Eine Frau erobert die (Schach-)Welt – Walter Travis’ „Damengambit“

Emanzipation einer gefangenen Figur

Was ist das Tolle an Weihnachten? Geschenke, genau. Und vor allem: Buchgeschenke! Man kann einmal im Jahr ein bisschen die Kontrolle darüber abgeben, was man liest, und es ist egal, ob es sich um eine Neuerscheinung handelt oder nicht (war schließlich ein Geschenk!). Noch dazu bekommt man direkt ein paar freie Tage dazu, sich dem neuen Schmöker zu widmen.

Mein Jahresendferienschmöker, der unter dem nicht vorhandenen Baum lag, ist bereits 1983 erschienen und hat vor einigen Jahren in seiner Verfilmung als Netflix-Miniserie Furore gemacht: Walter Travis‘ „Damengambit“.

Wer jetzt genervt die Augen verdreht und heimlich denkt, in der UZ geht es aber in letzter Zeit ein bisschen viel um Schach: Keine Sorge, auch wer sich nicht im Geringsten für das Spiel der Könige interessiert, kommt beim Buch (und der Serie mit der wunderbaren Anna Taylor-Joy in der Hauptrolle) auf seine Kosten. Denn „Damengambit“ handelt von Emanzipation, Intelligenz und Völkerverständigung.

Die achtjährige Elisabeth Harmon kommt nach dem Tod ihrer Mutter bei einem Autounfall in ein Kinderheim. Es sind die USA in den 1950er Jahren. Erziehung mit Zuneigung und individueller Förderung sind in der Einrichtung unbekannt. Stattdessen gibt es Beruhigungspillen, damit die Kleinen nicht aufmucken. Beth Harmon lernt schnell, dass die kleinen grünen Pillen noch toller sind, wenn man ein bisschen spart und dann alle auf einmal nimmt – ein frühes Kennenlernen einer Sucht, die sie nie ganz loslassen soll. Und noch etwas anderes soll Beth Harmon nie wieder loslassen. In den Keller geschickt, um den Tafelschwamm auszuschlagen, trifft sie dort auf den Hausmeister. Der ältere Mann sitzt vor einem Brett mit 64 Feldern, sechzehn weißen und sechzehn schwarzen Figuren – und spielt gegen sich selbst. Beth ist fasziniert und legt alles daran, dieses wundersame Spiel auch zu erlernen.

Walter Travis hat mit „Damengambit“ zwar einen Schachroman geschrieben, sein Hauptaugenmerk liegt aber nicht auf Spielzügen, Eröffnungen und Strategien, sondern auf der Entwicklung Beth Harmons. Diese wird als junger Teenager adoptiert, beginnt an Schach-Turnieren teilzunehmen (wobei ihre Adoptivmutter sie unterstützt, als sie von den Preisgeldern erfährt) und spielt bereits mit 16 Jahren – unter lauter Männern – um die US-Meisterschaft. Doch das reicht Beth nicht. Sie trainiert wie besessen, reist von Turnier zu Turnier und lernt in der Abendschule Russisch, denn sie will gegen Vasily Borgov spielen, den sowjetischen Weltmeister. Den besten Schachspieler der Welt. Dabei kämpft sie gegen das Trauma ihrer Kindheit, gegen die Abhängigkeit von Pillen und Alkohol und gegen ihre soziale Unsicherheit. Und sie kämpft dafür, als Frau in einer absoluten Männerdomäne anerkannt zu werden. Schließlich spielt sie nicht gut „für eine Frau“ (was auch immer das heißen mag). Sie spielt einfach irrsinnig gut.

Die Verfilmung von „Damengambit“ hat (gemeinsam mit der Corona-Pandemie) Schach so populär gemacht wie seit Jahren nicht. Sie erzählt eins zu eins den Roman von Walter Travis nach, ist dabei aber düsterer und weniger humorvoll. Und durch einige wenige Änderungen wird das Ende (das hier nicht verraten wird) in der Verfilmung stärker als im Buch. Travis’ Talent liegt nicht nur in der Imagination von Geschichte und Charakteren, sondern ihm gelingt es, Motivationen und Handlungen „en passant“ zu erklären, so dass Leserinnen und Leser einen tiefen Einblick in die Gründe für Beth Harmons Agieren bekommen. Und er lässt auch diejenigen, die noch nie in ihrem Leben Schach gespielt haben, an der Faszination des Spiels teilhaben. Leserinnen und Leser können mit Beth lernen, wenn sie am Anfang begreift, welche Figuren welche Züge machen – und wann diese klug sind. Und es gelingt Travis, eine Partie atemberaubend spannend zu beschreiben, weil er zum größten Teil darauf verzichtet, Spielzüge anzusagen (Springer auf f 3), sondern sie mit Beth’ Empfindungen verknüpft („Bei Ergreifen des Springers spürte sie, wie herrlich stark diese Figur nun war“). In der letzten Partie des Buches jubelt man Beth zu, auch wenn man sich kein bisschen für Schach interessiert. Und der eine oder die andere wird doch versucht sein, es mit dem Spiel aller Spiele zu versuchen. Es ist auch zu gut, um es nicht zu tun.

Walter Travis
Damengambit
Diogenes Verlag, 414 Seiten, 14 Euro

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"Emanzipation einer gefangenen Figur", UZ vom 17. Januar 2025



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