In diesem Folgebuch zu „Amokläufe zum Ich“ (2011) gelingt es Jürgen Meier, fleißig historisch recherchiert und vor allem auf der Grundlage dia-
lektisch-materialistischer Methode, eine Entwicklungsgeschichte des bürgerlichen Theaters vorzulegen. Die Betonung liegt ganz zu Recht auf dem Begriff des „Bürgerlichen“, weil sich darauf eine historisch-gesellschaftspolitische Theaternotwendigkeit der Neuzeit begründet. Gleichermaßen natürlich sich als Gegenentwurf verstehend zu bis dahin feudalen und monarchischen Eigentumsverhältnissen, auch wenn wir von oft kulturell und die Künste betreffend „segensreichem“ fürstlichem Mäzenatentum sprechen können.
So betrachtet stellt Meier auch das darin innewohnende Emanzipationskonzept ganz im Sinne und in der Folge der Französischen (bürgerlichen) Revolution von 1789 dar, worauf sich zu berufen großen Sinn macht, denn dem Philosophen K. C. F. Krause zufolge ist Kunstverständnis ein wichtiger Beitrag zur Emanzipation der Menschen von Leid und Unterdrückung. (S. 85)
In der Folgedarstellung über die historischen Epochen zeigen sich deutliche bewusster werdende Willensakte auf Seiten gesellschaftlicher Entwicklung, die die Notwendigkeit bürgerlich-demokratischer Kulturentwicklung als Emanzipationsakt gegen Koinzidenz mit dem staatlich verordneten „Kulturbetrieb“ erfordern. Mit der Commedia dell’Arte, Georg Büchner, Ernst Toller, Bert Brecht beispielsweise verdeutlicht der Autor konsequent nicht nur den Kampf gegen das „Kulturtheater“ (S. 132) in den Epochen mit „Theaterbetrieben“, insbesondere der Kaiserzeit und ihrem Ende mit den revolutionär-demokratischen Bewegungen 1918, der gewollten Gleichschaltung während der Naziherrschaft, sondern, und das scheint mir von besonderer Bedeutung, die möglichen Visionen von Theater. Dies belegt und zur Vermittlung aufbereitet durch kulturästhetische und -philosophische Beiträge unterschiedlicher Autoren. Hierbei wird dem Leser deutlich, dass die theoretischen Arbeiten Georg Lukács‘ zum dialektischen Zusammenhang Arbeit – kapitalistische Gesellschaftsordnung – Kulturästhetik hier tragend erscheinen, um über das prozessbedingte „Kathartische“ die Veränderungsoptionen der existierenden gesellschaftlichen Prozesse auch ontologisch-individuiert zu öffnen. Wie Meier dann auch mit Lukács über Brechts Auffassung hinaus sagen lässt: Der Verfremdungseffekt will bloß unmittelbare, erlebnishafte Katharsis ausschalten, um Raum zu schaffen für eine, die durch eine vernunftmäßige Erschütterung des ganzen Menschen des Alltags ihn zu einer wirklichen Umkehr zwingt (S. 133).
Um dann wiederum folgerichtig am Ende mit der Frage nach der „Aufgabe von Kunst in Gegenwart und Zukunft“ (S. 178) zu konfrontieren, was einerseits begründend dargelegt wird im Hinblick auf die Prämisse, dass Literatur und Theater ohne Blick auf die gesellschaftliche Realität nicht möglich seien und andererseits, wie ich es zu interpretieren vermag, ebenso ohne bewusste Individualität des Menschen im Sinne humanistisch-vernünftiger theoretisch wie praktischer Denkens- und Verhaltensweise nicht. Nach Marx/Engels zutreffend als die „Ästhetische Weltaneignung und die sinnliche Bildung des Menschen“ zu bezeichnen.
Es ist sicherlich zuzustimmen, wenn am Ende resultierend festzustehen scheint, dass Theater stört, stören muss. Das im Übrigen ganz im Sinne auch des großen bürgerlichen Demokraten und bedeutenden Schriftsteller Heinrich Böll, der in seiner Eröffnungsrede zum Wuppertaler Schauspielhaus im Oktober 1966 deutlich machte, dass Kunst zu weit gehen müsse.
Gut auch, dass der Autor aufweckend und anregend am Ende Heinrich Heines imperativische Gedichtzeilen zitiert, mit dessen erster Zeile ich hier enden möchte, weil es zu positiver, produktiver Aufbruchsstimmung taugt: „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht.“
Sollten Leser, auch wenn wegen örtlicher Unkenntnis durch die Fokussierung auf Hildesheim manchmal der Nachvollzug der Ausführungen schwerer zu erarbeiten ist, Mut finden, sich einzulassen, sich anzustrengen, sich auseinanderzusetzen, sich zu streiten – dieses Buch verdient es.
Jürgen Meier: Theater stört. Betrachtungen zur bürgerlichen Stadtkultur und Theatergeschichte mit dem Fokus Hildesheim. 198 Seiten, 19,95 Euro.