Lieferdienste: Erhöhtes Unfallrisiko im Winter, Union Busting und Braindrain

Eiskalt kalkuliert

Der kälteste Ort Deutschlands liegt im Erzgebirge. Es ist der Marienberger Ortsteil Kühnhaide. Minus 23,5 Grad kalt war es dort Mitte Februar. Ein Flecken Erde, von dem die Hiesigen sagen, er kenne nur zwei Jahreszeiten: Winter und Hartwinter.

Allein die Winzigkeit Kühnhaides ist es, die Fahrradkuriere von Lieferando und Co. davor bewahrt, bei Eis und Schnee durch den Ort radeln zu müssen. Woanders, in den Städten, wo zeitgleich ebenfalls Minusgrade im zweistelligen Bereich verzeichnet wurden, hetzten die „Rider“ von einer Lieferung zur nächsten. Der Leistungsdruck ist hoch, viele werden durch ein Bonussystem angepeitscht. Gerade bei Glätte ist das Unfallrisiko umso höher, wenn man es eilig hat.

„Wir wollen keine Schlechtwetterzulage“, gab der Lieferando-Betriebsrat Magnus Heerlein gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk im Herbst letzten Jahres an. „Wir möchten eher, dass bei schlechtem Wetter niemand mehr fährt und die Liefergebiete geschlossen werden, anstatt die Kolleginnen und Kollegen unnötig in Gefahr zu bringen.“

Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und Vergütungen wird dabei durch die schlechten Arbeitsbedingungen behindert: Früher noch selten, schinden sich Lieferkuriere von Lieferando, Flink, Wolt und Co. mittlerweile in großer Zahl durch jede Großstadt. Trotzdem fehlt in vielen Städten ein „Hub“, eine Zentrale, wo sie sich nicht nur ausruhen und aufwärmen könnten, sondern sich auch austauschen. Stattdessen werden die Restaurants, für die sie ausliefern, zu informellen Anlaufstellen. Dabei kann es zu Konflikten mit Inhabern kommen, wie ein Fall aus Berlin zeigt (siehe UZ vom 20. September 2024).

Auch in Chemnitz fehlen Pausen- und Rückzugsräume für die Fahrradkuriere. Sicher ein Grund, warum die zuständige NGG auf Nachfrage für Chemnitz zwar angibt, dass sie sich um deren Organisierung bemüht, bisher damit jedoch – im Vergleich etwa zu Dresden – noch keine konkreten Erfolge vorzuweisen hat.

Dazu kommt das branchenüblich ausgefeilte Union Busting: „Neues Deutschland“ berichtete vergangenes Jahr, dass Lieferando einem in der Gewerkschaft aktiven Fahrer am letzten Tag seiner Probezeit kündigte. Er war bei der Arbeit verunfallt, was eine längere Krankschreibung zur Folge hatte. Er trug beim Sturz keinen Helm, weil ihm dieser Teil der Arbeitsausrüstung – wie so vielen in der Probezeit – nicht zur Verfügung gestellt worden war. Andere Unternehmen ziehen sich bei Gegenwind einfach zurück. So nahm der türkische Lebensmittelkonzern Getir sein Tochterunternehmen Gorillas 2023 vom deutschen Markt.

Die Konzerne profitieren derweil vom Braindrain: Viele der meist männlichen Lieferkuriere kommen aus Südasien, oft aus Indien. Sie werden dort für ein Studium in Deutschland angeworben mit der Aussicht, hier nach dem Abschluss eine lukrative Anstellung zu finden. „Internationale Studierende zahlen hohe Gebühren“, gab der Anwalt und Aktivist Aju Ghevarghese John in einem Interview mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung vergangenen September an. Vermittlungs- und Semestergebühren trieben sie schnell in Schulden. Besonders dann, wenn ihnen Sprachkenntnisse fehlten, bliebe nur der Auslieferjob, um sich über Wasser zu halten. Dazu mangele es ihnen meist an Wissen über Arbeitsrechte.

John nimmt hier auch die Gewerkschaft in die Pflicht. Sie müsse auf jene Kollegen „zugehen und herausfinden, warum Menschen, die in Deutschland bleiben wollen und damit auch ein Inte­resse an besseren Arbeitsbedingungen haben sollten, nach wie vor zögern, einer Gewerkschaft beizutreten“. Wenn keine Schritte zur Organisierung getan werden, bleibt dem Proletariat nur die Wahl aus zwei Optionen: Winter und Hartwinter.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Eiskalt kalkuliert", UZ vom 28. Februar 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit