“

Denn dort, wo Menschen leben sollten, lebt in dieser Welt nur das Kapital. Und wo Wohnungen keinen Absatz generieren, werden sie abgerissen, um Platz für neue Investitionen im alten Spiel der Akkumulation zu schaffen. Für die Immobilienkonzerne handelt es sich dabei nur um einfache Kalkulation, für die Bewohner um den Verlust ihrer Existenz. So schildert Bayraktar in „Angst und Furcht“ die Geschichte einer Zwangsräumung und stellt auf neun Seiten in aller Dringlichkeit den Terror der Immobilienmärkte bloß. Die poetische Kraft seines schnörkellosen Stils, der die politischen wie auch privaten Verhältnisse schonungslos bloßlegen möchte und dem dies über weite Strecken mit Bravour gelingt, droht in anderen Erzählungen jedoch vom Typischen ins Oberflächliche abzugleiten und so zur Plattitüde zu gerinnen.

2711 Lage - Empathie und Klassenbewusstsein - Autumnus Verlag, Die Lage, Mesut Bayraktar - Kultur

Unter den 18 Geschichten, die in die drei Teile „Begegnung“, „Streit“ und „Begehren“ eingeteilt sind, sei noch die Geschichte von Robert, einem pensionierten Lokführer, mit dem fatalistischen Titel „Das Ende“ hervorzuheben. Nachdem Robert in Rente geht und ihm sich damit eigentlich das Reich der Freiheit – oder immerhin der Freizeit – eröffnen sollte, spürt er langsam, dass ihm mit der Arbeit auch ein essenzieller Lebensinhalt verloren geht. Er wird in seinen Träumen von Bildern der Vergangenheit heimgesucht. Bilder, die ihn auch am Tag nicht mehr loslassen und die sich zu einer paralysierenden Angst manifestieren. Doch da sind auch die Erinnerungen an den Streik, die Gewerkschaft, die Solidarität der Kollegen. Es sind die Hoffnungsschimmer in einer dunklen Zeit, die einen jeden Einzelnen zu ersticken droht.

Nachdem sich Mesut Bayraktar in „Aydin. Erinnerung an ein verweigertes Leben“ auf biografische Spurensuche begab und die gesellschaftlichen Ursachen der Gewalt, der Scham, aber auch der Wut untersuchte, setzte er diese Suche nun in Form eines empathischen Personenpanoramas fort. In „Die Lage“ erzählt er von Situationen, in denen Gewohnheiten, Strukturen und Hierarchien aufbrechen, vom schlummernden Begehren und dem Rausch des Lebens, aber auch von den Bedingungen der Möglichkeiten des Glücks, der Freude und insbesondere der Liebe. So stehen der Erkenntniswert und die Rationalität der Gefühle klar im Vordergrund. Denn auch wenn die Gefühle nicht den Grund des Denkens bilden, so sind sie doch eine notwendige Grundlage, an der das Denken schon immer teilhat und aus der es emporsteigt.

Wenn Lukács schreibt, dass „die Klassenlage des Proletariats (…) den Widerspruch“, aus dem das Klassenbewusstsein hervorgeht, „direkt in sein Bewusstsein“ hineinträgt, dann zeugen Bayraktars Erzählungen genau von diesem Prozess. Sie präsentieren kein ausgeprägtes Klassenbewusstsein, sondern seine Genese, und zeigen darin das zu sich selbst kommende Klassenbewusstsein. Womit Bayraktar Brechts Lob der Dialektik aufgreift: „Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?“


Mesut Bayraktar
Die Lage
Autumnus Verlag, 2024, 308 Seiten, 19,95 Euro
Erhältlich im UZ-Shop


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"Empathie und Klassenbewusstsein", UZ vom 5. Juli 2024



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