Die Aktualität des Brechttheaters • Zum 10. Todestag von Manfred Wekwerth

Einiges erschüttern

Manfred Wekwerth

Vor zehn Jahren, am 16. Juli 2014, starb der Regisseur Manfred Wekwerth. 1951 als Darsteller und Leiter einer Laienspielgruppe von Brecht entdeckt, wurde er noch im gleichen Jahr sein Regieassistent und „Meisterschüler“. Nach Brechts Tod wurde Wekwerth 1960 Chefregisseur des Berliner Ensembles. Er promovierte an der Humboldt-Universität und gründete das „Institut für Schauspielregie“ an dem er auch eine Professur übernahm. 1977 wurde er Intendant des Berliner Ensembles und blieb es bis 1991. Von Für ihn als engagierten Kommunisten war es selbstverständlich, in seinem Staat, der DDR, auch politisch zu wirken: als Präsident der Akademie der Künste von 1982 bis 1990, als Mitglied des Zentralkomitees der SED von 1986 bis 1989.

Mit einer solchen Biographie geriet man nach der Einverleibung der DDR in die BRD ins Abseits. Wekwerth wurde verleumdet, sein Schaffen abgewertet. Obwohl – oder gerade weil – Wekwerth in seiner Haltung stets konsequent blieb, war er einer der angesehensten Theaterregisseure Europas. Er arbeitete unter anderem in den skandinavischen Länder, in Griechenland, der Türkei und in Kuba.

Der DKP war Manfred Wekwerth verbunden durch Auftritte auf den UZ-Pressefesten – gemeinsam mit seiner Frau, der Schauspielerin Renate Richter – und den Kulturforen der DKP. „Unsere Zeit“ unterstützte er als Autor und als kompetenter Ratgeber in Kulturfragen.

Seine Arbeit ist untrennbar mit dem Werk Bertolt Brechts verbunden. Im Februar 2004 hielt er in Havanna die Eröffnungsvorlesung des Brecht-Colloquiums anlässlich der Internationalen Buchmesse. Darin stellte er sich der Frage: Brechttheater – eine Antwort auf unsere Zeit?

Das Manuskript des Vortrags – das wir hier gekürzt abdrucken – hat er UZ zur Verfügung gestellt. Es ist eine Einladung, über Brecht und das Theater nachzudenken, sich nicht mit platten Antworten zufrieden zu geben und dann – vielleicht – zu der Frage zu kommen: Welches Theater soll man in diesen Zeiten denn bitte sonst machen?

Unsere Zeit ist mehr und mehr von einem bedenkenlosen Aktionismus befallen, der von rigoroser Effektivität, bedeutungslosem Erfolgszwang und Einsparung jeglicher Verschwendung, wie der an Gedanken und Geduld, geprägt ist. Man gibt Antworten, bevor die Fragen gestellt sind. Man verkündet Resultate, bevor überhaupt geforscht wurde. Man nennt etwas richtig oder falsch, gut oder böse, nicht, weil man es als solches erkannt hat, sondern um es vorhandenen und gewünschten Erkenntnissen anzupassen. Unternehmungen von Tragweite bedürfen nicht mehr irgendwelcher Begründungen, da sie auch unternommen werden, um Begründungen zu finden. Was Wirklichkeit ist, entscheidet seine Wirksamkeit. In der Wissenschaft führt so etwas zur Lächerlichkeit. In der Politik zur Katastrophe, deren aktueller Ausdruck der Präventivschlag ist.

Kaiser Wilhelm musste 1914 noch auf die Schüsse von Sarajewo warten, um Serbien, das ihn seit Langem störte, anzugreifen. Selbst Hitler brauchte noch den Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz, den er mit deutschen Soldaten, als Polen verkleidet, selbst inszenierte, um in Polen einzumarschieren und den Zweiten Weltkrieg zu beginnen.

Heute sind solche Gründe überflüssig. Der Krieg selbst ist Grund genug, da man ihn braucht, auch um Gründe zu finden Und selbst wenn keine Gründe gefunden werden, ist das noch lange kein Grund, mit dem Krieg aufzuhören, da man mit Bedacht und in vorchristlich-manichäistischer Weise die Welt in Gut und Böse eingeteilt hat und sich selbst die Rolle des Guten zudachte, ständig bedroht vom Reich des Bösen und der Schurken. Und wer soll einen Angreifer, der das Gute ist, hindern, sich gegen sein Opfer, das Böse also, zu wehren? Im Gegenteil. Da der Gute nicht nur das Recht des Guten, sondern auch des Stärkeren hat, hat er auch das Recht, sich Beschützer seines Opfers zu nennen und von ihm – wie in guten alten Zeiten im Chicago der Prohibitionszeit – Schutzgeld zu verlangen, heute in Gestalt von Öl, Freihandelszonen, Militärbasen und Willigkeit.

Einer der Gründe, warum ich die Frage, ob Brechttheater eine Antwort auf unsere Zeit ist, nicht sofort beantworte, ist Brecht selbst. Brecht hasste die schnellen Antworten. Selbst wenn er eine Antwort gefunden hatte und sie gefiel ihm, zog er sie immer wieder in Zweifel, gerade weil sie gefiel. Er nannte es die „kritische Haltung“, die nicht nur ein Schlüssel seines Denkens und Verhaltens, sondern auch seines Theaters ist. Den Zweifel nannte er ein Grundanliegen der Gattung Mensch, der die Menschwerdung erst ermöglichte und noch heute ermöglicht. Dem Lob des Zweifels widmete Brecht einige seiner schönsten Gedichte. Aber an einer Stelle des Stücks „Galileo Galilei“, die zumeist nur für einen naturwissenschaftlichen Disput gehalten wird, gibt Brecht, wie selten, unmittelbar Auskunft über seine ganz persönliche Methode, die Welt zu erkennen und zu verändern. Es ist die 9. Szene, in der Galilei, trotz des Verbotes durch die Inquisition, seine Forschungen wieder aufnimmt. Von seinen Schülern zur Eile gedrängt, seine Meinung zu den kürzlich entdeckten Sonnenflecken zu sagen, die den Stillstand der Sonne und die Bewegung der Erde beweisen würden, antwortet Galilei:

„Meine Absicht ist nicht zu beweisen, dass ich bisher recht gehabt habe, sondern: herauszufinden, ob. Ich sage: Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in die Beobachtung eintretet. Vielleicht sind es Dünste, vielleicht sind es Flecken, aber bevor wir Flecken annehmen, welche uns gelegen kämen, wollen wir lieber annehmen, dass es Fischschwänze sind. Ja, wir werden alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Misstrauen ansehen. Also werden wir an die Beobachtung der Sonne herangehen mit dem unerbittlichen Entschluss, den Stillstand der Erde nachzuweisen. Und erst wenn wir gescheitert sind, vollständig und hoffnungslos gescheitert und unsere Wunden leckend in trauriger Verfassung, werden wir zu fragen anfangen, ob wir nicht doch recht gehabt haben und die Erde sich dreht! Sollte dann aber jede andere Annahme als diese unter den Händen zerronnen sein, dann keine Gnade mehr mit denen, die nicht geforscht haben und doch reden. Nehmt das Tuch vom Fernrohr und richtet es auf die Sonne!“

Beginnen wir also unsere Überlegungen zum Brechttheater nicht damit, dass wir sagen, Brechttheater ist eine Antwort auf unsere Zeit, was uns gelegen käme, sondern schreiben wie – dem Rat Galileis folgend – an die Tafel: Brechttheater ist von der Zeit überholt. Und suchen wir nach möglichst guten Einwänden, die das belegen könnten.

Erster Einwand

„Brechtheater ist eine Verarmung und Vereinseitigung des Theaters, da es eine politische Lehranstalt für Ideologen sein will, um das Publikum gefährlich zu verführen. Unsere Zeit aber braucht auch auf dem Theater keine Ideologien mehr, sondern den ästhetischen Disput über Widersprüche in der Welt.“

Da dieser Einwand von einem Großen des europäischen Theaters, Peter Brook, kommt, möchte ich die Gegenfrage stellen: Was ist eigentlich Brechttheater? Ist es ein Theater, das nur Brecht spielt? Dann wäre das Berliner Ensemble, auch zu Brechts Zeiten, kein Brechttheater, denn es spielte mehr Stücke anderer Autoren als die von Brecht. Schon die zweite Premiere nach der Gründung 1949 war „Wassa Schelesnowa“ von Maxim Gorki, es folgten „Der Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz und „Der Biberpelz und Roter Hahn“ von Gerhart Hauptmann.

Vielleicht sind die Lehrstücke von Brecht das, was man unter Brechttheater versteht, denn in den Lehrstücken wird weitgehend auf das „Kulinarische“, wie Brecht den Theatergenuss zu dieser Zeit nannte, zugunsten der Belehrung verzichtet. Abgesehen, dass die Lehrstücke Brechts Reaktion auf eine Zeit offenen Klassenkampfes gegen den Faschismus waren, in der nichts nötiger als politisches Wissen gebraucht wurde, sind selbst die Lehrstücke keine „Lehranstalten, die das Publikum durch Ideologien gefährlich verführen“ wollen, da sie nicht zur Belehrung des Publikums, sondern der Spieler gedacht waren. Widersprüche auf der Bühne darstellend, sollten die Spieler den Umgang mit Widersprüchen im Klassenkampf lernen. Aber selbst das mit Freude am Spiel und nicht aus Belehrung.

Aber was ist nun Brechttheater? Bevor es etwas anderes ist, ist es Theater. Und Theater besteht – jedenfalls nach Brecht – darin, „dass lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen hergestellt werden und zwar zur Unterhaltung“. Hatte man erwartet, dass Brecht 1947, nach Deutschland zurückkehrend aus der Emigration, wieder zu den Lehrstücken greift, um Vernunft unter die besiegten und verwirrten Leute zu bringen, schreibt er gerade in dieser Zeit sein „Kleines Organon für das Theater“:

„Widerrufen wir also, wohl zum allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren, und bekunden wir, noch zu allgemeinerem Bedauern, nunmehr die Absicht, uns in diesem Reich niederzulassen. Behandeln wir das Theater als eine Stätte der Unterhaltung, wie es sich in einer Ästhetik gehört, und untersuchen wir, welche Art der Unterhaltung uns zusagt.“ So weit Brecht im „Kleinen Organon“.

Spricht man von Brechttheater, sollte man beachten, dass auf diesem Theater keine Belehrung stattfindet, die nicht unterhaltsam ist. Es wird keine Philosophie geben und keine Politik, ohne den Spaß und das Vergnügen daran. Ja, Brecht ergänzte in den fünfziger Jahren die These, dass es auf dem Theater darauf ankomme, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern, mit folgenden Worten:

„Es ist nicht genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse, aufschlussreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser Theater muss die Lust am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren.“

Sieht man Brecht-Texte einmal nicht nur nach ihrem Inhalt durch, sondern nach der Methode statistischer Wahrscheinlichkeit, wie oft zum Beispiel bestimmte Wortwendungen vorkommen, wird man eine überraschende Entdeckung machen: Begriffe wie „erkennen“, „verändern“, „produzieren“ kommen selten allein vor. Es heißt fast immer das Vergnügen des Erkennens, die Lust zur Veränderung, der Spaß der Dialektik, die Leidenschaft des Produzierens, der Menschen, Dinge und Prozesse. Und so weiter.

Diese Begriffe werden bei Brecht merkwürdigerweise zumeist übersehen, weil das dem falschen Bild vom Rationalisten Brecht mehr entspricht. Man hält sich lieber an das „reine“ Wissen, die „reine“ Produktivität, die „reine“ Erkenntnis, die „reine“ Belehrung – ohne das Theater.

In den letzten Gesprächen, die ich im Herbst 1956 mit Brecht hatte, beklagte er sich bitter, dass man sein „Theater „unnaiv“ betrachte. Als wolle er Theater durch Wissenschaft ersetzen. Dabei habe er doch die Wissenschaften hinzugezogen, nicht um das theatralische Vergnügen zu verringern. Im Gegenteil, er wollte es vergrößern. So wie Shakespeare zu seiner Zeit die neuesten Errungenschaften der Wissenschaften hinzuzog, um zu ganz neuen Leidenschaften, Späßen und Figuren zu kommen, die dem alten Theater abhandengekommen waren. Damals wurde der Plutarch aus dem Lateinischen das erste Mal ins Englische übersetzt. Shakespeare benutzte ihn sofort für seine Tragödie des Coriolan. Oder Thomas Morus, Verfasser der „Utopia“. Seine Lebensbeschreibung König Richards des Dritten (die übrigens eine Fälschung ist) verarbeitete Shakespeare sofort zu einem Stück, wahrscheinlich einem der bühnenwirksamsten Stücke überhaupt.

Aber auch Marx – so Brecht in jenem Herbst 1956 – sei ohne Begriffe wie Lust, Spaß, Genuss überhaupt nicht zu verstehen. Und auch bei ihm lese man gern darüber hinweg. Dabei stehe es in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“ schwarz auf weiß: der Zweck der Gesellschaft und der Zweck des Menschen ist der Mensch selbst. Der Mensch ist Selbstzweck. Um dieses allerdings zu erkennen und zu erreichen, sei allerhand gesellschaftliche Anstrengung nötig. Doch Vergesellschaftung heiße ja nicht, den Menschen als einzelnen auszulöschen, sondern ihm die Chance zu geben, seine Individualität, also seine Verschiedenheit zu entwickeln und so, wie Marx sage, „zu der Universalität der Eigenschaften, Fähigkeiten, Genüsse usw. zu kommen“.

Ein Satz von damals ist mir noch im Gedächtnis, mit dem Brecht das Gespräch abbrach: „Marx und Gleichmacherei! Ein Blödsinn. Erst wenn alle auf gleicher Stufe stehen, wird man ihre Unterschiede bemerken.“

Bevor man also von Brechttheater redet, muss man wissen, es ist Theater gemeint. Vollwertiges Theater mit runden, vitalen, widersprüchlichen, poetischen Figuren. Als nach der Premiere des „Kaukasischen Kreidekreis“´, bei der ich das Glück hatte, Ko-Regisseur von Brecht zu sein, die Darstellerin der Grusche, Angelika Hurwicz, entsetzt zu Brecht kam, weil das Publikum am Ende weinte, als der Armeleuterichter Azdak ihr das Kind der Gouverneurin zugesprochen hat, beruhigte sie Brecht: „Dann haben sie richtig gespielt.“ Das Publikum habe gegen seine eigenen Interessen geweint. Denn dieselben Leute würden doch in ihrem eigenen Leben kaum zustimmen, wenn Eigentum nicht mehr nach dem Erbrecht, sondern nach der Nützlichkeit verteilt würde. Dazu müsse man schon einiges erschüttern.

Zweiter Einwand

„Brecht war Marxist und wollte die Welt verändern. Marx ist tot. Die Welt hat sich als unveränderbar erwiesen. Der Kapitalismus hat gesiegt.“

Zunächst einmal: Selbst wenn dem so wäre, wäre das ja eine enorme Veränderung- Tatsächlich hat sich die Welt im letzten Jahrzehnt atemberaubend verändert, und zwar mehr, als es von rechts wie von links je erwartet wurde. Auch wenn die Veränderungen zum großen Teil andre sind als die – auch von Brecht – geplanten, kann man ja nicht die Veränderungen in Zweifel ziehen, allenfalls den Plan. Brecht wäre der Letzte, der einen Plan, wenn er gescheitert ist, nicht in Zweifel ziehen würde, denken wir an sein schönes Gedicht „Lob des Zweifels“. Aber Brecht lobt den Zweifel nicht, um zu verzweifeln, sondern um besonders bei Niederlagen Mut zu finden, von Neuem zu beginnen, indem man alles Bisherige überprüft.

Der Sozialismus in Europa – sofern es überhaupt schon Sozialismus war – ging zugrunde, als habe sich Lenins Voraussage von 1921 erfüllt: „Niemand kann den Kommunismus verhindern, wenn nicht die Kommunisten ihn selbst verhindern.“

Für die Emanzipation der Menschen ist der Verlust von Alternativen eine Katastrophe. Aber vielleicht auch eine Erfahrung, die hilfreich sein kann bei einem erneuten Versuch, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen Menschen gedemütigte, niedergedrückte, elendige Wesen sind“. Denn in diesen Worten des jungen Marx sah Heiner Müller zum Beispiel, sonst Skeptiker aus Leidenschaft, den „praktischen Glutkern des Marxismus“, der nie erlöschen wird. So kann die Niederlage des Sozialismus auch Erkenntnis sein, dass es ohne wirkliche Herrschaft des Volkes keinen Sozialismus geben wird. Ja, dass Volkseigentum erst durch die wirkliche Übernahme der Betriebe durch die Produzenten Volkseigentum wird. Hier gilt Brechts Warnung: Was sind Staaten ohne die Weisheit des Volkes? Oder, wie es Heiner Müller radikaler sagt: „In der Sowjetunion und in der DDR wurde der großangelegte Versuch unternommen, Marx zu widerlegen. Der Versuch ist gescheitert.“

Doch hin wie her: der Kapitalismus hat gesiegt, mindestens in Europa. Hat er das wirklich, nur weil er es von sich selbst behauptet? Bei der Demonstration der 700.000, März 2003 in Berlin, gegen Bushs Angriff auf den Irak und seinen Griff nach dem Öl, sah ich zwei Transparente, auf denen stand „Eine andere Welt ist möglich“ und „Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist übriggeblieben“.

Er ist übriggeblieben mit all seinen Widersprüchen. Denn der Sieg des Kapitalismus ist zugleich sein größter Verlust: er hat sein Feindbild verloren, das ihm kein Bin Laden und kein „Schurkenstaat“ ersetzen kann. Es ist „das Reich des Bösen“, was Ronald Reagan unter Kommunismus verstand. Denn das Feindbild vom Gespenst des Kommunismus hielt die verfeindeten Brüder des Kapitals einigermaßen zusammen und bremste den Abbau des Menschlichen und Sozialen, was nun ungehindert betrieben wird. Denn ohne Gegenkraft – und mindestens als Gegenkraft war der Sozialismus real – wird der Kapitalismus hemmungslos und uferlos und findet zu seiner Normalität, also zu Marx zurück. Und während ich in einer linken deutschen Zeitung auf die Frage, ob Marx überholt ist, lese, er sei so wenig überholt wie die Höhlenmalerei der Steinzeit, und man solle ihn künftig als Dichtung, nicht als Wahrheit behandeln, klingt es heute aus den USA schon anders:

„In den dreißiger Jahren wurde der Faschismus bisweilen als ,Kapitalismus ohne Maske‘ bezeichnet, das heißt als reiner Kapitalismus ohne demokratische Rechte und Organisationen. Wir wissen heute, dass diese Definition zu einfach ist, aber auf den heutigen Neoliberalismus trifft sie zu: Er ist tatsächlich ein ,Kapitalismus ohne Maske‘. Repräsentiert er doch eine Epoche, in der die Wirtschaftsmächte stärker und aggressiver sind und auf weniger organisierten Widerstand treffen als je zuvor. … Lauthals und hartnäckig verkündet der Neoliberalismus, dass es keine Alternative zu ihm gebe und die Menschheit ihren höchsten Stand erreicht habe, als das Ende der Geschichte, was schon viele Epochen vor ihm behaupteten.“ Das schreibt Robert W. McChesney in der Einleitung zu Noam Chomskys Buch „Profit over People“.

Die Zeit, so scheint es, hat Brecht wieder eingeholt. Waren seine Stücke für viele Vergangenheit, sind sie heute greifbare Gegenwart. Die Massenarbeitslosigkeit zum Beispiel in dem Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“, geschrieben 1930, ist nicht (wie Johanna glaube und wie wir es heute lesen) Resultat einer Wirtschaftsflaute und mit dem nächsten Aufschwung wieder zu beheben, Die „industrielle Reservearmee“ (Marx) ist Bestandteil des funktionierenden Kapitalismus. Nicht seine Flaute, sein Erfolg produziert sie. Denn mit den Aktienkursen steigen auch die Arbeitslosenzahlen. Was man heute „shareholder value“ nennt, war für Brecht die „soziale Sintflut“. Aber er wäre nicht Dialektiker, im Aufstieg des Kapitals nicht auch seinen Abstieg zu sehen. In diesem Zusammenhang erzählt er gern eine Anekdote aus den dreißiger Jahren: „Henry Ford, der Ältere, zeigt Philippe Reuther, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Automobilarbeiter, stolz seine Fabrikhalle, in der nur noch Automaten arbeiten. „Diese Automaten“, sprach Henry Ford, „werden nicht mehr streiken.“ „Nein“, antwortete Philippe Reuther, „aber sie kaufen auch keine Autos.“

Doch nicht nur die Stücke Brechts, auch seine Art und Weise, sie auf der Bühne darzustellen, eben die „Verfremdung“, verdient unsere Aufmerksamkeit in einer Welt, die sich gern selbst verklärt, um nicht erkannt zu werden.

„Demokratisierung“, sagt man, wenn man ein Land überfällt und den Kapitalismus wieder einführt. In einer „Wissensgesellschaft“ leben wir, sagt man jenen, denen man durch Schulabbau, Lehrermangel, Studiengebühren und Elitekult das Wissen vorenthält. Und jene „Informationsgesellschaft“, die den Kapitalismus angeblich abgelöst hat, macht jede Information zur Ware, deren Wert nicht die Information ist, sondern der Verkauf.

Hier ist Verfremdung, also der Blick, der hinter dem Gewohnten die ungewöhnlichen Ursachen entdeckt, heute nicht nur ein geeignetes Mittel des Theaters, sondern die Chance, sich im gewöhnlichen Leben zurechtzufinden.

Es gibt auch heitere Aktualitäten. Erst kürzlich traf ich einen Schweizer Millionär, der in tiefer Sorge war. Er hat ein gutgehendes Unternehmen und zwei Söhne. Der eine sechs Jahre, der andere zehn. Seine Sorge: Wie soll er seine Söhne erziehen? Als guter Christ will er, dass sie gute Christen werden und da heiße es: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Aber seine Söhne sollen auch einmal die Firma übernehmen, und da wäre die Liebe zum Nächsten ruinös. Denn da gilt: Nieder mit der Konkurrenz!

Er fand seinen Seelenfrieden wieder, als ich ihm Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ zu lesen gab. Eine gute Shen-te, die allein Gutes tut, und der böse Vetter Shui-ta, der die Verluste, die das Gutsein bringt, durch Härte wieder ausgleicht, und alles in einer Person, das schien unserem Schweizer Millionär ein gangbarer Ausweg aus seiner Glaubenskrise zu sein.

Trotz der Brecht-Renaissance, der vorhandenen und der zu erwartenden, soll das nicht heißen, dass Brecht alles voraussah und sich nie irrte. Sein Glaube an die Arbeiter und ihre Klasse zum Beispiel, der bei ihm schon fast religiöse Züge trug, hat sich nicht erfüllt. Sein Satz „Wo ein Arbeiter ist, ist nicht alles verloren“, formuliert 1932 in dem Stück „Die Mutter“, erwies sich damals schon als Utopie. Viele Arbeiter stimmten für Hitler. Und wie erst muss er heute Utopie sein: Die Angst um den Arbeitsplatz und eine gigantische Arbeitslosenarmee, vom Kapital organisiert durch Zurücknahme von 150 Jahren Arbeiterbewegung, dazu eine bis dahin nie gekannte Medienattacke, die das als alternativlos darstellt, bringen viele Arbeiter dazu, nicht mehr gegen Ausbeutung zu kämpfen, sondern dafür, sich ausbeuten zu lassen.

Aber soll man deswegen jede Utopie aufgeben, nur weil eine nicht in Erfüllung ging? Verlust von Utopien ist Verlust an Lebenswillen. Aber gerade die Stärkung des Lebenswillens ist erklärtes Ziel künstlerischer Betätigung, jedenfalls nach Brecht. Oder wie es der Philosoph Jürgen Habermas ausdrückt: „Denken ohne Utopien ist eine Wüste ohne Oasen.“

Von Brechts Utopie, einer Gemeinschaft von freien Produzenten, die Emanzipation, Chancengleichheit und Gerechtigkeit erwirkt, bleibt die Hoffnung, dass sich auch heute genügend Leute finden werden, die die Unerträglichkeit der Zustände empfinden, erkennen und beseitigen.

„Marx ist tot, und Brecht hat sich mit ihm erledigt.“ Noch einmal nachdenkend über diesen Einwand, kommen mir doch Zweifel. Ein evangelischer Pfarrer, den ich neulich traf, wurde deutlicher: „Nicht einmal Jesus, würde er heute leben und die Mühseligen und Beladenen zu sich bitten, würde ohne Marx auskommen.“

Dritter Einwand

„Brecht glaubt an die Vernunft. Durch eingreifendes Denken wollte er Vernunft verbreiten, dass die Menschen die Welt erkennen und verändern. Vernunft, seit Diderot als Allheilmittel gepriesen, hat sich als die eigentliche Krankheit erwiesen. Wissenschaftsgläubigkeit als fataler Irrtum. Die Welt ist nicht erkennbar.“

Diesen Einwand will ich ganz kurz beantworten, nämlich mit Brecht selbst. Man schrieb das Jahr 1954. Das Berliner Ensemble befand sich auf seiner ersten Paris-Tournee. Gezeigt wurde „Mutter Courage und ihre Kinder“, der Erfolg war enorm. Brecht, der Erfolg liebte, aber den Erfolgsrummel nicht mochte, zog sich in das kleine Café im berühmten Théâtre Sarah-Bernhardt, unserem Spielort, zurück. Und eben da fand eine historische Begegnung statt. Eugène Ionesco, Mitbegründer des absurden Theaters der 50er/60er Jahre, hatte Brecht aufgespürt. Umgeben von Anhängern, die ihn bewunderten, stellte er Brecht zur Rede: „Ich beschuldige Sie, Herr Brecht, der Tötung der Gefühle auf der Bühne und des Terrors der Vernunft.“ Seine Rede gipfelte in dem Ausruf: „Geben Sie sich keine Mühe, Brecht, diese Welt ist unerkennbar!“

Brecht wandte, wie er es immer tat, wenn ihm etwas unbehaglich war, mehrmals den Kopf hin und her und sagte dann sehr leise, aber deutlich: „Wenn die Welt unerkennbar ist, Herr Ionesco, woher wissen Sie das dann?“

Ich weiß nicht mehr, was Ionesco antwortete. Ich weiß nur, dass er Brecht niemals wieder in Sachen Vernunft angesprochen hat.

Vierter Einwand

„Brecht will politisches Theater.“

Obwohl dies wahrscheinlich der häufigste Einwand ist, trifft man ihn meistens ohne Begründung. es scheint selbstverständlich, dass politisches Theater heute antiquiert ist, überholt, ja, lächerlich. Das Letztere ist nicht einmal von der Hand zu weisen, wenn man unter Politik versteht, was die sogenannte „politische Klasse“, die heutige Politiker-Garde, aufführt, denn es ist perfektes Schmierentheater.

Aber auch wenn man das politische Theater Brechts nimmt, scheint sein Schicksal besiegelt. Es konnte in den letzten Jahren weder den sozialen Kahlschlag mit der verheerenden Massenarbeitslosigkeit verhindern noch die Rückkehr des Kriegs als Fortsetzung der Politik, und auch nicht die Neubelebung des Faschismus, obwohl in dieser Zeit gerade Stücke wie „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ und „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ gespielt wurden, die sich direkt gegen diese Entwicklung wehrten.

Der Verzicht auf politisches Theater ist bei Theaterleuten oft nicht Ablehnung, sondern Resignation. Doch die Enttäuschung über die Wirkungslosigkeit des Theaters ist eigentlich ein Resultat der Überschätzung des Theaters. Der Meinung nämlich, Theater könne allein die Welt verändern.

Brecht hat nie behauptet, dass Theater allein die Welt verändern kann. Theater kann politische Bewegungen, die es in der Gesellschaft gibt, beleben oder bremsen, es kann sie nicht ersetzen.

Im Beleben politischer Bewegungen allerdings vermag es mehr als alle anderen Künste. Beaumarchais‘ „Figaros Hochzeit oder die tollen Tage“ verursachte ganz sicher nicht die Französische Revolution, löst aber in der revolutionären Situation von 1784 eine Bewegung aus, die der Sturm auf die Bastille direkt fortsetzte. Brechts „Galileo Galilei“ konnte die Atombombe nicht verhindern, aber bestimmt hat es die Zahl der Freunde der Atombombe vermindert und so etwas wie ein Weltgewissen geweckt. Eine Aufführung von Brechts „Turandot oder der Kongress der Weißwäscher“ hat in keiner Gesellschaft den käuflichen Missbrauch der Intellektuellen zwecks Machterhaltung verhindert, aber es hat den TUI in die Welt gebracht, Brechts Umkehrung des Intellektuellen in TELEK-TU-IN, das Zerrbild, das bereit ist, für die Herrschenden ein X zu einem U zu machen.

Ja, Brecht will politisches Theater. Schon mit seinen „Lehrstücken“ greift er in den 30er Jahren unmittelbar in den Klassenkampf ein. Die „Maßnahme“, ein Diskurs über Sittlichkeit und Klassenkampf, wurde nicht nur für Arbeiter gespielt, sondern mit Arbeitern. Auch ein Stück wie „Die Gewehre der Frau Carrar“ , geschrieben während des spanischen Bürgerkrieges, greift unmittelbar in den politischen Kampf ein, indem lapidar festgestellt wird, in diesem Kampf gibt es keine Neutralität.

Aber es ist ein Irrtum, Brechts politisches Theater auf das politische Thema zu beschränken. Natürlich ist ein Stück wie „Die Tage der Commune“ eminent politisches Theater. Aber nicht weil darin politische Themen abgehandelt werden, sondern weil es eine politische Haltung bezieht: die Lust an der Veränderung der Dinge, der politischen wie der privaten. Die Liebe des Communarden Jean zu Babette, auf die er besteht, obwohl die harten Zeiten der Liebe entraten, ist mindestens so politisch wie der Sturm auf das Pariser Stadthaus. Umgekehrt kann ein Stück wie „Die Kleinbürgerhochzeit“, in dem kein politisches Wort fällt, politischer sein als manch politisches Pamphlet. Demontiert es doch in Chaplinscher oder Valentinscher Weise das größte Hemmnis aller Revolutionen: den selbstgefälligen und selbstgenügsamen Kleinbürger.

Stücke mit politischen Themen müssen nicht politisch sein, zum Beispiel wenn sie langweilig sind, und Stücke der privatesten Sphäre können Revolutionen vorantreiben, wie eben Beaumarchais „Tolle Tage“. Verzicht auf Politik ,wie er heute an Theatern um sich greift, ist nicht etwa keine Politik, sondern falsche. Es ist „selbstverschuldete Unmündigkeit“ wie sie schon Immanuel Kant kritisierte. Brecht geht noch einen Schritt weiter:

„Ohne Ansehen und Absichten kann man keine Abbildungen machen. Ohne Wissen kann man nichts zeigen; wie soll man da wissen, was wissenswert ist? Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muss er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft“, schreibt Brecht im „Kleinen Organon für das Theater“.

Fünfter Einwand

„Der Brecht-Stil. Brecht will mit seinem Theater das Publikum aufklären. Die Zeit der Aufklärung ist vorbei. Heute zerfällt die Welt in ihre Einzelheiten, Zusammenhänge verschwinden. Man kämpft, wie der bekannte Vertreter der Postmoderne, Jean-Francois Lyotard, sagt, ‚gegen den weißen Terror der Wahrheit, mit und für die rote Grausamkeit der Singularitäten‘.“

Wie aber soll der Schauspieler die Abgründe der heutigen Welt darstellen, wenn Brecht nur Gründe gelten lässt? Und wie soll der Zuschauer Abgründe erleben, wenn Brecht durch Verfremdung eine Distanz schafft und jede Beteiligung des Zuschauers verhindert?

Zunächst: Abgründe sind keine Erfindung der heutigen Welt. Vielleicht fallen sie heute mehr auf, weil man heute viel mehr von ihnen redet. Aber schon Brechts Stück „Im Dickicht der Städte“, geschrieben 1923, zeigt den abgründigen Kampf zweier Männer, die nicht wissen, warum sie kämpfen, was den Kampf verschärft. Nur nennt Brecht – als alter Hegelianer – Abgründe bei ihrem bürgerlichen Namen: und da heißen sie seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel „Widersprüche“. Und wenn Brecht sein Publikum „aufklären“ will – und er will es tatsächlich –, so darüber, dass Widersprüche (oder Abgründe) nicht nur in der Welt existieren, sondern sogar die Welt beherrschen. Doch wo bei anderen der Glaube an ewige Abgründe anfängt, beginnt bei Brecht der Zweifel: wie ist der Grund der Abgründe? Brecht lässt also nicht nur die Gründe gelten, sondern auch die Abgründe. Allerdings müssen es sich die Abgründe gefallen lassen, befragt zu werden. Nicht um sie zu verkleinern, im Gegenteil, Abgründe (also Widersprüche) werden umso tiefer, je weniger man sie als „ewig“, also als gott- oder naturgewollt hinnimmt (als „Immeriges“, wie Brecht sagt), sondern als Entstandenes, damit Vergängliches. Eben als Irdisches, von Menschen Gemachtes, nicht von Gott.

Bestritten wird nicht, dass in dieser Welt auch Unänderbares anzutreffen ist. Denn „das lange nicht Geänderte“, schreibt Brecht im „Kleinen Organon für das Theater“, „scheint unänderbar. Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständlich ist, als dass wir uns bemühen, es wirklich zu verstehen.“

Gegen solche Selbstverständlichkeiten, die sich durch Gewöhnung der Aufmerksamkeit des Menschen entziehen, und gegen die „Grausamkeit der Singularitäten“, jene Einzelheiten also, die ihre Zusammenhänge leugnen, kurz, gegen eine Welt, die stillsteht, entwickelte Brecht sein Theater, das er „nicht-aristotelisch“ nannte. Bekanntlich sah Aristoteles in seiner „Poetik“ die Wirkung der Tragödie darin, dass sie durch Nachahmung einer Handlung beim Zuschauer Furcht und Mitleiden erregt, um den Zuschauer von Furcht und Mitleiden zu reinigen. Dazu identifiziert sich der Schauspieler völlig mit der darzustellenden Figur und veranlasst den Zuschauer, es ihm gleichzutun und das Schicksal des Helden wie sein eigenes zu erleben, um durch das Mitleiden künftig von Furcht und Leid gereinigt zu sein.

„Diese Reinigung“, schreibt Brecht in seinen Anmerkungen zu Aristoteles, „erfolgt auf Grund eines eigentümlichen psychischen Aktes, der Einfühlung des Zuschauers in die handelnden Personen, die vom Schauspieler nachgeahmt werden.“ Brecht verweist in diesem Zusammenhang auf Cicero, der von dem römischen Schauspieler Polus berichtet, welcher, um das Publikum mitleiden zu lassen, als Elektra, die ihren Bruder beweint, die Urne mit der Asche seines gerade verstorbenen Kindes im Arm trug.

Gegen ein Theater der bloßen Einfühlung verfasste bereits Denis Diderot 173 sein berühmtes „Paradoxon über den Schauspieler“. Dem Anliegen der Aufklärung folgend, reichte Diderot auch auf dem Theater das bloße Nachahmen der Natur und ihre Empfindungen nicht aus, um vom – wie er schreibt – „empfindenden zum denkenden Menschen“ zu kommen. Für Diderot führt nicht das eigene Leiden des Schauspielers auf der Bühne zu großen Gefühlen, sondern inwieweit er in der Lage ist, „mit kühlem Kopf und ausgezeichneter Urteilskraft“ große Gefühle nachzuahmen, die er an Menschen beobachtet hat. Und je weniger er sie auf der Bühne teilt, umso wirksamer werden sie. Ja, Diderot empfiehlt, um den „kühlen Kopf und die ausgezeichnete Urteilskraft zu behalten, sogar die entgegengesetzten Gefühle zu entwickeln: in einer Liebesszene also auch die der möglichen Abneigung, in einer pathetischen Szene deren prosaisches Gegenteil.“

Höhepunkt des Theaters der Einfühlung war sicherlich das „System“ des großen russischen Theaterreformers K. S. Stanislawski, der mit seiner Forderung nach „Wahrheit der Empfindungen“ auf der Bühne, mit der er gegen die erstarrten Klischees des Hoftheaters seiner Zeit rebellierte, große realistische Wirkungen erzielte. Aber auch er musste nach den großen revolutionären Umbrüchen in Russland feststellen, dass zur Darstellung der neuen sozialen Widersprüche bloße Einfühlung nicht mehr ausreicht. In seinen späten Inszenierungen verlangte er vom Schauspieler neben der Einfühlung in die Figur auch die Kritik der Figur und verlangte vor der Einfühlung von ihm „physische Handlungen“, um so die Gefühle der Figur erst einmal zu erkunden.

Kritiklose Einfühlung birgt im Theater mehr als in anderen Künsten die Gefahr der Täuschung, durch die das Publikum verführt wird. Diese Gefahr sah Brecht auch in der „Theatralisierung der Politik“. So nannte er die Masseninszenierungen der Nürnberger Parteitage durch die Nazis ein „Theater des Glaubenmachens“.

Eine heutige Entsprechung des „Theater des Glaubenmachens“ sind die sogenannten „Events“ des Showbusiness als Höhepunkte substanzlosen Miterlebens von Scheinrealitäten. „Theatralisierung der Politik“ findet regelmäßig auch in den Wahlkämpfen der sogenannten Repräsentationsdemokratien statt, wo echte Kämpfe zwischen echten Alternativen perfekt vorgetäuscht werden.

Auch gegen den Missbrauch des „Theaters der Einfühlung“ entwickelte Brecht sein „nicht-aristotelisches“ Theater, das auch ein neues Verhältnis zum Helden auf der Bühne schafft.

Der Zuschauer soll nicht mehr „wie am Gängelband“ dem Schicksal des Helden folgen, sondern soll „mit seinem Urteil dazwischenkommen können“.

Durch bestimmte künstlerische Maßnahmen, Verfremdung genannt, wird bloße Einfühlung des Zuschauers verhindert, so dass er aus einer bewussten Distanz den subjektiven Horizont der Bühnenfigur überschreiten kann, um Zusammenhänge und Widersprüche zu entdecken, die der Figur selbst nicht bewusst sind, die aber ihr Verhalten und ihren Charakter erst wirklich erkennbar und also erlebbar machen. Dabei wird das „Selbstverständlichste“ und „Natürlichste“ so dargestellt, dass es beim Zuschauer Verwunderung erregt, den wichtigsten Schritt zur Erkenntnis, aber auch zur Unterhaltung.

Brecht nennt das die kritische Haltung des Zuschauers und auch des Schauspielers.

Das „aristotelische” Theater dagegen benutzt die dem Theater innewohnende Magie, eben die Täuschungskunst, den Vorgängen und dem Charakter des Helden und seinem Verhalten die Aura des Einzigmöglichen, des „Von-der-Natur-für-immer-Gegebenen (oder wie Brecht sagt: des „Immerigen“) zu verleihen und es so der Veränderungsmöglichkeit zu entziehen.

Das nicht-aristotelische Theater hingegen veranlasst schon durch seine Art der Darstellung den Zuschauer, den Helden und sein Verhalten nicht schicksalshaft hinzunehmen, sondern für die Dauer des Spiels die auf der Bühne gezeigten Vorgänge im Geist durch andere möglichen Vorgänge zu ergänzen. Dadurch verlieren die Vorgänge den Charakter des Immerigen. Sie werden historisiert.

In seinen Ergänzungen zum „Kleinen Organon für das Theater“ sagt Brecht es so: „Damit auf spielerische Weise das Besondere der vom Theater vorgebrachten Verhaltensweisen und Situationen herauskommen und kritisiert werden kann, dichtet das Publikum im Geist andere Verhaltensweisen und Situationen hinzu und hält sie, der Handlung folgend, gegen die vom Theater vorgebrachten. Somit verwandelt sich das Publikum selbst zum Erzähler.“

Brechttheater reduziert also nirgends Abgründe, Ecken und Kanten dieser Welt, um den Zuschauern aus nüchterner Distanz zu belehren. Im Gegenteil, Brechttheater heißt: Aufreißen von Widersprüchen und aktive Beteiligung des Zuschauern nicht nur als Betrachter, sondern als Mitspielen. Ziel des Brechttheater ist es nicht, Widersprüche auf der Bühne schnell zu lösen, damit der Zuschauer schnell erlöst werde. Im Gegenteil, Brechttheater heißt Steigerung der Widersprüche bis zur Unerträglichkeit, um das Ertragen und die Geduld, die Veränderungen verhindern, beim Zuschauer in Frage zu stellen.

Brechttheater ist also der Versuch, in alles, was erstarrt ist, sei es durch Gewöhnung, Alltäglichkeit, Routine oder Ideologie, Bewegung zu bringen. Ja, das Prinzip der B e w e g e n s, Brecht sprach zuletzt gern von dialektisieren, ist eigentlich das A und O aller seiner Bemühungen auf und mit dem Theater. Jener erstaunte Blick, mit dem der Schauspieler sich seiner Rolle nähert, und der erstaunte Blick, mit dem der Zuschauer die Bühne betrachtet, vermögen alles, was gezeigt wird, als Vorgang zu zeigen, also in Bewegung zu bringen, sogar den Stillstand.

Brecht schätzte Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Er plante sogar kurz vor seinem Tode eine Aufführung des Stücks am Berliner Ensemble, die nicht zustande kam. Der völlige Stillstand einer Welt, den dieses Stück zeigt, und der im üblichen Theater leicht zu Langeweile führt, sollte mit der Spielweise Brechts zum atemberaubenden Vorgang werden, indem der Zuschauer das Warten auf der Bühne nicht teilt, sondern, verwundert über solches Verhalten, seine Ungeduld dagegenhält. Estragon und Wladimir, die auf Godot warten, sollten bei Brecht allerdings nicht schlechthin Clochards sein, sondern Arbeitslose. Dass Arbeitslose nicht auf Arbeit warten, sondern auf Godot, macht den Vorgang noch erstaunlicher, eben zur Clownerie.

Brecht wurde oft vorgeworfen, dass in seinem Antikriegsstück „Mutter Courage und ihre Kinder“ die Courage, die alles durch den Krieg verloren hat, nichts lernt und am Ende weiter in den Krieg zieht.

Bei richtiger Spielweise aber muss die Courage nichts lernen, damit der Zuschauer lernt. Ja, gerade ihre Unbelehrbarkeit, bis ins Unerträgliche gesteigert, löst das Unverständnis des Zuschauers aus. Und nicht nur sein Verstand ist es, der die Unbelehrbarkeit der Courage kritisiert, es sind ebenso seine Gefühle, darunter das wichtigste, wenn es um neue Erkenntnis geht: das Erschrecken.

Brecht sprach im letzten Jahr seiner Arbeit oft von der Naivität seines Theaters, ohne die es nicht zu verstehen und schon gar nicht zu machen sei. Er meinte nicht die primitive Naivität, die das Gegenteil des Nachdenkens ist, Er meinte die Naivität, die der Analyse folgt. Es reiche eben nicht, wenn der Zuschauer am Ende eines Stücks neue Einsichten hat. Solche Einsichten, die das Theater natürlich vermitteln muss, müssen durch das Theater gleichzeitig in naive Reaktionen umgearbeitet werden: in Erschrecken, Trauer, in Protest, in Zorn, in Staunen, aber auch in Lachen, Verspotten, Belustigen, Erfreuen und so weiter.

Erst diese naiven Reaktionen verleihen dem Gedanken den „Glutkern” des Handelns. Im Sinne solch naiven Erlebens, das in Brechts Theater neuen Erkenntnissen und Einsichten folgen muss, und das aus „reinem“ Denken das von Brecht so geschätzte eingreifende Denken macht, sprach Brecht von der „kritischen Haltung” als von einer enorm künstlerischen Haltung. Denn die kritische Haltung, die der Schauspieler und der Zuschauer einnehmen, macht das Erkennen der Welt und den Eingriff zu ihrer Veränderung zum Genuss. Es ist jener Genuss, den Karl Marx in den Grundrissen zur Kritik der Politischen Ökonomie in der bewussten Lebenstätigkeit des Menschen sieht, indem der Mensch sich in seinen Werken wieder als tätiges Wesen entdeckt und diese Tätigkeit genießt. So auch im Theater, wenn der Zuschauer vom bloßen Betrachter zum aktiven Mitspieler wird, wie Brecht es sich in seinem Theater wünschte. Als ich Brecht einmal fragte, wen er in diesem Sinn als Zuschauer am liebsten hätte, antwortete er schlicht und einfach: Karl Marx.

Episches Theater nannte Brecht in den zwanziger Jahren seine Art Theater zu machen, die davon ausgeht, dass auf der Bühne durch das Spiel des Schauspielers Geschichten erzählt werden, die den Zuschauer selbst zum Erzähler machen. Und dass die Fabel, die Geschichte eben, das Herzstück des Theaters ist, in diesem Punkt stimmt Brecht mit Aristoteles überein. Später in den fünfziger Jahren, beschäftigt; eine poetische Form für die sozialistischen Umwälzungen, die im Osten Deutschlands stattfanden, zu finden, sprach Brecht vom „Dialektischen Theater“. Für die Verbindung von philosophischen Einsichten mit elementaren Genüssen (eben der Naivität), wie es Brecht in den letzten Jahren seiner Theaterarbeit versuchte, reichte aber auch diese Bezeichnung nicht mehr aus. Zuletzt sprach Brecht – noch sehr vorsichtig allerdings – von philosophischem Volkstheater.

Schön und gut, höre ich sagen, das ist die Theorie. Aber wo ist die Praxis? Wo findet man heute philosophisches Volkstheater”? Wo findet man heute Brecht? Ist Brecht heute da, wo man Brecht-Stücke spielt? Aber gerade, weil,selbst in Deutschland, wieder Stücke von Brecht gespielt werden, bemerkt man, wie sehr Brecht abwesend sein kann, besonders in seinen eigenen Stücken. Wenn man sie zum Beispiel „ohne Ansichten und Absichten” spielt oder nur, um die Kassen zu füllen.

Am Deutschen Theater in Berlin sah ich kürzlich eine Aufführung der „Mutter Courage“, noch dazu von einem berühmten Regisseur, die mit gekonnter Flachheit einschlägiger Fernsehserien selbst die spannende Geschichte der Marketenderin und ihrer Kinder derart niederbügelt, dass man sich – von Langeweile geplagt – am Ende fragt, ob Brecht überhaupt ein Dramatiker sei. Oder ein „Baal“ am Nationaltheater in Weimar, der das Stück mit der alten Keule des Symbolismus erschlägt, indem immerfort Bedeutungen zelebriert werden, bevor die Geschichte erzählt wird.

Wie aber stellt man heute die Anwesenheit von Brecht fest? Ist es der Brecht-Stil, von dem man nur eins mit Sicherheit weiß, dass Brecht ihn nicht kannte, da er als Regisseur mit jeder Inszenierung die Stilmittel wechselte?

Vielleicht hilft eine Bemerkung weiter, die der Komponist und Freund Brechts, Hanns Eisler, einmal machte, von dem man sagt, dass er Brecht besser kannte als der sich selbst. Das Gestische, so Eisler, ist ja eine der genialen Entwicklungen von Brecht. Er hat das genauso entdeckt wie Einstein seine berühmte Formel.

Danach ist die Sprache, die selbst Goethe noch für das Hauptmittel des Theaters hielt, das gesprochene Wort also, eigentlich nicht die Sprache des Theater, jedenfalls nicht hauptsächlich. Die Sprache des Theaters ist der Gestus, übrigens eine Worterfindung von Brecht. Der Gestus ist die Haltung eines Menschen, die er in einer bestimmten Situation einem anderen Menschen gegegenüber einnimmt und die alle seine Ausdrucksmittel bestimmt: seine Körperhaltung, seinen Tonfall, seine Gesten, seinen Gesichtsausdruck, eben alles. So wird die Sprache auf der Bühne erst wirksam, wenn ihr ein bestimmter Gestus unterliegt, eben der einer konkreten Situation: man streitet, man überzeugt, man beleidigt, man bittet, man fordert, man weist zurück, man ladet ein, man flucht, man mahnt, man befiehlt, man schmeichelt, man verurteilt, man umarmt und so weiter.

Brecht wird da auf der Bühne anwesend sein, wo man sich bemüht, konkrete Situationen zwischen Menschen herzustellen, um von dort aus alle Innen- und Außenleben der handelnden Figuren abzuleiten.

Das deutsche Wort „schön“ zum Beispiel hat im rein sprachlichen Theater eine einzige Bedeutung, nämlich schön zu sein. Im gestischen Theater kann es viel mehr bedeuten, je nachdem, in welcher Haltung und in welcher Situation es gesagt wird, kurz, welcher Gestus ihm unterliegt. Wird ein Mann zum Beispiel von seinem Freund gefragt, ob er ihm für eine Woche sein neues Auto leihen kann, und er sagt schön, drückt er damit sicher nicht sein Entzücken aus. Auch der Ausruf eines Vaters, „Das ist eine schöne Bescherung!“, wenn sein Sohn mit einem Fußball die Fensterscheibe des Nachbarn zertrümmert hat, sagt nicht, dass der Vater das schön findet.

Einen Gestus, also eine bestimmte Haltung, nehmen nicht nur einzelne Figuren zu einander ein, auch eine Szene, ja, eine ganze Inszenierung kann einen Gestus haben, und zwar gegenüber dem wichtigsten Partner, dem Publikum. Zum Beispiel den Gestus der Provokation. Oder des Berichtens. Oder des Appellierens. Oder des Beschämens. Ein und dasselbe Stück kann durch den Wechsel des Gestus sogar seinen Inhalt wechseln.

1959 inszenierten wir am Berliner Ensemble Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ im Gestus einer marktschreierischen Moritat über einen Straßenräuber. Damals sahen noch viele Deutsche in Hitler zwar einen Verbrecher, aber eben auch einen Dämon, dessen Größe sie unweigerlich verführt hätte. Wir zeigen Ui/Hitler auf den Bühne mit allen Mitteln der Jahrmarktsbude als miesen kleinen Räuber und beschämten alle; die ihm nachgelaufen sind. Heute müsste man das Stück wahrscheinlich anders spielen, nämlich im Gestus einer grausigen Shakespeare-Historie, die nicht so sehr die Geschichte des Gangsters Arturo Ui erzählt. sondern die der Trustleute, die Ui mit Geld und Politik erst für ihre Zwecke aufbauen, um ihn, wenn er seine Schuldigkeit getan hat, zu verteufeln und fallen zu lassen. Nicht Beschämung des Publikums wäre hier ein möglicher Gestus, sondern zuverlässiges Berichten, die Sensation der Fakten also in bizarren Grausamkeit. Ein solcher Gestus machte das Stück zur Gegenwart. Die Taliban und ein Saddam kämen in Sicht und die Konzerne, die sie erst machen und dann verteufeln, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.

Der Komponist Eisler sprach auch von gestischer Musik und nannte dafür als besonderes Beispiel den Bericht über den Tod eines Genossen, der an die Wand gestellt wurde aus Brechts Stück „Die Mutter“. Es ist die Szene, als die Mutter erfährt, dass Pawel, ihr Sohn, als Revolutionär standrechtlich erschossen wurde. In tiefer Trauer erschüttert, hält die Mutter den Brief mit der Mitteilung in der Hand, die Musik Eislers teilt die Trauer, aber hat den Gestus einer Strenge, die einer Bachschen Fuge gleichkommt: in der Trauer liegt die Hoffnung. Denn jene, die Pawel erschießen, sind einfache Soldaten, also „seinesgleichen und nicht ewig unbelehrbar“.

Brecht sprach auch vom Gestus des Bühnenbildes. Es ist die Haltung, die auch ein Bühnenbild, gleich ob realistisch oder konstruktiv, dem Publikum gegenüber einnehmen kann.

Die leere Bühne der ersten Mutter-Courage-Inszenierung 1948 in Berlin, auf der nur der Planwagen der Courage, beladen oder verarmt, unaufhörlich in den Krieg rollt, war nicht die Etablierung eines sogenannten Brecht-Stils, was bis heute behauptet wird, sondern hatte einen realen Gestus: es war die Einladung an das Publikum zur Mitarbeit; alles auf der Bühne Fehlende durch eigene Erfahrungen mit dem gerade zu Ende gegangenen Krieg zu ergänzen.

Auch die Nüchternheit, das berühmte Brechtsche Grau- in-Grau, war nicht Stilmittel, sondern, wie Brecht es formulierte,eine Entziehungskur für Rauschgiftsüchtige, denen noch Prunk und Pathos der Göring-Theater im Auge und im Ohr waren. Später, in seiner Inszenierung des „Kaukasischen Kreidekreises“, entfaltete Brecht geradezu eine Pracht der Farben, wie sie bei den großen Niederländern zu finden sind. Es war der Gestus der Einladung an das Publikum, Umschau zu halten nach neuer Vitalität und neuen Helden. Brecht hasste Bühnenbilder, die den Zuschauer zum Voyeur machen, der wie durch ein Schlüsselloch Einblick in Intimitäten erhält. Aber auch solche, die von vornherein den Ausgang eines Stücks vorwegnehmen, indem sie zum Beispiel Trümmerlandschaften zeigen, bevor sie im Stück entstehen. Das sei so, als erzähle man die Pointe vor dem Witz.

Die Suche nach dem Gestus, ob beim Schauspieler, bei der Musik, beim Bühnenbild, setzt Kenntnis der Realität voraus. Gerade weil man Realitäten in ihrer äußeren Erscheinung nicht bloß kopieren will, ist ihre Beobachtung und Entdeckung unerlässlich. Brecht nennt es die Kunst der Beobachtung, für ihn – wie schon für Diderot – neben dem Talent die wichtigste Voraussetzung für Theater.

Sechster Einwand

„Der Pudding erweist sich beim Essen“, soll ein Lieblingsspruch von Brecht gewesen sein. Wo aber ist heute ein Theater mit Ansichten und Absichten, einer gestischen Spielweise, in dem das Publikum, mitbeteiligt am Spiel, Aufklärung und Genuss erfährt? Ist das nicht bei dem Durcheinander der Theaterkunst heute – manche sagen auch Pluralismus dazu – eine Utopie?

Theater wird immer auch Utopie sein. Wo die Utopie aufhört, hört Theater auf. Auch Brecht wähnte sich nicht am Ende der Weisheit. Er betrachtete seine eigene Arbeit, auch die am Berliner Ensemble, als erste Anfänge eines neuen Theaters, das als Partner die große Emanzipation der Menschen, die unerlässlich ist, will die Menschheit überleben und nicht in Barbarei versinken, begleitet, befördert, besingt. Seine Vorschläge für ein solches Theater, das Aufklärung und Genuss, Analyse und Leidenschaft, höchste Professionalität und echte Naivität, das Schauspielkunst und Zuschaukunst vereint, niedergelegt in seiner Schrift „Kleines Organon für das Theater“, sind Wissenschaft und Traum zugleich. Brechts Thesen, auch da wo sie apodiktisch klingen, bestimmen nicht die Zukunft des Theaters, sie erweitern nur seine Möglichkeiten. Denn trotz anderslautender Gerüchte setzte Brecht nicht nur auf Planung, er ließ auch die Ahnung gelten. Als ich ihn einmal fragte, woher er die Sicherheit im dialektischen Denken nehme, antwortete er zu meiner Verblüffung, für ihn sei Dialektik auch Gefühlssache.

Doch zurück zu den Fakten. Wo findet man heute Theater, das Brecht gefallen würde? Diese Frage könnte eigentlich nur Brecht beantworten. Ich kann nur von mir ausgehen, was den Vorteil hat, unvollständig zu sein, also der Ergänzung durch andere bedarf. Zumal ich mich nur in Europa ungefähr auskenne.

Das letzte Mal, dass ich den Eindruck hatte, Brecht hätte eine Theateraufführung gefallen, war vor wenigen Wochen am Staatstheater Cottbus. Es war „Mutter Courage und ihre Kinder“, inszeniert von Alejandro Quintana. Quintana, einst als chilenischer Emigrant in die DDR gekommen, absolvierte seine Lehrzeit am Berliner Ensemble und ist heute ein gefragter Regisseur in Deutschland.

Vor seiner Cottbusser Inszenierung wurde ich gewarnt, sie sei, sagte man mir, „ganz anders“. Sie war tatsächlich ganz anders, aber nach meiner Meinung deswegen umso näher bei Brecht.

Schon beim Aufgehen des Vorhangs, auf dem die Taube von Picasso zu sehen war, vermeinte man Bilder aus dem heutigen Bagdad zu sehen: Zwei Soldaten in khakifarbenen Kampfanzügen, mit stoffbezogenen Helmen, Maschinenpistolen unruhig in Händen, beschweren sich, dass die Leut hierherum so voll Bosheit seien, obwohl man doch als Befreier gekommen sei.

Das ist die erste Überraschung des Abends: Quintana hat die Inszenierung lange vor dem Irakkrieg gemacht. Seine Inszenierung wurde zur Voraussage.

Die zweite Überraschung: die heutigen Kostüme verführen den Regisseur nicht zu heutiger Flachheit. Er spielt die archetypischen Kriegssituationen mit Größe, Schärfe und Humor aus, so dass die heutigen Kostüme sie nicht – wie in vielen anderen Inszenierungen – cool machen, im Gegenteil, die Kostüme machen die archetypischen Situationen Brechts noch überraschender, also kräftiger.

Die dritte Überraschung: Quintana leugnet nicht seine Herkunft. In Beweglichkeit und Farbigkeit der Figuren, die mehr aus Chile als aus dem Deutschland des Dreißigjährigen Krieges kommen, gewinnt er für die Geschichte eine ganz neue Dimension. Diese Courage, die an die Zigeunerin des Fernando de Rojas erinnert, und ihre vor Leben quirlenden Kinder machen das Ende der Familie umso erschütternder.

Auch dass am Ende die Courage, die der Krieg um ihre Kinder und alle Habe gebracht hat, nicht weiterzieht, sondern aufschreit, als wollte sie die schlafende Welt wecken, hätte Brecht sicher akzeptiert. Es ist, als höre man den Aufschrei vieler Millionen heute gegen die Kriege jenes Imperiums, gegen das Arundhati Roy auf dem Weltsozialforum in Mumbai zum friedlichen Krieg aller Friedliebenden aufrief.

Auch bei einer andere Inszenierung, die ein wenig zurückliegt, dachte ich an Brecht. Es ist „Die Stunde Null oder Gedenktraining für Führungskräfte“, eine Inszenierung von Christoph Marthaler am Schauspielhaus Hamburg.

Brecht nannte seine Szenenfolge „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, indem er alltägliches Verhalten – eben Gestisches – zeigt, das den Faschismus letztenendes erst ermöglichte, ein Gestarium.

Ein solches „Gestarium“ scheint mir Marthalers „Gedenktrainung für Führungskräfte“ zu sein. Hier üben sich zur Stunde Null, also 1949, die künftigen Eliten des wiedererstehenden Kapitals. In unaufhörlicher Folge trainieren sie, was für Führungskräfte das Wichtigste ist: das Händeschütteln, das Winken zum Volk, das Zerschneiden der Bänder beim Einweihen von neuen Brücken, vor allem das ständige Wiederholen großer Reden, mit denen man nichts sagt.
In Sprüchen und Gesängen lernt man jenen Patriotismus, den man dann als Führungskraft von anderen verlangt.

Das „Gedenktraining“ zeigt Marthaler in unaufhörlicher Wiederholung. Eben wie „Sitten und Gebräuche ”, die auch Brecht mit seinem Theater zeigen will, die sich immerfort wiederholen und zum Stereotyp werden. Selbst wie man Tee trinkt oder zu Bett geht folgt festen Regeln, will man in die Eliten von Daimler-Benz oder der Deutschen Bank aufsteigen.

Der schonungslose Humor, der in der genauesten Beobachtung und der stereotypen Wiederholung liegt, widerlegt das „Gedenktraining für Führungskräfte“ gerade da, wo er ihm mit Inbrunst, Musik und Gesang zustimmt.

Auf der Suche nach Brecht heute kommt man an Dario Fo nicht vorbei. Die Verbindung der commedia del’arte mit der kritischen Spielweise Brechts zieht allabendlich hauptsächlich ein Arbeiterpublikum in sein Mailänder Theater, das den unverfrorenen Umgang mit italienischer Geschichte und Geschichten, die von Julius Cäsar bis Silvio Berlusconi reichen, sichtlich genießt und Darion Fos Behauptung bestätigt, dass das Lachen nicht nur den Mund öffnet, sondern auch das Gehirn.

Die Reihe kann sicher fortgesetzt werden. Brecht wird überall da anzutreffen sein, wo es um Entdeckungen geht, auch um die Wiederentdeckung von Brecht. Jede Spielweise, die dem Aufreißen von Widersprüchen dient, um mit Widersprüchen dieser Welt umzugehen und sie zu nützen, sollte willkommen sein: Tragödie oder Clownerie, Vers oder Slang, Phantasie oder Dokument Emotionen oder Kälte, Gründe oder Abgründe, Durchsichtiges oder Absurdes, Aufbauen oder Zertrümmern. Jedenfalls kann das Theater Brechts heute mehr Theatermittel freisetzen als die modistischen Richtungen, die in ihrem Bemühen, „Noch-nie-Dagewesenes“ zu machen, einander gleichen wie ein Ei dem anderen. Sie sprechen von Imagination und heraus kommt nur Image. Neue Zeichen werden unentwegt gesetzt, bei genauer Hinsehen erweisen sie sich nur als neues Design.

Jede Generation hat – dem jungen Brecht folgend – ein Recht, sich von der vorigen abzustoßen. Zertrümmern altbewährter Mittel ist legitim, auch davon machte Brecht regen Gebrauch.Allerdings unter einer Bedingung: Zertrümmerung muss Freiräume schaffen, nicht Schuttplätze.

Sicher, es gibt heute viele Arten Theater zu spielen, Brechttheater ist darunter nur eine. Aber wenn man von Brecht spricht, gleich ob in Zustimmung oder Ablehnung, sollte man ihn kennen. Und am besten gerade das, was man zu kennen glaubt, noch einmal lesen. Und gerade weil ich, um diesen Text zu schreiben, Brecht wieder gelesen habe, kann ich versichern, dass die lohnende Bereicherung, die man vom dem großen Philosophen Brecht erfährt, begleitet wird von einem nicht minder lohnenden Vergnügen. Es ist das Vergnügen an einem der großen Poeten unserer Zeit.

Ist also Brechttheater eine Antwort auf unsere Zeit? Die beste Antwort ist, es auszuprobieren. Denn: Der Pudding erweist sich beim Essen.

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